Natasha Wodin, woher kommt die Kraft zum Überleben?

Ansage: KontaktAufnahme. Der Podcast des Bildungszentrums Nürnberg. #00:00:10-8#
Grazyna Wanat: Hallo, Herzlich Willkommen bei unserem Podcast. Mein Name ist Grazyna Wanat und heute bei uns zu Gast Natascha Wodin. Schriftstellerin und Übersetzerin. Die Liste ihrer Bücher ist lang. Das vermutlich bekannteste Buch, ausgezeichnet vor drei Jahren mit dem Preis der Leipziger Buchmesse heißt: "Sie kam aus Mariupol". Eine sehr beeindruckende und berührende Lektüre wie alle ihre Bücher. Guten Tag, Frau Wodin. #00:00:47-0#
Natasha Wodin: Guten Tag, Frau Wanat. #00:00:49-9#
Grazyna Wanat: Wir sitzen nicht in einem Raum, sondern sprechen über eine App. Sie sind in Mecklenburg, oder? #00:00:57-2#
Natasha Wodin: Ich bin gerade in Hamburg. Es ist ja eigentlich ganz egal, wo man ist, wenn man mit diesem Medium kommuniziert. Aber ungewohnt ist es trotzdem. #00:01:08-9#
Grazyna Wanat: Ich sitze in Nürnberg und ich möchte Sie gerne gleich am Anfang fragen: Welche Emotionen verbinden Sie mit Nürnberg? #00:01:18-0#
Natasha Wodin: Na ja, die Emotionen sind natürlich bestimmt von den Erlebnissen, die ich in Nürnberg hatte in meiner Kindheit. Und die waren... also alles andere als positiv. Wobei mir klar ist, dass natürlich das, was ich damals in Nürnberg und Franken erlebt habe, das hätte ich zu dieser Zeit überall erlebt. Das ist jetzt keine Spezialität von Franken, aber es hat sich nun mal in Franken abgespielt, und ich habe heute keine sehr lebendige Beziehung mehr zu dem Ort. Aber der Ort der Kindheit bleibt natürlich irgendwie immer der wichtigste. Und ich schreibe ja auch fast in jedem Buch noch darüber und es ist als innerer Ort immer präsent. #00:02:07-0#
Grazyna Wanat: Sie lebten aber dann später auch noch in Nürnberg. Nicht nur in Ihrer Kindheit. #00:02:12-4#
Natasha Wodin: Genau. Ich habe später noch mal nach einer Pause von.... ich bin mit Zahlen ganz schlecht und mit Jahren...Ich glaube so 15 Jahre habe ich dann nochmal zwischen den 70er und 80er Jahren ...zehn Jahre in Nürnberg gelebt. #00:02:27-5#
Grazyna Wanat: Ja, ich weiß das. Ich habe nämlich gelesen, dass sie 1984 den Kulturförderpreis der Stadt Nürnberg bekommen haben. Da standen Sie noch eigentlich am Anfang Ihrer schriftstellerischen Karriere. #00:02:44-4#
Natasha Wodin: Nach meinem ersten Buch. Ja, Ja, genau. #00:02:46-8#
Grazyna Wanat: Können Sie sich an diese Preisverleihung erinnern? #00:02:51-4#
Natasha Wodin: Ja, ich kann mich daran erinnern. Das war war nicht so besonders erbaulich für mich, weil ich damals wahnsinnig öffentlichkeitsscheu war und mich gar nicht vor ein Publikum traute. Das hat sich inzwischen sehr geändert. Durch den Erfolg von "Mariupol" war ich also sehr viel unterwegs und sehr, sehr viel mit Publikum konfrontiert. Aber damals war das alles noch ganz neu und ich habe so eine Angst gehabt. Ich habe auch nicht gelesen, habe mich ständig versteckt. Hab mich furchtbar geniert, dass ich so ängstlich bin. #00:03:29-6#
Grazyna Wanat: In dem Buch: "Sie kamen aus Mariupol" erzählen Sie die Geschichte Ihrer Mutter und in dem Buch: "Irgendwo in diesem Dunkel" die Geschichte Ihres Vaters. Aber gleichzeitig erzählen beide Bücher eigentlich Ihre eigene Geschichte. Wie es war als Kind russischer Eltern, ehemalige Zwangsarbeiter im... ich würde sagen Nazi verseuchten Deutschland direkt nach dem Krieg aufzuwachsen. #00:03:58-6#
Natasha Wodin: Ja. #00:03:59-1#
Grazyna Wanat: Sie kamen zur Welt im Dezember 1945 in Fürth. Wo hat Ihre Familie zu diesem Zeitpunkt gewohnt? #00:04:07-4#
Natasha Wodin: Also wir. Meine Familie. Meine. Meine Eltern haben in Nürnberg gewohnt und ich weiß sogar noch die Adresse Stadtgrenze 1 a. Also die Grenze zu Fürth. Wir wohnten in Nürnberg aber ich wurde geboren in einem Fürther Krankenhaus. Ich habe den Namen mal gewusst. Das ist ein ganz bekanntes Krankenhaus. Auch heute noch. Fällt mir jetzt leider nicht ein, aber da wurde ich nur geboren. Ich war dann wahrscheinlich ein paar Tage nicht länger, aber ich kenne Fürth natürlich auch. Aber in Nürnberg habe ich die ersten fünf Jahre meines Lebens verbracht. Nein, stimmt nicht. Also an der Stadtgrenze 1 a. In diesem Schuppen, die ersten fünf Jahre und dann kamen wir ins Valka-Lager in Nürnberg Langwasser, wo heute die Hochhäuser stehen. #00:04:55-2#
Grazyna Wanat: Ja, das Valka-Lager wurde errichtet für die sogenannten Displaced Persons. Also staatenlose Menschen. #00:05:02-4#
Natasha Wodin: Genau. Genau. #00:05:04-3#
Grazyna Wanat: Genau. Und trotzdem haben Sie auf diesem Fabrikgelände gewohnt. Die ersten fünf Jahre ihres Lebens. Warum nicht in dem Lager? #00:05:13-3#
Natasha Wodin: Ja, das weiß ich auch nicht so genau. Ich kann nur vermuten. Ich denke, dass meine Eltern so Lager traumatisiert waren, dass sie versucht haben, irgendwie anders durchzukommen. Und offenbar, aber das sind alles nur Vermutungen, war der der Mann dem das Territorium gehörte, auf dem dieser Schuppen stand, da war eine Eisenbahnfabrik und an die angelehnt stand dieser Schuppen und der Besitzer dieser Fabrik war offenbar ein intelligenter und und guter Deutscher sozusagen. Er hat uns da wohnen lassen. Ich erinnere mich. Ich denke, dass es so war, weil ich erinnere mich an furchtbare Ängste meiner Mutter, dass wir da rausgeschmissen werden und immer wieder auch an Gespräche mit diesem Fabrikbesitzer, die ich nicht richtig ve/rstanden habe. Aber so viel ist mir irgendwie in Erinnerung, dass er immer wieder meine Mutter beruhigte. Dass wir bleiben können. Aber irgendwann... es war ja verboten, entdeckte er uns ja. Wir mussten, also alle Displaced Persons, mussten im Lager leben, damit man sie unter Kontrolle hatte. Und er machte ja etwas Verbotenes, indem er uns deckte, und irgendwann ging das offenbar nicht mehr und dann mussten wir da raus und kamen ins Valka-Lager, so wie sich das gehörte für Displaced Persons. #00:06:36-5#
Grazyna Wanat: Und wie sind Ihre Erinnerungen an das Lager? An das Valka-Lager? #00:06:41-3#
