Bernd Deininger, haben alle Psychoanalytiker einen an der Waffel?
Prof. Dr. Bernd Deininger: KontaktAufnahme. Der Podcast des Bildungszentrums Nürnberg. #00:00:10-9#
Dr. Anne Wasmuth: Herzlich willkommen zu einer neuen KontaktAufnahme heute mit und bei Professor Dr. Bernd Deininger. Mein Name ist Anne Wasmuth und nach vielen Online KontaktAufnahmen darf ich heute im Krankenhaus Martha-Maria Nürnberg Gott sei Dank nur zu Gast sein, selbst zu Besuch sein. Das klingt jetzt fast etwas verwegen, wenn ich sage, herzlich willkommen im BZ-Podcast, Professor Deininger. #00:00:48-3#
Prof. Dr. Bernd Deininger: Ja, vielen Dank, dass Sie an mich gedacht haben. Ich freue mich sehr, dass ich da auch einen Beitrag dazu liefern kann. #00:00:56-9#
Dr. Anne Wasmuth: Eine kurze Vorstellung Sie sind Chefarzt in diesem Krankenhaus, Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychosomatische Medizin. Als wenn das nicht schon für drei Leben reichen würde, Sie sind auch noch evangelischer Theologe. Menschen, die Pfarrerin sind oder Pfarrer, die würden sagen, das reicht für sieben Leben, mindestens. Ihnen reicht es immer noch nicht. Sie sind ebenfalls Autor zahlreicher Artikel und Bücher. Darunter ist nicht nur Fachliteratur, sondern auch Texte und Bücher, die sich mit den kleinen und vor allem den großen Fragen, Konflikten und Themen des Lebens auseinandersetzen. Da geht es um Schuld und Sühne, Heil und Heilung, innere Heimat, Kirche und Macht, Dialogfähigkeit, negative Gefühle, verstehen statt verurteilen und vieles mehr. Viel Fragestoff für mich, Professor Deininger, danke, dass ich bei Ihnen zu Gast sein darf und Sie unser Gast in dieser KontaktAufnahme sind. #00:01:53-2#
Prof. Dr. Bernd Deininger: Ich freue mich sehr. #00:01:54-3#
Dr. Anne Wasmuth: Sie müssen mich jetzt erst einmal terminologisch aufklären. Psychologe, Psychiater, Psychoanalytiker, Psychotherapeut. Was ist was? Was sind sie? #00:02:07-3#
Prof. Dr. Bernd Deininger: Zuallererst, das ist ganz schön, dass Sie das auch fragen, weil wir da oft die Fachdisziplinen miteinander verwechselt werden. Ich bin kein Psychologe, sondern ich bin Mediziner. Da legen die Ärzte auch großen Wert drauf. Darum heißt es ja auch dann in den Ausbildungsgängen, dass wir Fachärzte für Psychiatrie und Fachärzte für Psychosomatische Medizin sind. Und die Psychologen haben einen völlig anderen Studiengang. Die beschäftigen sich erst einmal in der Psychologie mit dem gesunden Menschen. Und da gibt es dann psychologische Wirtschaftspsychologen und Rechtspsychologen und alles mögliche. Wohingegen die Mediziner sich natürlich erst mal mit Krankheiten beschäftigen. Und so ist es natürlich auch, was das Fachgebiet der Psychiatrie anlangt und die psychosomatische Medizin, da der geht es eben um kranke Menschen, die eben Störungen in ihrem psychischen Erleben haben. Und wenn ein Psychologe nach seinem Abschluss, Masterabschluss, dann in die klinische Psychologie hineingeht, dann muss er da noch einmal eine große Zusatzausbildung machen, weil das eigentlich im Studium im Unterschied zur Medizin gar nicht so hauptsächlich behandelt wird. Die, das kann ich vielleicht noch dazu ergänzen, die Psychiatrie und die psychosomatische Medizin überschneiden sich in manchen Bereichen. Die Trennungen sind in der Gestalt, dass die Psychiatrie sich mit Psychosen beschäftigt, Schizophrenien, bipolaren Störungen, Demenzen, Suchterkrankungen, die jetzt psychosomatische Medizin nicht so im Blickfeld hat, im Bereich der Depressionen, der Angstzustände, der Zwänge, da überschneiden sich die beiden Fächer, sonst ist die psychosomatische Medizin, wie der Name sagt, Psychosomatik, die beschäftigt sich sehr stark mit Erkrankungen, die organische Erkrankungen eigentlich sind. Ich nehme mal das Beispiel der Darmerkrankungen. Oder ich nehme das Beispiel des Asthmas, rheumatische Erkrankungen, Bluthochdruck, koronare Herzkrankheit. Da gibt es also verschiedene organisch festgestellte Erkrankungen, die aber eine psychische Ursache meist haben. Die Stressfaktoren spielen eine große Rolle. Beziehungsprobleme spielen eine große Rolle und natürlich dann auch die gesamte Entwicklungsgeschichte, wo sich grundsätzlich dann psychische Krankheiten manifestieren, in den ersten Lebensjahren der psychischen Entwicklung. Vielleicht auch da noch ganz kurz, weil Sie vorhin diese Menge an Fachärzten genannt haben. Ich selber bin eigentlich Psychiater, Neurologe das war, zu meiner Zeit gab es das nicht anders. Also wie ich meine mein Studium und meine Ausbildung gemacht hat, gab es nur diesen diese Möglichkeit, Psychiater oder Neurologe oder beides zu machen. Die psychosomatische Medizin ist dann erst sehr viel später dazugekommen. Den Facharzt gibt es erst seit 1992 in Deutschland. Ich selber bin auch Gründungsmitglied der Fachgesellschaft. Wir hatten uns damals in einem Münchner Hotel zusammengefunden und den Landesverband für Psychosomatische Medizin gegründet und dann sind die ersten Facharztprüfungen erst so um das Jahr 2000 gewesen, insofern ist es eigentlich das jüngste Fach innerhalb des Fächerkanons der Facharztausbildungen in der Medizin. #00:05:38-5#
