Reportagen vom Abgrund

Am 20. November 2025 jährt sich die Eröffnung der Nürnberger Prozesse zum 80. Mal. In seiner fulminanten Eröffnungsrede zum Hauptkriegsverbrecherprozess formuliert der US-Chefankläger Robert H. Jackson: „Die Untaten, die wir verurteilen und bestrafen wollen, waren so ausgeklügelt, so bösartig und verheerend, dass die zivilisierte Welt sie nicht ignorieren kann, weil sie ihre Wiederholung nicht überleben würde“. Dieser Anspruch setzte voraus, dass die zivilisierte Welt Kenntnis vom Verlauf der Prozesse nehmen konnte. So betraf der größte Umbau des Gerichtsgebäudes die Einrichtung einer Pressetribüne für rund 200 Journalistinnen und Journalisten aus aller Welt, die von den Abgründen, die sich auftun würden, berichten sollten. Doch was genau erfuhr die Welt eigentlich über die Prozesse? Wir versuchen, dieser Frage nachzuspüren. John dos Passos ist melancholisch und resigniert. Erich Kästner bricht ein Versprechen. Erika Mann blickt gnadenlos auf das „garstige, unselige Volk“, ihr Bruder Golo setzt sich für Rudolf Heß ein. William Shirer zollt General Erwin von Lahousen Respekt. Janet Flanner beklagt, dass „alle Angelegenheiten durch Bürokratie, männliche Selbstgefälligkeit, Eifersucht und Neid verkompliziert werden“. Willy Brandt unterscheidet zwischen Schuld und Verantwortung und kann seine Redaktion in Oslo nicht erreichen. Rebecca West schläft mit dem Vorsitzenden Richter. Martha Gellhorn hat Rachephantasien. Wolfgang Hildesheimer malt, um dem Grauen zu entfliehen.