Natasha Wodin: Ja, ich war natürlich noch klein. Also, ich war so zwischen fünf und sechs. Ich bin dort auch in die Schule gekommen. Also, ich sehe diese Baracken vor mir. Eine Hälfte war Steinbaracken, die andere Hälfte war Holzbaracken. Wir waren in den Holzbaracken gelandet und es gibt ja ziemlich viele Bilder darüber. Man kann sich die im Internet anschauen. So vergegenwärtige ich mir die selbst auch heute nochmal. Das waren so Holzbaracken mit vielleicht je zehn, zwölf, vielleicht 15 Zimmern. Für jede Familie ein Zimmer und natürlich dünne Holzwände. Also man wohnte eigentlich so in einem, in einem Bienenstock. Man hörte alles von nebenan. Und ich erinnere mich, dass meine Mutter sehr gelitten hat unter diesem Krach. Also es war Tag und Nacht war Lärm. Es war nie ruhig. Ich denke, das war schon vorher im Lager so gewesen. Im Arbeits, im Zwangsarbeiterlager. Und davon hatte sie wahrscheinlich schon ein kleines Trauma von dem Lärm. Und jetzt ging das wieder genauso. Also es wurde natürlich auch viel gestritten und die Leute waren natürlich alle traumatisiert, alle mit den Nerven fertig. Es wurde viel gestritten, geschrien, dann auch gesoffen und gelacht usw. Also es war immer was los. Man kam wirklich nie richtig zum Schlafen. Dann erinnere ich mich, dass es immer abwechselnd mal für die Steinbaracken und mal für die Holzbaracken Licht gab. Also es war immer eine Nacht mit Licht und eine Nacht ohne Licht oder bzw. mit so einer kleinen Petroleumlampe, die wir dann angemacht haben. Ich habe so eine emotionale Erinnerung daran, die ist sehr beklemmend, aber so wahnsinnig viele Einzelheiten sehe ich nicht mehr vor mir. Ich weiß nur, ich bin in die Schule gekommen und das war für mich, erstmal auch sehr schwierig, weil warum auch immer. Ich wusste nicht, mit Sicherheit wurde in dieser Schule, obwohl sie auf dem Gelände des Valka-Lagers war, Deutsch unterrichtet und die Kinder konnten eigentlich alle kein Deutsch. Also denke ich mal, also und ich natürlich auch nicht. Aber ich habe das dann irgendwie... Ich hatte so eine Gier nach dem Deutschen, weil ich wusste schon, da gibt es ein Deutschland, irgendwo, wo ich eigentlich nicht sein darf. Und ich wollte eigentlich immer schon dahin. Solange ich mich erinnern kann. Und dann habe ich glaube ich irgendwie sehr schnell und intuitiv Deutsch gelernt, obwohl ich es sicher auch schon ganz viel gehört habe und es schon irgendwie in mir hatte. #00:09:23-4#
Grazyna Wanat: Ich bin Web, vor kurzem auf einen Film Porträt des Valka-Lagers gestoßen. Gedreht von der Frankenschau des Bayerischen Rundfunks. Kennen Sie den Film? #00:09:37-3#
Natasha Wodin: Nein. #00:09:37-8#
Grazyna Wanat: Das ist so ein kurzes Porträt und entstand 2012 in Zusammenarbeit mit der Geschichtswerkstatt des Gemeinschaftshauses Langwasser. Und da kamen auch einige ehemalige Bewohnerinnen und Bewohner zusammen, die damals Kinder waren. #00:09:55-5#
Natasha Wodin: Ich glaube, ich habe es doch gesehen. Da war dieser Lette dabei oder dieser Litauer. Den Namen weiß ich jetzt nicht mehr. Na egal. #00:10:05-5#
Grazyna Wanat: Auf jeden Fall hat mich das sehr betroffen was eine dieser Damen, damals war sie ein Kind im Valka-Lager, 60 Jahre später sagt. Ich habe es mir genau aufgeschrieben was sie gesagt hat. "Diese ganze Lage, das alles hat mich geprägt. Und ich kann nicht sagen, dass ich eine Deutsche bin. Ich bin zwar hier geboren, aber vom Gefühl her. Ich fühle mich nicht wie eine Deutsche, nein," "Sondern?" fragt der Journalist. "Staatenlos. Ich bin weiterhin staatenlos." Ich fand das ziemlich erschütternd, weil es gibt ja das Wort Entwurzelung. Aber um entwurzelt zu werden, muss man erst irgendwo Wurzeln schlagen. Und wie würden Sie diese Frage nach der Identität beantworten? #00:10:54-6#
Natasha Wodin: Also ich könnte nicht sagen, dass es das Valka-Lager ist, das mich geprägt hat. Das natürlich auch, aber mich haben natürlich auch diese ersten fünf Jahre in dem Lagerschuppen geprägt. Mich haben die ganzen Jahre danach .... Eigentlich empfinde ich das als meine stärkste Prägung, weil ich dann älter wurde und immer mehr verstand. Nachher, als wir in Forchheim gelebt haben, in dieser Siedlung für ehemalige Displaced Persons, die dann heimatlose Ausländer hießen. Aber es waren alles ehemalige Zwangsarbeiter. Und da waren wir so hinter der Stadt in so Steinblocks angesiedelt. Menschen aus allen osteuropäischen Ländern eigentlich und darüber hinaus aus Aserbaidschan und Armenien und Kasachstan usw. Also es war immer dieses "Außerhalb", ob im Valka-Lager oder woanders. Und das hat mich natürlich immens geprägt. Ich kann auch nicht so hundertprozentig sagen, ich fühle mich als Deutsche. Ich war auch lange staatenlos, bin dann durch Heirat Deutsche geworden. Aber es ist immer so ein Rest geblieben von einer Erfahrung, die ich mit Deutschen in der Regel nicht teilen kann. Die kann ich nur mit Menschen teilen, die das eben auch erlebt haben. Und Heimat, glaube ich, ist schon sehr davon abhängig, dass man irgendwie verstanden wird , dass man mit seinen Erfahrungen eingebettet ist in sein Umfeld. Und das bin ich nicht immer. #00:12:32-0#
Grazyna Wanat: Und haben Sie je in Erwägung gezogen, in Russland zu leben oder in der Ukraine? #00:12:39-2#
Natasha Wodin: Ja, ja, ich habe das sogar sehr in Erwägung gezogen. Sie fragten mich vorhin nach der gläsernen Stadt. Da habe ich diese dieses Abenteuer beschrieben, also nach meinem ersten Buch. Ich war schon in Russland und ich wollte heiraten. Ich hatte dort einen Mann gefunden und habe mich tatsächlich entschlossen... das war 1979... Nein, 1980. Ich habe mich tatsächlich entschlossen, aus Deutschland in eine Diktatur zu gehen, was reichlich verrückt war und dann letztlich auch gescheitert ist, weil... Ja, weil dieser Mann eine Woche vor der Hochzeit einfach gestorben ist. Und dann habe ich schon überlegt, ob ich da bleiben soll. Also ich war dann schon sehr eng verbunden mit vielen Menschen und habe mich dort eigentlich auch ganz glücklich gefühlt. Aber das habe ich mich dann letztlich doch nicht getraut. Ich wollte dann doch wieder in ja soll ich sagen in die Freiheit? Also das ist ja ein schwieriger Begriff, das ist Freiheit. Aber dort ist man schon mehr gefangen. War man jedenfalls, weil man keine Bewegungsfreiheit hatte und durfte nicht ohne Weiteres rein und raus. Und das war irgendwie entscheidend, dass ich dann eben doch zurückgekommen bin. #00:14:05-1#
Grazyna Wanat: Wenn wir in der Geschichte nochmal wieder zurückspringen zur Forchheim, da wohnten sie in den sogenannten "Häusern". Was waren diese "Häuser"? #00:14:21-2#