Dr. Anne Wasmuth: Spannend. Das denkt man gar nicht. Ich gehe mal gleich in die Vollen und beginne mit einem Vorurteil. Psychiater? Die haben ja selbst einen an der Waffel. Stimmt das? Haben Sie mindestens ein Kindheitstrauma oder Neurose, sie zum Studium gebracht? #00:05:55-3#
Prof. Dr. Bernd Deininger: Ja, gut. Ich habe eine, ich bin Nachkriegskind, bin unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Welt gekommen und ich habe mich dann schon immer gefragt, war denn das unbedingt der Wunsch meiner Eltern, unmittelbar nach dem Krieg, Deutschland lag in Trümmern, die KZs wurden gerade geöffnet. Hat man sich den da in dieser Notzeit um ein Kind gerissen? Das wird wohl eine offene Frage bleiben. Meine Eltern haben da nie drüber gesprochen, ob ich jetzt nun erwünscht oder nicht erwünscht war. Aufgrund meines Geburtsdatums, würde ich mal sagen, ist mein Vater im Mai 1945 aus dem Krieg zurückgekehrt und ich bin dann wohl Ende Mai, Anfang Juni gezeugt worden, insofern kann es auch die Wiedersehensfreude meiner Eltern gewesen sein, das ist ein Punkt. Der andere, den Sie aber ansprechen, spielt sicherlich auch eine Rolle. Ich hatte eine Schwester, die 1944 geboren ist und die dann aber nach einem Jahr ungefähr verstorben ist, an einer Lungenentzündung, wie es immer hieß. Und ich kann mich noch gut als Kind erinnern, wie wir das Grab meiner Schwester besucht haben in Erlangen, am Zentralfriedhof spielte sich das ab und möglicherweise, wie das dann später mir schon im Rahmen meiner Ausbildung auch immer bewusster wurde, hat meine Mutter die Trauer über dieses verlorene Kind, es gab dann damals wohl keine Antibiotika und deshalb starb es, möglicherweise bin ich auch auf die Welt gekommen, um sozusagen diesen Tod dieser Schwester zu kompensieren, als Art Ersatz, wenn Sie so wollen. Die andere Frage, die Sie noch gestellt haben, haben die Menschen, die sich mit Psychiatrie, Psychosomatik, mit all diesen Dingen beschäftigen, selber Probleme? Ich würde mal sagen, in der früheren Ausbildung zum Psychiater zumindest nur unbewusst in der analytischen Ausbildung spielt es tatsächlich eine große Rolle. Ich bin ja selber seit langen Jahren Lehranalytiker und habe über 25 Jahre ein Institut in München mit geleitet, als ärztlicher Leiter dort und hatte da natürlich auch viele Ausbildungskandidaten in Erstinterviews, ob die für die Ausbildung geeignet sind und wenn dann jemand zu mir kam und sagte, ja, ich will Psychoanalytiker werden, weil mich das Fach so interessiert und ich hatte ja eine ganz tolle Kindheit und mit den Eltern war es wirklich wunderbar, dann habe ich den meistens wieder nach Hause geschickt und habe gesagt, ich glaube nicht, dass Sie für den Beruf geeignet sind. Was ich damit sagen möchte, Menschen, die diesen Beruf ergreifen, sollten zumindest so ein hohes Reflexionsvermögen schon am Anfang haben, dass sie auch über ihre eigene Lebensgeschichte nachdenken können und wenn man dies tut, dann wird man es sicherlich, ob das jetzt nun eine Geschwisterrivalität ist, ob es der vielleicht kriegstraumatisierte Vater ist wie bei mir, der emotional große Schwierigkeiten hatte, mit seinen Kindern umzugehen, ob es irgendwelche Benachteiligungen sind, die man dann vielleicht in der Grundschule erlebt hat, weil man sich ausgeschlossen gefühlt hat und solche Sachen, die jeder Mensch in irgendeiner Weise erlebt, wenn man dazu keine, keine Beziehung findet, hat es keinen Sinn, sich mit psychischen Prozessen zu beschäftigen, sondern ich denke, dass Menschen selber ein Stück Leiderfahrungen machen müssen und machen mussten, einmal um sich selber zu entwickeln, da gehören Frustrationen, Enttäuschungen, Leiderfahrungen dazu, aber auch um sich in die psychischen Prozesse der Patienten dann später einzufühlen, ist es schon wichtig, auch zu wissen, wie fühlt sich das an, wenn man verlassen wird? Wie fühlt sich das an, wenn man zum Außenseiter wird? Wie fühlt sich das an, wenn man der ausgeschlossene Dritte ist? All diese Dinge, die kann man sich, denke ich, nur dann auch ein Stück besser einfühlen, wenn man auch solche Erfahrungen selber gemacht hat. #00:10:31-3#