Natasha Wodin: Na ja, wie ich eben schon sagte, das waren so Steinblocks. Vier Stück, die im Quadrat da standen, an der Regnitz, in der meine Mutter sich dann nach einigen Jahren ertränkt hat . Ja, das waren vier zweistöckige Blocks, so langgezogene. Wenn ich die heute auf dem Foto sehe, da schaudert es mich, weil es so unheimlich öde ist. Steht in einer öden Landschaft außerhalb der Stadt. Und es sind eben diese viereckigen Fenster mit den damaligen Fensterkreuzen und ansonsten wirklich Wildnis. Und da lebten nun diese ganzen verschiedenen Nationen zusammen, genauso wie im Valka-Lager. Im Grunde genommen war das auch ein Valka-Lager. Wir hatten keinen Stacheldrahtzaun herum. Das Valka-Lager war glaube ich, zum Teil mit einer Mauer umgeben, aber das weiß ich nicht mehr genau. Ich weiß nur, dass es da eine Kontrolle gab. Wenn ich in die Schule ging. Raus. Kontrolle. Und zurück, gab es immer Kontrolle. Und die gab es dann in Forchheim nicht mehr, aber ich glaube im Grunde... es waren nauch dieselben Leute. Wahrscheinlich kamen die auch alle aus dem Valka-Lager. Und ein paar Jahre später war es dieselbe Atmosphäre. Alles. Die meisten Leute waren noch arbeitslos, aber dann kam ja das Wirtschaftswunder, dann kriegten viele Arbeit und dann beruhigte sich, glaube ich, auch die Situation ein bisschen. Aber ich war ja dann auch gar nicht so lange dort. Weil dann meine Mutter starb. Und dann kam ich nach Bamberg, in ein Kinderheim. #00:16:01-3#
Grazyna Wanat: Als ich Ihr Buch jetzt zum zweiten Mal gelesen habe und als ich über diese "Häuser" gelesen habe, da passierte in Deutschland etwas, was ich in meinem Kopf sehr verbunden habe mit dieser Geschichte, nämlich dieser Corona Ausbruch in einem großen Wohnblock in Göttingen. Da gab es sofort eine Schlagzeile: Ansteckung beim Zuckerfest, Familienfeier, mehrere Großfamilien. Also sofort eine Stigmatisierung. Sofort gab es Schuldige. #00:16:41-3#
Natasha Wodin: Das Fremde ist ja immer das Gefährliche. Da projiziert man immer so alles Mögliche drauf. Und so war es sicher auch mit Corona. #00:16:54-5#
Grazyna Wanat: Ja, das ist wahr. Genau. Und die Zeit brachte dazu eine Reportage unter dem Titel: "18 Stockwerke Stigma" und man hat diese Situation analysiert und auch teilweise die Schuldzuschreibungen widerlegt, aber auch einige Phänomene sichtbar gemacht. Zum Beispiel sagt eine der dort wohnenden Roma, weil da wohnen tatsächlich 600 Menschen, alle mit Migrationshintergrund, in diesem riesengroßen Wohnblock. Und eine von den dort wohnenden Roma sagte, dass er jetzt Angst um seine Kinder habe, weil sie schon in der Schule gemobbt werden. Und was soll das jetzt werden, wenn sie aus der Quarantäne zurückkommen. #00:17:41-2#
Natasha Wodin: Ja, Ja. #00:17:42-3#
Grazyna Wanat: Und schlimmer noch, als die Behörden mitteilten, dass sich unter den Kontaktpersonen ersten Grades der Infizierten 57 Kinder und Jugendliche befinden. Und öffentlich wurden deren Schulen aufgezählt. Da befand sich darunter kein einziges Gymnasium. Und das ist erstaunlich, oder? Also 57 Kinder in einem Haus, aber dort keine Kinder die aufs Gymnasium gehen. Und ein Gymnasium in der Stadt hat sofort auf die Webseite groß gepostet: Bei uns kein Corona! Wir sind nicht betroffen. Also da habe ich mir gedacht...wie gesagt, das habe ich parallel zu Ihrem Buch gelesen, die Häuser, die gibt es nach wie vor. #00:18:36-0#
Natasha Wodin: Ja, ich glaube bestimmt. Vielleicht gibt es heute noch schlimmere Häuser. Also die Flüchtlingslager zumindest sind bestimmt noch um einiges schlimmer. Wir hatten ja wenigstens ein Dach überm Kopf. Wir wohnten nicht im Zelt und wir mussten nicht irgendwie in der Landschaft aufs Klo gehen. Das ist für mich alles unfassbar, was sich da abspielt. Aber das ist, finde ich, sehr typisch...was Sie eben gesagt haben. Diese Gefahr, die immer vom Fremden ausgeht und auf die immer alle möglichen Gefahren projiziert werden, das kenne ich sehr gut von früher. Wenn irgendwas in der Schule war, das war immer ich. Ich war immer Schuld. Wenn ein Radiergummi geklaut wurde, dann wurde ich schon rot, weil ich wusste, man wird jetzt wieder mich beschuldigen. Und weil ich rot wurde, war das ja dann auch irgendwie der Beweis dafür, dass ich es war. #00:19:31-1#
Grazyna Wanat: Ganz schrecklich. #00:19:34-9#
Natasha Wodin: Und das ist ein großes Problem. Sicherlich nicht nur von Deutschen. Ich glaube, die Menschen auf der ganzen Welt haben Angst irgendwie vor dem Fremden. #00:19:45-3#
Grazyna Wanat: Aber wenn man sich überlegt, wie viele solcher Nataschas in allen diesen Lagern und in diesen Häusern stecken und verzweifelt auf irgendwelche Unterstützung hoffen. Ich glaube an Ihrer Geschichte hat mich auch am meisten berührt, dass es da eben kaum Hoffnung gegeben hat und kaum Unterstützung von keiner Seite. In der Schule wurden sie auch gemobbt und verfolgt und gejagt. Eine Hilfe von Lehrern konnten sie auch nicht erwarten. #00:20:18-8#
Natasha Wodin: Weiß Gott nicht. Im Gegenteil. Die Lehrer haben das Feuer geschürt, indem sie schreckliche Geschichten über Russen erzählt haben. Aber ich glaube, es ist trotzdem ein Unterschied, da. Ich habe meine Kraft zum Weitermachen, zum Überleben sozusagen, daraus bezogen, dass ich doch in Deutschland, eine Bleibe hatte. Ich wusste, dass ich da bleiben kann. Die Flüchtlinge, die müssen ja die meisten oder sehr viele müssen ja darum bangen, dass sie wieder weggeschickt werden. Ich denke, das ist eine noch sehr viel schärfere Situation, die Menschen zutiefst verunsichert. Wenn sie damit rechnen, dass sie wieder an den Ort müssen, von dem sie geflüchtet sind, weil es ihnen dort sehr schlecht ging. Also schwer vorstellbar für mich. Ich wusste, ich kann in Deutschland bleiben. Und irgendwann, da war ich mir sicher, werde ich mich da raus arbeiten und dann wird für mich schon alles gut werden. Und so ist es ja irgendwie auch gekommen. #00:21:23-9#
Grazyna Wanat: Und so ist es gekommen. Aber als Kind konnten Sie bestimmt noch nicht in diesen Kategorien denken, wenn Sie keine Unterstützung in der Schule, keine Unterstützung von Lehrer hatten und Zuhause war auch alles andere als harmonisch. #00:21:38-2#
Natasha Wodin: Ja, trotzdem auch als Kind.... Ich habe das sicherlich nicht so bewusst gedacht, aber ich sah immer ein Ziel vor Augen. Ich will nach Deutschland und da werde ich auch hinkommen! Also ich war ja nicht in Deutschland, da wir immer außerhalb gewohnt haben. Im Kloster war ich auch nicht in der Welt, weil wir da eingeschlossen waren. Und da war dann mein Stigma nicht, dass ich russisch bin. Da war mein Stigma, dass ich nicht katholisch bin. Das war nämlich ein Kloster. Und wer nicht katholisch war, na ja, der war des Teufels. Der kam nicht in den Himmel usw.. Also da hatte ich ein neues Stigma weg. Aber ich wusste, ich komme da wieder raus und ich bin dann ja auch in Forchheim. Und bin dann später auch abgehauen, einfach aus den Häusern und bin auf die Suche nach meinem Leben gegangen, sozusagen. #00:22:30-9#
Grazyna Wanat: Das war später. Sie haben schon gesagt, Ihre Mutter hat sich ertränkt, als Sie zehn Jahre alt waren. Das sind auch sehr einprägende Bilder. Wenn Sie zehn jähriges Mädchen wissen, dass ihre Mutter das Zuhause verlassen hat, nicht mehr zurückgekommen ist. Und Sie wussten schon, man soll sie im Fluss suchen. #00:22:55-6#
Natasha Wodin: Ja, also das war auch nicht schwer, das zu wissen. Weil sie seit ich sie kannte, das eigentlich fast jeden Tag angekündigt hat, dass sie ins Wasser geht. Also ja, das war so... #00:23:08-5#
Grazyna Wanat: Unvorstellbar. Als ich mich auf dieses Gespräch vorbereitet habe, habe ich mir ein paar Begriffe notiert und unter anderem das Wort: Schweigen. Ich glaube... #00:23:23-1#
Natasha Wodin: Das Kernwort. #00:23:27-7#
Grazyna Wanat: Das Kernwort. Jawoll! Ich habe mir sogar einen Satz notiert: "Meine Eltern schwiegen über etwas anderes als die Deutschen. Es gab zwei Wahrheiten, von denen ich nicht wusste. Ich spürte noch immer und überall das Ungesagte und gab ihnen dieses große Schweigen, den Antrieb, alles zu sagen." In Ihren Büchern gibt es wahnsinnig viele Tabubrüche. Also als ob Sie sich gesagt haben: Okay, jetzt sage ich alles. #00:24:01-7#
Natasha Wodin: Ich habe ein Schweigetrauma, glaube ich. In der Tat. Dieses Schweigen, war eigentlich mein größter Feind, weil man sich dagegen irgendwie nicht wehren kann. Man weiß ja nicht, was verschwiegen wird. Man weiß nur, es wird verschwiegen. Aber ich weiß nicht, was verschwiegen wird. Und ich wollte das eigentlich unbedingt immer wissen. Und das Schweigen, das lastete immer so auf mir. Das ganze Unheil lag in dem Schweigen. Das habe ich gespürt. Ich habe ja nichts gewusst. Na ja, dass es einen Krieg gegeben hat, das habe ich irgendwie schon gewusst. Aber was das war und wer meine Eltern waren, das habe ich ja sowieso erst sehr viel später erfahren. Dass sie Zwangsarbeiter waren. Ich hatte keinen Zugang zu den Tatsachen und und das hat mich am stärksten gelähmt. Und es kann schon sein, dass ich heute alles sage. Na ja...alles sage ich auch nicht, aber sehr vieles. Und dass das noch damit zusammenhängt. Also ich reagiere immer noch betroffen auf Schweigen und allergisch auf Schweigen. Wenn ein Mensch mir mit seinem mit seinem Verhalten signalisiert irgendwas und es nicht ausspricht, dann kommt bei mir sofort Verunsicherung. Ich muss dann fragen: Was ist los? #00:25:24-3#
Grazyna Wanat: Sie haben es schon erwähnt Ihre Eltern kamen als Zwangsarbeiter nach Deutschland und darüber haben sie geschrieben. Und auch dafür wurde ihr Buch so gefeiert. Denn das Thema Zwangsarbeit kommt in der deutschen Literatur kaum vor. Ich verstehe nicht, warum. #00:25:43-7#
Natasha Wodin: Ich auch nicht. Ich auch nicht. Ein bisschen verstehe ich es. Wissen Sie, die Zwangsarbeiter...wer sollte von den Zwangsarbeitern schreiben? Also der größte Teil also von den Sowjetbürgern jedenfalls, und das waren ja die allermeisten, die wurden repatriiert. Die hatten von dort aus keine Möglichkeit, irgendwas zu schreiben. Die waren sowieso ganz furchtbaren Repressalien ausgesetzt. Die mussten froh sein, wenn man sie überhaupt am Leben ließ. Und diejenigen, die in Deutschland geblieben sind, die waren in einer höchst schwachen Position. Die waren alle in diesen Lagern, die noch lange Zeit bestanden haben. Die meisten haben ihr Leben in diesen Lagern beendet. Die sind da nie rausgekommen und es waren sprachlose Menschen. Und sie konnten auch alle kein Deutsch. Sie lernten es nicht. Sie fühlten sich immer als Außenseiter und fanden auch keinen Zugang zur Sprache. Also das ist eine eine Erklärung dafür, warum es keine Literatur gibt. Es gibt Erfahrungsberichte. Das gibt es schon. Einige. Also literarisch ist mir nur ein einziges Buch bekannt, das aber in Deutschland auch nicht bekannt geworden ist. Es hat ein Russe geschrieben und ich habe jetzt den Titel sogar vergessen. #00:27:01-9#
Grazyna Wanat: Auf jeden Fall waren es allein in Nürnberg zwischen 1939 und 1945 ungefähr 100.000 Zwangsarbeiter und aus mehr als 40 Ländern. #00:27:17-6#
Natasha Wodin: Ja, ja, das waren ja Millionen insgesamt. #00:27:21-7#
Grazyna Wanat: Insgesamt waren es tatsächlich zwischen sieben und elf Millionen. Man weiß es nicht so ganz genau. #00:27:27-8#
Natasha Wodin: Ja, ich habe auch schon im Internet, das kann aber sehr spekulativ sein.... Im Internet ist ja alles.... da habe ich auch schon von 36 Millionen gelesen. Es kommt auch immer auf die Zählweise an, glaube ich. #00:27:41-5#
Grazyna Wanat: In Nürnberg haben Sie hauptsächlich in der Rüstungsindustrie gearbeitet, aber auch im Einzelhandel und in der Stadtverwaltung. Sie haben beispielsweise bei der Trümmerbeseitigung nach Bombenangriffen gearbeitet. #00:27:53-9#
Natasha Wodin: Ja, das weiß ich. Das ist keine leichte Arbeit. Aber sie haben in den Trümmern manchmal Lebensmittel gefunden. Das war dann das Gute an der Trümmerbeseitigung. Dass man was zu Essen finden konnte, wenn man Glück hatte. #00:28:09-2#
Grazyna Wanat: Nürnberg schreibt sich die Erinnerungskultur auf die Fahnen. Zu Recht. Und es wird hier auch viel zu diesem Thema gemacht. Ich kann hier nur diese wirklich hervorragende Arbeit des Dokuzentrums erwähnen oder auch das Memorium Nürnberger Prozesse. Aber tatsächlich gibt es auch in Nürnberg ein Zwangsarbeitermahnmal:Transit. Wissen Sie das? #00:28:33-9#
Natasha Wodin: Nein. Wann wurde das aufgestellt? #00:28:37-7#
Grazyna Wanat: Die Geschichte spricht für sich. Und ich vermute, dass auch nicht viele Nürnberger davon wissen und das Mahnmal kennen. Das steht direkt am Plärrer. #00:28:50-1#
Natasha Wodin: Das haben Sie mir geschrieben, glaube ich. Ja. #00:28:53-7#
Grazyna Wanat: Und die Realisierung des Mahnmals benötigte von der Beschlussfassung bis zur Einweihung 20 Jahre. 1987 fasste der Nürnberger Stadtrat den Beschluss, ein Mahnmal für Nürnberger Zwangsarbeiter zu errichten. Und die Einweihungsfeier war am 15. Oktober 2007. Ich wollte Sie schon fragen, ob Sie dabei waren, aber anscheinend nicht. #00:29:26-7#
Natasha Wodin: Ich habe davon nichts gewusst. Nein. 2007 war ich längst in Berlin. Und ich habe schon gesagt wenig Beziehungen eigentlich zu Franken. Es hat mich keiner informiert und ich habe es auch nicht mitgekriegt. #00:29:38-7#
Grazyna Wanat: Also, ich war bei der Einweihung. #00:29:44-8#