Dr. Anne Wasmuth: Sie beantworten eine Frage, die ich später stellen wollte. Aber dann stelle ich sie jetzt. Wie ist das im Studium? Wird einem dann so eine gewisse professionelle Empathie beigebracht oder muss man die im Prinzip, so wie Sie sagen, eigentlich schon mitbringen? #00:10:44-9#
Prof. Dr. Bernd Deininger: Also ich kann es jetzt ja nur vom Medizinstudium sagen ,dürfte aber in der Psychologie ähnlich sein. Im Medizinstudium lernt man sowas leider nicht, sondern da wird auch kein großer Wert darauf gelegt, wie nun die Persönlichkeit des Medizinstudenten oder späteren Arztes ist, was ich sehr bedauere. Ich fände es in vielen, vielen Bereichen wichtiger, als die Abiturnote zu schauen, was haben die Menschen für einen Umgang mit den anderen? Wie ist die soziale Kompetenz? Wie ist denn das Menschenbild, was die in sich tragen? Das halte ich für bedeutend wichtiger im Studium. In der Medizin geht es nur um äußere Fakten, e s geht um naturwissenschaftliche Erkenntnisse, es geht darum, möglichst viele Sachen auswendig zu lernen. Wie man dann später als Hausarzt, beispielsweise in irgendeinem Dorf mit den Menschen umgeht, wie man dann später als Chirurg, wenn man Chefarzt ist, durch die Krankenzimmer geht, wie das dann ist, wenn man mit krebskranken Menschen reden muss, die Angst vor dem Tod haben, das lernt man im Studium überhaupt nicht. Und später dann in den Facharztausbildung spielt das aus meiner Sicht auch nur eine geringe Rolle. Und aus dem Grund begrüße ich das immer sehr, wenn gerade in der Oraganmedizin Kollegen dann sagen, sie möchten sich in der Psychosomatik weiterbilden. Es gibt da einen Grundkurs, so nennt sich die auch, psychosomatische Grundversorgung, den ich jetzt hier für Nordbayern leite auch und der immer ausgebucht ist. Zweimal im Jahr machen wir das, wo Organmediziner sich eine psychosomatische Kompetenz erwerben können. Und das sind dann aber schon auch innerhalb ihrer Fächer, Hautärzte, Internisten, Gynäkologen, HNO-Ärzte, Orthopäden, immer die paar, die dann halt wirklich auch über sich nachdenken, über ihr Tun nachdenken und auch sehen, naja, alleine die medizinische Behandlung jetzt mit, was weiß ich, Antiphlogistika bei Kreuzschmerzen, das ist es jetzt doch nicht, weil wenn ich jetzt mit jemanden länger in Kontakt bin und die Frau immer wieder kommt, dass ihr Rücken so weh tut und es hilft nichts, dann ist es schon mal sinnvoll zu fragen, was hat die denn für Belastungen zu Hause? Alleinerziehend, Kinder im Homeschooling, Partnerschaften zerbrochen, sonst was. Und dann dämmert es auch manchmal dem Allgemeinmediziner, dass die Schmerzen nicht nur sozusagen mit Medikamenten zu behandeln sind, sondern dass man da auch noch was anderes machen müsste. #00:13:35-4#
Dr. Anne Wasmuth: Im Prinzip spricht sich da für mich schon aus, dass sie alles andere als ein eindimensionaler Mensch sind und sie haben ja nicht nur Psychologie, sondern auch Theologie studiert. Konnten Sie sich nicht entscheiden? Oder sind diese beiden Disziplinen für Sie einfach, genau aus diesem Grund, den Sie auch beschrieben haben, nicht zu trennen? #00:13:54-9#
Prof. Dr. Bernd Deininger: Ich stamme an sich aus einem Elternhaus, was sehr kirchenfern ist. Meine Mutter war so ein Sonntagschrist, wie man es so schön nennt, die ging halt Ostern und Weihnachten in die Kirche. Aber dass ich jetzt nun kirchlich sozialisiert gewesen wäre, das war nicht der Fall. Mein Vater hat, solange ich mich zurückerinnern kann, eigentlich bis zu seinem Tod nie eine Kirche betreten, selbst bei meiner Hochzeit ist er außen stehen geblieben. Er hatte wohl große Ressentiments, im Einzelnen hat er da auch nie größer drüber gesprochen. Ich weiß nur, dass die Groß-, seine Eltern, also meine Großeltern väterlicherseits, große Schwierigkeiten hatten, weil die beiden Familien sich wegen dieser Hochzeit, die Oma war katholisch, der Großvater evangelisch, wohl so zerstritten hatten, dass das für meinen Vater damals wohl als Kind ganz schwierig war. Dass ich diese beiden Familien seiner Eltern wegen dieser konfessionellen Geschichte so zerstritten hatten. Also ich bin nicht, um das zusammenzufassen, kirchlich sozialisiert, habe aber schon als Kind, kann mich da noch gut erinnern, auch in meiner analytischen Ausbildung ist mir das noch mal sehr stark ins Bewusstsein gerückt, da war ich vielleicht so 5, 6, eine enge Beziehung dann zu dieser Jesus Gestalt entwickelt. Meine Mutter hat mich dann öfters, hat dann immer erzählt dann, als ich schon längst erwachsen war, wenn sie von mir als Kind berichtet hat, ja, der Band hat immer gesagt, Jesus ist ein Freund. Also da kann ich mich noch gut daran erinnern. Ich bin dann selber, vielleicht so ab meinem zehnten Lebensjahr, in die evangelische Jugend gegangen, habe dann auch in Erlangen Basketball beim CVJM Erlangen gespielt, eine Zeit. War da gut sozialisiert und dann in der Oberstufe vom Gymnasium bin ich da eher wieder etwas abgerückt und habe mich eigentlich zwischen der Medizin, die ich dann schon, sagen wir mal ab der elften, zwölften Klasse machen wollte, wo ich dann wusste, da gab es, schon zu meiner Zeit ist der Numerus clausus gerade eingeführt worden, du musst dich jetzt da noch ein wenig hinsetzen, damit die Noten passen. Ich konnte mich eigentlich zwischen der Mathematik und der Medizin nicht entscheiden und habe dann auch in den ersten Semestern Medizin und Mathematik parallel studiert und erst nach meinem Physikum, damals war das im fünften Semester, habe ich dann die Mathematik sein lassen und da irgendwie, ich kann es Ihnen gar nicht so genau sagen ist dann mein, nach dieser Physikumsprüfung, jedenfalls in den Ferien, die ich dann hatte, habe ich dann das Gefühl gehabt, mit der Mathematik das, da kommst du nicht weiter. Das erklärt eine Grundfragen nicht, jetzt machst du die Theologie. Und dann habe ich mich an der theologischen Fakultät im sechsten Semester, waar es dann Medizin eingeschrieben und habe das dann fünf Semester parallel gemacht, bis zu meinem Staatsexamen eben. Habe dann Griechisch und Hebräisch noch gelernt, weil ich in der Schule nur Latein hatte. Und da ist eigentlich dieses Grundinteresse, biblische Texte noch einmal wissenschaftlicher zu verstehen, wo sind die Quellen, wo kommt es her? Welche Mythologien stecken dahinter? Das hat mich tatsächlich dann ganz, ganz stark interessiert. Und dann ursprünglich wollte ich das halt nur so parallel machen, aus Interesse und als ich dann mein Staatsexamen hatte und promoviert war, habe ich dann doch mich entschlossen, die Theologie noch weiter zu machen, um da einen Abschluss dann zu erwerben und habe dann in München meinen theologischen Abschluss gemacht und dann noch, allerdings ohne Abschluss dann, Philosophie an der Jesuitenhochschule studiert, weil mich das dann wirklich fasziniert hat. Diese Grundfragen, warum etwas ist und viel mehr nichts ist, ist so eine berühmte Frage, die Platon da stellt. Wie entsteht Leben? Was hat es mit dem Bewusstsein auf sich? Wie hat sich, wie haben sich gesellschaftliche Entwicklungen dargestellt? Warum hat sich so etwas wie Religion überhaupt im menschlichen Leben gehalten? Warum braucht man einen Gottesgedanken? Also all solche Dinge, das waren eigentlich Fragen, die mich schon, sagen wir mal dann spätestens nach meinem Abitur, immer sehr interessiert haben. Und je mehr ich dann mich mit der Medizin beschäftigt habe und je mehr ich dann auch mit Krankheit, Leid, Enttäuschungen konfrontiert war, mit Ängsten vor dem Tod konfrontiert war, mit Fragen, die viele Menschen ja dann haben, warum passiert gerade mir das? Ich war in meiner Ausbildung, meine Ausbildung habe ich in München gemacht, im Klinikum Großhadern zum Beispiel, da hatten wir sehr viele Verkehrsunfälle. Ich war erst auf der Neurochirurgie, wo dann Eltern vor mir standen, wo dann vielleicht ein Motorradunfall war oder ein Kind vom Fahrrad gefallen ist mit einer Hirnblutung und dies dann starb. Also wie ich mit diesen Dingen immer mehr dann befasst war, ist mein Interesse an der Geisteswissenschaft immer stärker geworden. #00:19:56-1#
Dr. Anne Wasmuth: Jetzt müssen wir noch gerade eine biographische Lücke schließen. Sie haben von München gesprochen. Wie sind Sie dann nach Nürnberg gekommen? Also ich weiß, Sie haben selber auch eine Praxis gehabt. Und wie sind Sie dann zu Martha-Maria gekommen? #00:20:11-1#
Prof. Dr. Bernd Deininger: Ja, also ich bin in Erlangen geboren, bis zu meinem zehnten Lebensjahr dort gewesen. Dann ist mein Vater, der damals nach dem Krieg erst bei der Bayerischen Staatsbank war, erst war er bei der Feuerwehr, bei der amerikanischen, weil er sich im Krieg, dann in den letzten Kriegsjahren gegen das NS-Regime gestellt hat und hatte dann auch Partisanen, die er hätte erschießen sollen, hatte sich geweigert, also er war dann eher auf Widerstandsseite und ist dann schon, nachdem er im Mai 1945 aus dem Krieg zurückkam, am 01.09.1945 von den Amerikanern, ich glaube, im Rückblick als Dank, dass er sich so verhalten hat, war er dann in Erlangen an der damaligen amerikanischen Kaserne Feuerwehrhauptmann und war da glaube ich, sieben Jahre und ist dann über die Bayerische Staatsbank in die Verwaltung gegangen. Wir sind dann umgezogen in die Nähe von Roth, auf so ein kleines Dorf und dann ist mein Vater gewechselt, dann wiederum zu einer Prüfstelle für, also Bundesrechnungshof, bayerischen Rechnungshof und ist dann eben, hat seinen Dienstsitz dann in München gehabt, so dass meine