Natasha Wodin: Sie waren bei der Einweihung! #00:29:45-5#
Grazyna Wanat: Władysław Bartoszewski, der polnische ehemalige Außenminister hat bei der Einweihung gesprochen, und es war eine ganz schöne Feier. Allerdings steht dieses Mahnmal jetzt wieder ein bisschen vernachlässigt und vergessen. Und wie gesagt, kaum jemanden nimmt es wahr. #00:30:05-1#
Natasha Wodin: Ja, ja. Also, diese Zwangsarbeitergeschichte ist irgendwie...Wissen Sie, ich denke, die Deutschen hatten schon so viel zu tun mit dem Holocaust nach dem Krieg. Da war kein Platz mehr für weitere Gräuel. Das passte einfach nicht mehr in die Köpfe. So ein bisschen, glaube ich, spielte das auf jeden Fall eine Rolle, dass das Thema so vernachlässigt wird. Obwohl ich auf der anderen Seite auch immer wieder merke, dass, wenn ich zu Lesungen eingeladen bin, dass es viele kleine regionale Initiativen gibt, dass viele Menschen sich durchaus damit befassen. Ich vermisse es nur auf Regierungsebene oder oder sagen wir mal in den in den großen Zeitungen. Und da kommt es eigentlich so gut wie gar nicht vor. Aber so kleine regionale Initiativen gibt es des Öfteren und das sind wirklich sehr tolle Menschen, die sich damit befassen und da oft irgendwas auf eigene Kosten machen und so, also das gibt es alles. Aber insgesamt spielt das Thema, auf höherer Ebene jedenfalls, kaum eine Rolle. Meines Wissens. #00:31:18-4#
Grazyna Wanat: Unter meinen Stichworten findet sich auch großgeschrieben ein anderes Wort: Einsamkeit. Ihre Bücher durchdringt eine bedrückende, traurige, unüberwindbare Einsamkeit, und alle Figuren in ihren Büchern sind schrecklich einsam. Empfinde ich zumindest. Auch ganz am Anfang. Ihre Mutter. Auch Ihr Vater. Sie natürlich, aber auch die Menschen um sie herum. Auch Sie in den anderen Büchern, in denen sie in Beziehungen sind... #00:31:55-3#
Natasha Wodin: ...mit den Einsamen. Die Einsamen suchen die Einsamen. #00:32:00-3#
Grazyna Wanat: Richtig. #00:32:01-2#
Natasha Wodin: Ich bin ja jetzt nicht mehr jung. Ganz und gar nicht. 74 Jahre. Und inzwischen wandelt sich das. Ich habe also wirklich mein Leben lang unter der Einsamkeit gelitten und immer so meine Mitmenschen gesucht. Und das hat sich, das hat sich sehr gewandelt inzwischen. Ich glaube, man muss seinen Mitmenschen eigentlich doch vor allen Dingen bei sich selbst suchen. Inzwischen bin ich eigentlich gerne einsam. Ich liebe die Einsamkeit immer mehr. Die gibt mir Konzentration. Die stellt keine Anforderungen an mich. Die Einsamkeit. Ich bin für mich und ich kann arbeiten. Das ist eigentlich das Wichtigste für mich. Es wird immer mehr die Arbeit. Ich habe früher gar nicht gerne geschrieben, ich habe aus Not geschrieben. Ich musste schreiben, weil ich so furchtbar einsam war und weil ich so viel Angst hatte und auch furchtbar gebeutelt war vom Leben überhaupt. Das Schreiben war immer so mein einziger Halt. Das kann ich heute nicht mehr so sagen. Also heute ist es für mich einfach ein Hochgenuss. Eine Form für den Inhalt zu finden. Und dazu muss man allein sein oder einsam. Eigentlich muss man einsam sein, sonst kann man diese Arbeit nicht machen. Also ich bin ausgesöhnt mit meiner Einsamkeit. #00:33:45-7#
Grazyna Wanat: Ausgesöhnt...das klingt gut. In Ihren Büchern gibt es da nicht so viele Lichtblicke. Ich glaube, zu den absolut erheiternden gehören diese Momente, in denen es unerwartet Empathie Zeichen von Seitens anderer Menschen gibt, wie zum Beispiel: Als sie als Obdachlose, der man ihr Status sofort ansehen konnte, ihre erste Stelle bekommen haben. Welche Bedeutung für das ganze Leben hatten eben diese Momente, wo man tatsächlich Menschen getroffen hat, die in einem einen Menschen gesehen haben. #00:34:30-6#
Natasha Wodin: Ja, das ist damals nicht oft passiert. Inzwischen ist es natürlich ganz anders. Aber damals ist das nicht oft passiert und ich habe das damals eigentlich nicht verstanden. Es war zu selten. Ich habe dann immer gedacht: Da steckt irgendwas dahinter. Ich war ja ein Kind, aber ich habe dem Braten nicht getraut. Zum Beispiel hat mal ein ein Mann nachts in den Häusern draußen im Hof, wo ich auch gewesen bin, weil ich nicht mehr zu meinem Vater gegangen bin, der wusste dass ich eine Streunerin bin, zu mir gesagt... Das war ein Aserbaidschaner...Er hat zu mir gesagt: Komm, komm, wohn bei uns. Und ich denke, das hat er auch ernst gemeint. Aber ich habe gedacht: Der hat sich mit meinem Vater verabredet und die wollen mich jetzt in die Falle locken. Und dann gab es noch so zwei, drei solche Fälle, wo ich das immer missgedeutet habe oder dem einfach nicht geglaubt habe. Und dieser Mann, der mich damals eingestellt hat. Dann war ich eingestellt. Das musste ich nun glauben und das war sicherlich. Der hat mir vielleicht das Leben gerettet. Ich weiß nicht, wie es mit mir weitergegangen wäre, aber ich war schon sehr hungrig. Also der nächste Winter....ob ich nochmal da durchgekommen wäre? Da bin ich mir nicht sicher. Also es gab dann immer wieder Menschen, die wie Sie schon sagten, auch in mir einen Menschen gesehen haben. #00:36:14-2#
Grazyna Wanat: Als ich mit Ihnen dieses Gespräch vereinbart habe, da habe ich Ihnen so grob gesagt, worüber ich mit Ihnen sprechen will. Daraufhin haben Sie etwas milder, glaube ich, gesagt:"Ja, ja, da sind ja die Themen, über die man mit mir spricht." #00:36:32-3#
Natasha Wodin: Das habe ich nicht so gemeint. Ich Ich spreche hier ganz gern darüber. #00:36:38-2#
Grazyna Wanat: Aber ich kann das auch verstehen. Das machen Büchern mit ihren Autoren oder Autorinnen, dass man auf ein Thema dann reduziert wird. #00:36:49-6#
Natasha Wodin: Ich habe das ja nun geschrieben. Und da dieses Thema Zwangsarbeit ja nach wie vor vernachlässigt ist, spreche ich immer wieder gern darüber und freue mich über das Interesse der Menschen. Also ich wollte nur sagen, das ist für mich jetzt gar keine Last, mit Ihnen zu sprechen. Ganz im Gegenteil. #00:37:11-4#
Grazyna Wanat: Ja, so habe ich das nicht natürlich nicht gemeint, sondern ich wollte Sie fragen: Worüber würden Sie denn gerne sprechen, wenn Sie auf einmal ein anderes Thema eröffnen könnten? #00:37:22-9#
Natasha Wodin: Ich glaube, ich würde über gar nichts sprechen. Also mein zentrales Thema ist jetzt eigentlich das Altern. Der bevorstehende Tod. Aber sprechen würde ich darüber nicht so gern. Lieber schreiben. #00:37:43-6#
Grazyna Wanat: Und Sie schreiben auch schon darüber. Also Sie haben zumindest ein Buch darüber schon geschrieben. #00:37:50-6#