Eltern dann in München gelebt haben. Und das war dann, nachdem ich in Erlangen mein Medizinstudium begonnen hatte, weil ich da einen Studienplatz kriegte und mein Theologiestudium begonnen habe, bin ich dann, nachdem ich in den Semesterferien und oft bei meinen Eltern in München war, dann halt nach München gegangen. Dann hatte ich auch einen sehr, sehr guten Freund, der in der Parallelklasse in meinem Gymnasium war, mit dem ich mich dann sehr stark angefreundet hatte, der auch, der dann Theologe geworden ist, mit dem ich, das ist eigentlich mein ältester Freund, mit dem ich immer noch ganz, ganz eng verbunden bin. Der war dann eben auch in München und wir haben uns vorher schon im Studentenwohnheim wiedergetroffen und der hat mir dann auch bei meinem Griechisch geholfen. Und ja, es hat sich dann halt so ergeben. Und dann habe ich in München halt meine Facharztausbildung gemacht die ganzen Jahre, bin dann Oberarzt geworden, bin dann zwei Jahre in Württemberg noch gewesen, in Tübingen und dann bin ich wieder nach Franken zurückgekehrt, weil ich da eine Stelle als stellvertretender Direktor eines Bezirkskrankenhauses hatte. Da hat es dann große Probleme gegeben. Ich war damals schon, ein sehr, sagen wir mal jemand, der halt sehr stark sich für die Psychotherapie auch in der Psychiatrie eingesetzt hat. Die Psychosomatik, sagte ich ja vorhin schon, gab es da noch nicht. Das spielte sich so 1984, 83/84 ab und ich konnte meine Ideen in dem, in der Psychiatrie weniger mit Medikamenten zu arbeiten, stärker die Lebensgeschichten, auch von Schizophrenen in den Blick zu nehmen, stärker auch die Familien im Blick zu nehmen, konnte ich mich da ganz schlecht behaupten, grad hier dann auch in Mittelfranken nicht. Die waren da aus meiner Sicht noch sehr viel mehr konservativ zurückgeblieben, als das in anderen Bundesländern war. Ich war ja auch ein 68er Student und hatte dann diese ganzen Bewegungen, auch der Antipsychiatrie dann mitgemacht während meiner Facharztausbildung. Dann gab's dann die Entwicklung der systemischen Therapien. Man hat sehr viel mehr darauf geschaut, was denn in Familiensystemen sich alles entwickeln kann an Erkrankungen. Das hat aber bei uns hier, gerade in Bayern, wenig interessiert, also da blieb das wirklich sehr stark auf die medikamentöse Behandlung beschränkt. Ich bin da jedenfalls daran gescheitert, hat es dann auch mal einen größeren Skandal gegeben, mit Auseinandersetzungen dann auch, das war dann ganz schlecht. Jedenfalls, ich bin dann aus lauter Verzweiflung letztendlich in die Praxis dann gegangen und habe dann hier, nachdem meine Mutter und meine Schwester wieder in Erlangen waren und ich mich hier eigentlich in Franken sehr wohl gefühlt habe und mich auch sehr in meiner Sprache als Franken definiere. München, obwohl ich dort eine gute Stelle hatte, war mir dann zu schickimicki-haft, wenn man so will, dann ist das auch immer unbezahlbarer geworden. Ich bin jedenfalls wieder gerne nach Franken zurück. Kurzum hatte ich dann eben einen freien Kassensitz erwerben können, die es damals noch kostenlos gab und habe dann eben die Praxis aufgemacht. War aber in meiner Praxis, so gerne ich die Arbeit da gemacht habe, das war ja am Anfang die neurologisch-psychiatrische Praxis, nie so recht glücklich, weil ich eigentlich immer was grundsätzlicher machen wollte. Ich wollte was verändern. Ich wollte irgendwie auch bei uns, gerade hier in Bayern oder in Deutschland auch nach wie vor Veränderungen in der Psychiatrie, in der Behandlung mit Menschen einbringen. Das war ja auch mit ein Grund, warum ich dann auch meine psychoanalytische Ausbildung gemacht habe. Das konnte natürlich in der Praxis nie so richtig umgesetzt werden. Ich habe dann zwar, ab 1991 bin ich dann Lehranalytiker geworden und habe dann ja eben dieses Münchner Institut mitbegründet mit anderen zusammen und habe das dann als ärztlicher Leiter lange mit geleitet, aber der Einfluss war natürlich relativ klein. Dann bin ich auch Facharztprüfer gewesen. Konnte man auch ein bisschen was machen, aber eben nicht so, wie ich mir das dann vorgestellt hatte. Also dieses Gefühl, du wolltest eigentlich immer was anderes tun, das hatte ich in meiner Praxis sehr stark, habe aber auch nie dann richtig den Drive gehabt zu sagen jetzt gibst das nach zehn Jahren auf und macht was anders. Das hing natürlich dann auch damit zusammen, dass ich Kinder hatte, insgesamt fünf Töchter, die dann, ich musste das ja auch alles dann irgendwo finanzieren, das war mit auch, sagen wir mal, einem wirtschaftlichen Druck zuzuschreiben, der mich dann da gehindert hat, dann noch einmal mich um eine klinische Stelle zu bewerben. Und erst als ich dann schon relativ alt war, warum auch immer, ich würde es natürlich vielleicht, ich will jetzt nicht zu theologisch sagen, aber ich würde es schon als Fügung des Schicksalss sagen wir es mal so, bezeichnen. Bin ich dann mit Martha-Maria in Kontakt gekommen, ich sollte da ursprünglich eigentlich nur beratend ein MVZ begründen. Und dann bin ich mit den Menschen, die hier Verantwortung getragen haben ein paar Mal ins Gespräch gekommen und bei irgendeinem, nachdem ich dann, glaube ich beim dritten Mal gesagt habe, jetzt habe ich ja eigentlich meine Arbeit getan und war ja damals schon 62 und meine Praxis lief gut, da gab es dann jetzt keine Notwendigkeit mehr, eigentlich etwas zu verändern, sagte dann der damalige Personalchef, wie ich dann ging: "Mensch Herr Deininger, jetzt haben sie uns da so gute Gedanken gegeben. Warum machen sie es eigentlich nicht selber?". Und dann habe ich mir das halt überlegt und habe dann tatsächlich in diesem doch schon sehr fortgeschrittenen Alter noch einmal gesagt, na ja, vielleicht ist jetzt das erst gekommen, was du schon eigentlich 20 Jahre vorher machen wolltest. Und dann habe ich dann hier diese Klinik gegründet, mit dem Medizinischen Versorgungszentrum dazu und ist, jetzt bin ich zwölf Jahre schon da, an sich waren nur fünf Jahre geplant und es wurde dann immer wieder verlängert und die Klinik wurde immer mehr erweitert. Und heute haben wir jetzt 40 Behandlungsplätze in unserer Tagesklinik. Die Psychosomatik ist jetzt ein Fach, was sich stärker auch bundesweit so entwickelt, dass man von den Vollstationären zu den teilstationären Plätzen kommt, weil man gesagt hat was, wasist denn die Begründung in der Psychosomatik für eine Vollstationäre Behandlung? Gibt es eigentlich keine. Und wenn, dann wäre es die Suizidalität oder häusliche Gewalt und das sind dann doch mehr psychiatrische Fächer, also psychiatrische Dinge dann. Und insofern ist diese Klinik jetzt mit den 40 Behandlungsplätzen und den dreieinhalb, jetzt kaufen wir noch einen halben Sitz dazu, vier Kassenarztsitzen wirklich so gut gewachsen und läuft so gut. Wir sind auch bei den, wir sind in so einem Forschungsinstitut von rechts der Isar mit drin, wo die bundesdeutschen Kliniken, die sich diesem Forschungsprojekt mit anschließen, immer untersucht werden auf ihre Qualität und auf ihre, wie die Patientenzufriedenheit ist, wie die behandelt werden, wie die Arbeitsunfähigkeiten sind. Da gibt es so viele Kriterien und da sind wir immer in Deutschland ganz vorne. #00:30:12-1#
Dr. Anne Wasmuth: Sie haben gerade schon einen schönen Überblick gegeben über das Fach. Wenn ich so an psychische Krankheiten denke, die haben mit meiner Wahrnehmung in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit auch bekommen. Eine zeitlang sogar so, dass ich dachte, Oje, wer keine Therapie macht, der hat irgendwas falsch gemacht. Und doch sind da immer wieder viele Tabus. Über ein gebrochenes Bein, da kann man wenigstens noch sagen "Ja, das ist beim Sport passiert", bei einer psychischen Erkrankung, das klingt ja weniger attraktiv. Dazu kommt, es ist so ein bisschen wie mit Viren, was ich nicht sehe, das ist wahnsinnig schwer zu begreifen. Also ein gebrochenes Bein, das sehe ich, da weiß ich ein paar Wochen, und in der Regel ist alles danach wieder gut. Ich kann alles machen, wie davor. Mit der Seele ist das alles viel komplizierter und irgendwer wird immer sagen "Ja, das bildet er sich ja nur ein, oder sie". Wenn Sie jetzt auf die vielen Jahrzehnte zurückschauen hat sich da gesellschaftlich etwas verändert? Ist da mehr Akzeptanz, damit auch vielleicht mehr Patienten, die kommen? Oder ist es nur eine Frage der Wahrnehmung? #00:31:16-7#
Prof. Dr. Bernd Deininger: Gesellschaftlich hat sich äußerlich was verändert, aber die Gesellschaft besteht ja aus Individuen, wie Sie wissen. Und individuell hat sich aus meiner Sicht nicht viel verändert. Das liegt zum einen daran, dass Menschen sich selber ja beurteilen und selber einen hohen Anspruch an sich haben. Und wir sind tatsächlich schon so sozialisiert, dass man psychisch nichts haben darf. Das ist in vielen Entwicklungsgeschichten kann man das sehen. Wenn der Einzelne selber stärker dazu stehen könnte, dass psychische Erkrankungen ähnlich zu bewerten sind wie körperliche, wäre es anders, das ist aber nicht so! Selbst in Familien, wenn dann Kinder, jetzt gerade mit der Coronazeit, gibt es ja jetzt auch viele Berichte darüber, dass dann Kinder und Jugendliche dann plötzlich depressiv werden, weil es keine sozialen Kontakte mehr gibt, weil sie nicht mehr zum Sport können und all solche Dinge. Das ist ganz schwer auch für Eltern zu sagen, meine 12-jährige Tochter hat jetzt