Natasha Wodin: Ja, das habe ich, aber da war ich noch jung und hat eine große Klappe. Ein bisschen alt gespielt. #00:38:00-2#
Grazyna Wanat: Das heißt, ich kann jetzt diese langweiligste alle Fragen stellen: Was schreiben Sie jetzt? #00:38:06-3#
Natasha Wodin: Im Moment schreibe ich gar nicht über das Alter. Also das ist ein Projekt, das immer da ist, und ich schreibe auch immer was dazu, aber das ist nicht das, woran ich jetzt sitze. Ich arbeite jetzt an einem Erzählungsband, der auch wieder über einsame Menschen, Außenseiter geht. Das sind Geschichten über solche Menschen, die ich in meinem Leben getroffen habe und ich sehr schade finde, dass die für immer aus der Welt verschwinden, ohne dass je über sie gesprochen wurde. Dass jemand von diesen Schicksalen erfahren hat. Und das versuche ich jetzt aufzuschreiben. #00:38:44-6#
Grazyna Wanat: Wann können wir mit diesem Buch rechnen? #00:38:47-1#
Natasha Wodin: Das weiß ich nicht. Also noch gar nicht. Nein, die Verlage sind ja jetzt auch alle im Stillstand wegen Ich habe keine Ahnung. #00:38:56-2#
Grazyna Wanat: Und wie hat Corona ihr Leben beeinflusst? Hat sich was für Sie deutlich verändert? #00:39:04-5#
Natasha Wodin: Ja. Wunderbar hat das mein Leben beeinflusst. Ich war mit meinem Freund in Mecklenburg, wo ich gar nicht sein durfte. Aber ich war da und wir waren da praktisch dann eingesperrt. Und in dem Haus, in dem ich eine Wohnung habe oder wir eine Wohnung haben...Das sind alles Zweitwohnungen von Menschen, die woanders leben, in Berlin oder in Hamburg und die sind alle nicht gekommen. Durften nicht mehr kommen. Aber wir waren schon da, bevor die Maßnahmen gegriffen haben, und waren dann drei Monate wie im Paradies ganz allein. Ansteckungsgefahr bestand für uns nicht. Ich weiß, dass man sofort als Ketzer. tituliert wird, wenn man das sagt, aber ich habe die Bedrohung auch nicht als sehr schlimm empfunden. #00:39:57-9#
Grazyna Wanat: In diesem Podcast haben wir eine Rubrik, in der wir unsere Gäste danach fragen: Was würden Sie gerne lernen, wenn Sie noch dazu kämen oder Zeit hätten? #00:40:12-5#
Ansage: Gerne lernen. #00:40:13-8#
Natasha Wodin: Ich glaube, es gibt drei Berufe, die ich noch gern hätte. Also mein absoluter Lieblingsberuf, das würde ich der Schriftstellerin noch vorziehen, wäre Opernsängerin. #00:40:26-1#
Grazyna Wanat: Ja, Ihr Vater war ja ein Sänger. #00:40:30-2#
Natasha Wodin: Ja, ja, ja. Und auch meine Schwester war Sängerin und Opernsängerin. Also die Oper ist schon für mich, also die Musik überhaupt und speziell die Oper, die menschliche Stimme als Instrument, ist für mich ein ganz großes Glück. Und ich höre sehr viel Musik und vor allen Dingen eben Stimmen. Und ich würde wahnsinnig gern so singen können wie die Opernsänger. Das wäre mein Traumberuf sozusagen. Und der zweite Beruf wäre Köchin. Ich würde sehr gern sehr gut kochen können. Also richtig gut, meine ich. Also mir alles Mögliche ausdenkendenken und probieren, wie verschiedene Dinge zusammen schmecken und viel experimentieren. Also das finde ich auch sehr interessant. Ich würde auch sehr gerne fotografieren. Das Arbeiten mit dem Licht finde ich auch sehr interessant und außerdem Floristin. Auch gerne Floristin. #00:41:31-2#
Grazyna Wanat: Floristin? #00:41:31-2#
Natasha Wodin: Ja, Floristin. Blumen, Blumengebinde machen. Das finde ich auch so... diese japanische Floristen Kunst. #00:41:39-8#
Grazyna Wanat: Die Welt um uns herum in der Stadt hat sich jetzt ziemlich verändert, glaube ich. Also die Rasen werden jetzt nicht mehr so gemäht und es gibt wahnsinnig viele Blumen, die es nicht gegeben hat. #00:41:50-2#
Natasha Wodin: Ja, also die Natur der Natur mehr Raum geben. #00:41:53-2#
Grazyna Wanat: Haben Sie das nicht nicht gemerkt? Also, in Nürnberg ist es sichtbar. Auf jeden Fall. #00:42:00-0#
Natasha Wodin: Also ich bin ja meistens jetzt schon seit Jahren. Seit März oder seit Februar bin ich fast schon die ganze Zeit in Mecklenburg. Und ich weiß nicht, ob sich hier in Berlin. ..Ich war nur mal zwischendurch ein paar Tage da. Ich weiß gar nicht, was sich da verändert. Und ich bin sonst natürlich auch nirgends hingekommen. Man durfte ja nirgends hin. Also ich kenne nur die Natur in Mecklenburg, die hat sich meines Wissens nicht verändert. Aber ich finde ich wunderbar, wenn der Natur mehr Raum gegeben wird. Für mich ist es sowieso immer wieder eine irrsinnige Vorstellung , dass Leute, die Gräser überall rauszupfen, mit der Nagelschere beschneiden, anstatt dass man das wachsen lässt. Die Häuser sollten alle in einer Wildnis stehen, das würde ich so schön finden, das wäre ein so wunderbarer Kontrast und wäre natürlich auch für die Umwelt ein großer Nutzen. Ja, mit viel Bäumen und Büschen und Blumen und Tieren. So sollte es sein. #00:42:59-7#
Grazyna Wanat: Und wenn Sie etwas nennen sollen, was Ihnen zurzeit am meisten Spaß macht, Was wäre das? #00:43:09-1#
Natasha Wodin: Musik hören und schreiben. Das ist eigentlich immer dasselbe. #00:43:14-4#
Grazyna Wanat: Und umgekehrt. Was ärgert Sie zurzeit? #00:43:21-0#
Ansage: Mecker Ecke. #00:43:23-8#
Natasha Wodin: Was ärgert mich zurzeit,? Dass ich bald sterben muss. #00:43:29-1#
Grazyna Wanat: Das Thema beschäftigt Sie unglaublich. Das merke ich schon sehr. #00:43:35-3#
Natasha Wodin: Beschäftigt mich sehr. Was ist das? Der Tod? Und was ist das Leben? Ich frage mich oft: Wie wird die Erde sagen wir, einen ganz kurzen Zeitraum in 10000 Jahren aussehen? Das ist ja aus der Perspektive der Ewigkeit gar nichts. Ganz, ganz kurze Zeit. Und wir werden wir dann gewesen sein, Sie und ich. Also man wird von uns nichts wissen, nehme ich an, und was werden wir sein? Das sind so Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Ich denke auch an die Menschen, die schon über die Erde gewandert sind, in den Tausenden und Abertausenden von Jahren, und von denen wir nichts wissen. Aus ihnen besteht eigentlich die Erdoberfläche, denke ich. Aus ihren toten Körpern. Aus ihrer Erde, aus ihrer Asche. Und ich würde so gerne irgendwie dran glauben, dass es weitergeht. Aber ich finde es schwierig, daran zu glauben. Menschen, die daran glauben, dass sie weiterleben werden, auf irgendeine andere Art nach dem Tod, haben es da leichter. Ich beneide diese Menschen. Ich kann auch nicht sagen, ich glaube gar nichts. Also irgendwas ist da schon, aber ich habe keinen richtigen Zugang dazu. Aber es beschäftigt mich sehr stark. Und nicht nur das, sondern mich beschäftigt auch der Weg zum Tod. Also das ist, glaube ich, viele