Angstanfälle, oder mein 14-jährige Sohn ist depressiv. Es ist viel leichter, wie Sie es ja schon gesagt haben, zu sagen, die hat sich das Bein gebrochen. Das andere ist, dass natürlich die, wie soll man sagen, wenn dann in der Presse berichtet wird, ich nehme jetzt ganz aktuell den Somalier in Würzburg, nur mal als Beispiel, dann heißt es, ja, der ist halt psychisch krank gewesen oder es passiert irgendein Amoklauf, ja, der wird in die geschlossene Abteilung eingeliefert. Also es werden natürlich auch mit der Psychiatrie, insbesondere auch die die ganzen forensischen Abteilungen, wo eben sehr viele Menschen untergebracht sind, die halt aufgrund eines Wahns oder was es immer ist jemand zu Tode gebracht haben. Das hat natürlich alles einen riesen Einfluss auf das Image und wir in der Psychosomatik versuchen uns dann natürlich auch ein bisschen davon abzusetzen. Es ist aber ganz schwierig, weil Sie haben es ja gerade vorhin auch selber bemerkt, dass zwischen Psychologie, Psychiatrie und Psychosomatik schon wie Sie jetzt ja als Anführungszeichen "Person, die sich damit beschäftigt hat", Schwierigkeiten, das zu differenzieren, schon allein zu sagen, das sind zwei ganz unterschiedliche Studien, erst einmal und dann geht es bei den Facharztausbildung, die psychosomatische Medizin, legt sehr viel mehr Wert auf Psychotherapie, auf die Selbsterfahrung, was in der Psychiatrie alles nur marginal ist. Das ist natürlich im Bewusstsein der Bevölkerung auch nur sehr grenzwertig vorhanden. Wenn ich jetzt unser Klientel zum Beispiel nehme, wir haben etwa zwischen 2/3 und 3/4 unserer Patienten sind akademisch ausgebildet, also das sind in der Regel bildungsmäßig gut ausgebildete Menschen, die auch das entsprechende Reflexionsvermögen haben, sonst könnten wir sie gar nicht behandeln, weil wir eine der wenigen tiefenpsychologisch, psychoanalytischen Kliniken sind, die es überhaupt gibt in Bayern. Und da ist es jetzt schon so, dass in dieser gesellschaftlichen Schicht der, sagen wir mal, Ingenieure von Siemens, der Lehrer, der Anwälte, also viele Freiberufler haben wir hier, der BWL-Leute, da habe ich so den Eindruck, wird mittlerweile das schon gesehen, dass Depressionen, Ängste, Zwänge, Körperkrankheiten, eine Krebserkrankung, die dann eine psychische Reaktion zur Folge hat, jeden passieren kann. Dass es Trennungen gibt, dass es Krisen gibt, dass es so etwas wie das neue Wort Burnout hat, gibt dieses ausgebrannt sein. Das ist zumindest jetzt in diese eher gebildeten Schicht schon mittlerweile etwas besser ausgeprägt. Sonst habe ich schon den Eindruck, dass sich auch manche Patienten erst die Tage, wieder bei der Visite nochmal mit jemand drüber gesprochen, gibt es dann Schamgefühle, die der Einzelne hat und wo er glaubt, wenn ich die schon habe, dass ich mich selber schäme, dass ich jetzt in der psychosomatischen Klinik bin, dann müssen doch das die anderen genauso denken. Das ist dann das, was man mit Projektion bezeichnet. Das was ich denke, glaubt man natürlich auch, dass das der andere ähnlich sieht. Dass das oft nicht so ist, muss dann erst wieder besprochen und bearbeitet werden, aber, ich denke, ganz wichtig wäre, um das in einem größeren Maße noch einmal zu verändern, dass jeder Einzelne sich dem stellt und sagt, auch mir kann, auch wenn ich noch so mich gut fühle, auch wenn ich in noch so einer guten Beziehung stehe, passieren, dass es aus irgendeinnem Grund mal zu einer psychischen Krise kommt. #00:36:30-3#
Dr. Anne Wasmuth: Sie haben gerade schon Berufsgruppen genannt. Gibt es denn und auch von der Frage der Kriegserfahrung, das ist ja einfach eine bestimmte Generation, die davon auch betroffen ist, merken Sie das so in Ihrer in Ihrem Alltag, dass da einfach Generationenfragen sind, die Menschen beschäftigen oder sind es mehr auch Fragen, die jetzt die Geschlechter unterscheiden von denen, von dem, was sie beschäftigen. #00:36:59-0#
Prof. Dr. Bernd Deininger: Die Geschlechterdifferenz gibt sicherlich, das hängt natürlich aber auch letztendlich mit der eigenen psychischen Entwicklung zusammen, mit der Sozialisation, in der man aufgewachsen ist, mit den Beziehungen, die man in den ersten fünf, sechs Lebensjahren hatte. Das spielt natürlich eine große Rolle und da ist es tatsächlich so, dass nach wie vor Jungen, also die männlichen Kinder, sehr viel stärker noch so erzogen sind, ihr habt Gefühle erstmal zurückzuhalten, man wein doch nicht, das machen bestenfalls Mädchen, man hält Schmerzen aus usw. Das zieht sich natürlich oft bis ins Erwachsenenleben hinein. Und wir sehen tatsächlich, auch wenn man die Prozentzahlen unserer Patienten nimmt, wir, ich würde mal sagen, wir haben ungefähr 2/3 Frauen, 1/3 