Menschen, jüngere Menschen, mich selbst eingeschlossen, machen sich keine Vorstellung, was für eine Zumutung das ist. Also dabei zu sein, wie der Körper abbaut, wie er verfällt. Und das täglich zu erleben und zu wissen, dass es mit dem Tod enden wird, Also davor gibt es ja kein Entrinnen. Das ist das Einzige, wovor es wirklich kein Entrinnen gibt. Als Mädchen wusste ich, ich komme da raus aus aus der Hölle, in der ich bin. Aus dem jetzigen Zustand. Da komme ich nicht mehr raus. Im Gegenteil, der wird sich verstärken. Das thematisiere ich jetzt auch beim Schreiben. Mich hat der Tod eigentlich immer schon beschäftigt. Ich denke, durch den Tod meiner Mutter. Durch den frühen Tod. Und sie hat auch immer vom Tod gesprochen. Ich bin einmal zum Friedhof gegangen, habe mir die Leichen angeschaut. Also es war immer ein Thema in meinem Leben, der Tod. Aber sich das wirklich sinnlich vorzustellen und seinen dem zu Ende gehenden Körper sich vorzustellen... Ich glaube, wir sind so eingerichtet, dass wir das gar nicht können. Sonst könnte man nicht nicht mehr gut leben. Und ich höre auch alte Menschen, die sagen es ist schön, alt zu sein. Also man hat mehr Ruhe, man hat mehr Einverständnis mit sich selbst und den Anderen und der Welt. Das kenne ich auch ein bisschen. Ich finde, man kann ja ruhig über den über den Tod sprechen und über das Altwerden muss ja auch gesprochen werden. Also es soll auch nicht mit Schweigen bedeckt sein, finde ich. Also ich würde sehr gerne mehr darüber hören von Menschen, die es erlebt haben. Es schreiben ja nicht sehr viele über das Alter. Leider. Auch das ist für die Zwangsarbeiter ein Tabuthema. #00:47:08-3#
Grazyna Wanat: Das ist definitiv ein Tabuthema. Ich glaube, Menschen wollen nicht darüber schreiben, aber vielleicht auch nicht lesen. Ich bin mir nicht sicher. Also manchen macht das zu viel Angst. #00:47:19-7#
Natasha Wodin: Mein Buch: "Alter, fremdes Land" obwohl das da ja noch sehr optimistisch ist, das wurde fast gar nicht gelesen. Es ist das ist wirklich ein Flop gewesen, dieses Buch. #00:47:31-0#
Grazyna Wanat: Das kann ich mir vorstellen, das es doch einfach Ängste gibt sich mit diesem Thema zu befassen. Denn das Sterben und der Tod wird eigentlich aus unserem Leben komplett vertrieben. #00:47:43-5#
Natasha Wodin: Ja, ja, der Tod ist auch so unsichtbar geworden. Ja, man macht ja auch die Särge heute zu. Früher waren die Särge offen. Man sieht ja heute keine Toten mehr, Höchstens im Fernsehen. Aber leibhaftig sind die Toten ja eigentlich aus der Welt verbannt. #00:47:58-2#
Grazyna Wanat: Und da auch mehrere Generationen nicht unter einem Dach leben, sieht man eigentlich auch nicht, wie die Menschen wirklich ganz alt werden. #00:48:07-6#
Natasha Wodin: Und viele werden ja heute sehr alt. Ja, man sieht nicht, wie sie alt werden. In der Tat. Sie sind allein. Sie leben allein. Oder Sie leben im Altenheim. Man sieht es nicht. Mein Vater war auch im Altenheim. Also, ich habe das schon ein bisschen gesehen. Und auch die vielen anderen. Das ist schon sehr hart. #00:48:30-6#
Grazyna Wanat: Als ich das gelesen habe, wie Sie sich um Ihren Vater gekümmert haben, da konnte ich auch nicht wirklich ganz nachvollziehen, woher bei Ihnen dieses Verantwortungsbewusstsein gekommen ist. Für den Menschen, den Sie eigentlich gehasst haben und vor dem Sie nur Angst gehabt haben. #00:48:54-0#
Natasha Wodin: Ja, das hat, glaube ich, wieder mit der Einsamkeit zu tun. Ich glaube nicht, dass das Verantwortungsgefühl war. Das war, glaube ich...wirklich....komischerweise...ich wundere mich selbst, aber es ist so ...Mitleid. Mit der Einsamkeit, die ich ja nun so gut kannte und ich war ja auf einem ganz anderen Weg. Ich war auf dem Weg in die Welt und in die Gesellschaft und in die Gemeinschaft, in Beziehungen. Und mein Vater baute immer mehr ab und er konnte nach wie vor kein Deutsch. Er hatte keine Beziehungen. Er war wirklich ein völlig vereinsamter Mensch. Und dazu in diesem Altenheim, in dem wir alle natürlich nur Deutsch sprachen. Er konnte nicht mal sagen, dass ihm was wehtut und dass er Hilfe braucht. Es war ja auch nicht immer eindeutig, immer nur Mitleid. Es war eine Mischung. Es ist eine schwierige Mischung. Hass und Mitleid. Der Hass ist auch immer geblieben und ist auch jetzt noch da. Vielleicht ist das noch ein Rest an Aufgabe, den ich zu bewältigen habe. Diese Vergebung, die ja letztlich glaube ich schon einen wirklich befreit. Denn wenn man hasst, dann bleibt man ja gebunden. Also das wäre mir ein Wunsch, dass ich diese Vergebung noch lernen könnte und dann wirklich frei wäre von meinem Vater. Vielleicht brauche ich dafür noch den Rest meines Lebens. #00:50:27-5#
Grazyna Wanat: Es ist eine unglaubliche Lebensgeschichte, die Sie da beschreiben in all diesen Büchern. Manchmal habe ich mich auch gefragt: Es ist alles sehr autobiografisch und doch sind das Romane. Und Sie werden in diesen Interviews auch in dem Gespräch mit mir immer so angesprochen: Und dann waren Sie mit Ihrem Mann, und dann waren Sie mit Ihrer Mutter... Aber das ist doch eigentlich eine literarische Figur. #00:50:54-1#
Natasha Wodin: Ja, das sind schon Mischungen aus Dichtung und Wahrheit, das muss ich sagen. Also ich weiß nicht, warum das bei mir immer so eins zu eins genommen wird, aber es spricht nichts dagegen. Also das kann man ruhig machen. Es ist aber tatsächlich nicht so, dass alles eins zu eins genommen werden kann. Die Figuren, die Geschichten, die kriegen auch beim Schreiben eine eigene Dynamik. Und ich habe nicht dagegen angekämpft. Also wenn da etwas sich selbst erfunden hat. Ich habe mich nie hingesetzt und was erfunden, aber wenn es ganz von selbst dann irgendwie in eine bestimmte Richtung ging, dann habe ich dem auch nachgegeben. Also man darf mir auch nicht alles glauben. #00:51:42-4#
Grazyna Wanat: Das ist mir klar. Ich fand zum Beispiel diese Figur in dem Roman: "Die Ehe" auch super spannend. #00:51:51-4#
Natasha Wodin: Den Mann die oder die Frau oder...? #00:51:55-7#
Grazyna Wanat: Die Frau, die Ich-Erzählerin, die dann um jeden Preis eigentlich einen deutschen Mann finden möchte und von Anfang an in dieser Beziehung überhaupt keinen Wert auf Liebe legt und auf eine Verbindung mit diesem Menschen. #00:52:18-4#
Natasha Wodin: Nein, nicht mit diesem Ja, das ist, glaube ich etwas, was auch heute leider noch sehr oft passiert. Das war auch meine Lage. Ich schreibe gerade über eine Frau, über eine Ukrainerin, die einen Deutschen geheiratet hat, um in Deutschland bleiben zu können. Sie wurde ausgewiesen und dann hat sie nach diesem Strohhalm gegriffen und hat diesen Mann geheiratet, nur um bleiben zu können. Das gibt es ja ganz vielfach auch heute noch. Und ich war in derselben Situation. Ich wollte nicht bleiben, ich musste weg und ich wusste nicht, wie ich das alleine machen sollte. Ich wollte zwar mal nach Berlin gehen, diese schöne Geschichte habe ich tatsächlich noch nie geschrieben, die erzähle ich Ihnen jetzt ganz kurz. Ich wollte, Als ich 17, 18 Jahre war, wollte ich nach Berlin gehen. Und ich war sehr naiv und total unwissend. Und dann habe ich in der Fabrik, in der ich Telefonistin war, in der mich dieser Personalchef eingestellt hat, von der Straße weg und war der Telefonistin und habe das auch furchtbar gerne gemacht. Aber ich dachte: Na, so ewig will ich hier auch nicht sitzen. Und ich will weg aus diesem Forchheim. Ich will irgendwo hin, wo mich niemand kennt. Und ich habe schon gehört von Berlin, also das ist DIE deutsche Stadt und ich gehe jetzt nach Berlin. Ich habe tatsächlich gekündigt. Ich habe mich dafür bereit gemacht. Ich hätte einfach ein kleines Köfferchen gepackt und wäre losgefahren. Dann hätte man schon gesehen, was wird. Und dann hat mich aber dieser, Herr Dr. Böhme hieß er, hat mich zu sich gerufen und sagte: "Ich habe gehört, dass Sie uns verlassen wollen. Darf ich denn fragen, warum?" Dann habe ich gesagt: "Ich gehe nach Berlin." Dann sagte er: Ah, nach Berlin. Na ja, das ist ja eine geschlossene Stadt, Das ist ja nicht so einfach." Ich dachte: Geschlossene Stadt? Wie bitte? Was? "Wieso" sagte ich. "Wieso? Geschlossene Stadt?" "Berlin hat ja eine Mauer. Berlin ist ja eingemauert. Westberlin."Also, davon hatte ich noch nie was gehört. Ich habe wirklich nicht in der Welt gelebt damals. Ich hatte keinen Kontakt zur Welt. Ich war irgendwie vollkommen unbedarft. Jedenfalls hat er mir dann so ein bisschen über Berlin erzählt. Und dann habe ich gedacht: Nein, um Gottes Willen! Also wieder eingesperrt? Nein. Das war mein eigener Versuch, der gescheitert ist. Und dann war in meinem Kopf nur noch eine Möglichkeit: Ich muss einen deutschen Mann heiraten. Und dann gab es einen, der mich heiraten wollte. Naja, und dann habe ich ihn geheiratet. Das war dann tatsächlich mein Sprungbrett. Man muss sich auch offenbar etwas unlauterer Methoden bedienen, wenn man in so einer Lage ist, in der man nicht viele Chancen hat. Da muss man nehmen, was man kriegt. So und so habe ich geheiratet. Davon will ich allen Frauen heute...ich kenne so einige, vor allen Dingen aus den osteuropäischen Ländern, die so etwas machen, davon abraten. Ich weiß, dass das eigentlich nie gut geht. Es gibt natürlich auch Liebesheiraten. Auf jeden Fall. Aber ich meine solche, die heiraten, um hier zu bleiben. Die Ehe geht jedenfalls in der Regel nicht gut. #00:56:04-1#
Grazyna Wanat: Frau Wodin, Ich könnte mit Ihnen noch die ganze Nacht sprechen. Es ist spät geworden. Ich möchte mich ganz, ganz herzlich bedanken. #00:56:15-7#
Natasha Wodin: Ich mich bei Ihnen auch. Ich habe mich gefreut, Sie kennenzulernen. #00:56:20-5#
Grazyna Wanat: Danke sehr. Tschüss. #00:56:23-4#
Natasha Wodin: Tschüss. #00:56:23-7#
Grazyna Wanat: Weitere Infos zu dieser und anderen Folgen unseres Podcasts finden Sie, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, auf unserer Webseite: www.bz.nuernberg.de/podcast. #00:56:53-3#
Dieses Projekt/Diese Maßnahme/Initiative leistet einen wichtigen Beitrag, Nürnberg schrittweise inklusiver zu gestalten. Es/Sie ist Teil des Nürnberger Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Den Ersten Aktionsplan hat der Nürnberger Stadtrat im Dezember 2021 einstimmig beschlossen. Um die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit und ohne Behinderung in Nürnberg zu verwirklichen, wurden und werden umfangreiche Maßnahmen entwickelt und umgesetzt. Weitere Informationen finden Sie unter www.inklusion.nuernberg.de.

Natascha Wodin, aufgewachsen als Kind russischer Zwangsarbeiter in Nürnberg, über Stigmatisierung, Ausgrenzung und menschliche Gesten, die lebensrettend sein können. Außerdem über Schweigen und Tabuthemen.
Als Natascha Wodin im Jahr 1984 den Kultur-Förderpreis der Stadt Nürnberg erhielt, stand sie noch ganz am Anfang ihrer schriftstellerischen Karriere. Sie hat gerade ihren ersten Roman „Die gläserne Stadt“ veröffentlicht, der – wie alle ihre später folgenden Bücher – starke autobiografische Züge trägt. Ihre traumatische Kindheit und Jugend in Nürnberg und in Franken porträtierte sie viel später in ihrem bekanntesten, mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten Buch „Sie kam aus Mariupol“. Als Siebzigjährige macht sich Natascha Wodin auf die Suche nach Informationen über Ihre Eltern und erfährt einiges, was ihr bisher unbekannt war. Denn ihre Kindheit war vom großen Schweigen umgeben. „Sie kam aus Mariupol“ erzählt die Geschichte ihrer Mutter, das folgende Buch „Irgendwo in diesem Dunkel“ – die des Vaters. Beide jedoch erzählen auf diesem Hintergrund vor allem ihre eigene Geschichte.
Im Dezember 1945 als Kind russischer Zwangsarbeiter geboren, erlebte Natascha Wodin eine Kindheit, die von Ausgrenzung, Einsamkeit und Gewalt geprägt war. Im Gespräch erzählt sie über das Leben in einem Schuppen auf einem Fabrikgelände in der Fürther Straße in Nürnberg und später in dem Valka-Lager in Langwasser. Sie spricht darüber, woher sie die Kraft zum Überleben nahm und darüber, was das „Jetzt“ mit dem „Damals“ zu tun hat. Sie erzählt, welche destruktive Kraft das Schweigen haben kann und wie wichtig Erinnerungskultur ist.
Bücher (auch Hörbücher!) von Natascha Wodin in der Stadtbibliothek Nürnberg
Mehr zum Valka-Lager:
Spiegel-Dossier
BR-Doku, entstanden in Zusammenarbeit mit dem Gemeinschaftshaus Langwasser im Rahmen der Geschichtswerkstatt Langwasser. Es war ein Teil des Projekts "Langwasser! Begegnungen, Gespräche, Expeditionen" (2007-2010).
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Aufgenommen am: Sonntag, 21. Juni 2020
Veröffentlicht am: Donnerstag, 9. Juli 2020
Moderation: Grazyna Wanat
Im Gespräch: Natascha Wodin
Alle weiteren Folgen von KontaktAufnahme – der Podcast des Bildungszentrums Nürnberg finden Sie hier. Jede Woche, immer donnerstags, veröffentlichen wir ein neues Gespräch.
Wen sollen wir noch befragen - haben Sie Ideen und Anregungen? Oder möchten Sie Ihre eigenen „Glücksmomente“ (manchmal am Ende des Interviews zu hören) an uns schicken? Schreiben Sie uns an!