Männer, dass Männer sich sehr viel schwerer tun, zu inneren psychischen Problemen zu stehen, die driften dann eher in Suchterkrankungen ab, die werden dann eher zum Alkoholiker, werden dann eher tablettensüchtig, sind dann eher welche, die dann vor den Spielautomaten sitzen und was es da alles gibt. Frauen hingegen können eher auch zu ihren inneren Gefühlen stehen, zu ihren Zwängen, zu ihren Depressionen und kommen dann natürlich dann auch eher zu uns in Behandlung. Also da gibt es tatsächlich eine Geschlechterdifferenz. Das andere, was Sie noch sagten, auf die Generationen bezogen. Da gibt es genug Studien drüber, dass diese nächstgeborene Generation unter den Traumatisierungen der Eltern, die im Krieg waren oder die im Krieg dann Kinder waren, sagen wir mal, die zwischen 1935 und 1945 geboren sind, die dann wiederum Kinder gezeugt haben, die zwischen 1970 und 1980 geboren sind, die ihre Ängste vor Fliegerangriffen, die diese Ängste, überlebt es die Mutter, kommt der Vater aus dem Krieg zurück? All diese Dinge sind in der Regel nie besprochen worden, das wurde alles verdrängt und zurückgehalten. Dass das natürlich dann wieder Auswirkungen auf die nächste Generation hatte, wie gehe ich denn emotional mit meinen Kindern um? Das ist unstrittig und ich frag dann auch oft gerade so, das ist mit so jetzt unser Hauptklientel, das sind die zwischen 1970 und 1985 geborenen Menschen, die es, sind diejenigen, die am ehesten dann auch nicht nur Symptome entwickeln, sondern auch über die Symptome so nachdenken, dass sie eben zu uns kommen. Wenn ich die dann frage, was glauben Sie denn, was Ihr Vater gefühlt, gedacht hat, wie war denn die Beziehung? Da kommt in mindestens 3/4 der Fälle "kann ich Ihnen nicht sagen, was mein Vater gedacht und gefühlt hat, weiß ich nicht". Wurde nie darüber gesprochen. Und das ist immer, aber genau die Generation, die während der Nazizeit und der Kriegszeit selber noch Kinder waren. Und das wird natürlich dann über die nächste Generation weitergegeben, weil die natürlich die gleichen emotionalen Defizite haben. Und das ist oft gerade für Väter dann sehr schwierig. Identifiziere ich mich denn so mit meinem Vater, dass ich genauso mit meinen Kindern umgehe, oder mache ich es anders? Und das setzt aber wirklich in einem hohen Maße auch eine Reflexion voraus zu sagen "Nein, ich möchte jetzt mit meiner Tochter, mit meinem Sohn anders umgehen, als ich das selber erlebt habe. Und ich wünsche mir, dass meine Kinder, wenn die mal über mich als Vater reden, dann zumindest wissen, was in mir innerlich vorging." #00:41:06-3#

Dr. Anne Wasmuth: Es ist tatsächlich so, dass gerade diese, was Sie sagen, über dieses nicht sprechen können, über Kriegserfahrung usw., das ist zum ersten Mal jetzt durch diese Pandemie, dass ich für mich das Gefühl hatte, ich konnte das so nachvollziehen, warum Generationen für sich nicht sprechen konnten, weil es jetzt ja auch so Erfahrungen gibt von Ungerechtigkeiten, von Egoismen, von unterschiedlichem Umgang in der Pandemie mit bestimmten Themen. Das heißt mit wie viel Menschen treffen wir uns, oder Thema Impfen, oder Thema Verschwörungstheorien. Da hat man auch den Hang zum ersten Mal, so, man kann über was nicht sprechen. Und gibt es trotzdem manchmal so Themen, wo man sagt, na ja, es ist manchmal auch gut, nicht zu sprechen, weil dann ein Problem nicht noch größer wird, als es ist, oder ist das sehr konfrontativ, wenn ich ausgerechnet Sie das frage? #00:42:02-3#
Prof. Dr. Bernd Deininger: Nein, das ist überhaupt nicht konfrontativ. Meine Grundposition, jetzt unabhängig von meinem Beruf ist immer die, dass Lösungen am ehesten dadurch zustande kommen, dass man in einen Dialog tritt. Dialog heißt Gespräch, Dialog heißt Beziehungsaufnahme. Von Verdrängungen halte ich jetzt erst einmal wenig. Das ist der eine Punkt. Der andere ist natürlich schon der, dass es auch Intimsgrenzen gibt und dass jeder Mensch die in unterschiedlicher Weise hat. Das hängt zum einen damit zusammen, gibt es denn in meinem eigenen Inneren Dinge, die ich selber als beschämend empfinde und die, wenn ich die äußern würde, in so ein Schamgefühl hineinkommen würde, dass ich das nicht aushalte. Und ich glaube, das ist auch wichtig, das ist eine Intimsgrenze gibt und die sollte man sich immer wieder vergegenwärtigen. Man kann die dann hinterfragen und kann dann sagen, ich nehme mal so Beispiele, sehr viel schamhaftes gibts beim sexuellen Erleben zum Beispiel und selbst in in engen Beziehungen, in Ehen, wo Menschen auf 20, 30 Jahre zusammenleben, kann es sein, dass da über so sexuell perversive Gefühle, ich sage mal, was weiß ich, gerade so auf dieser sadomasochistischen Ebene beispielsweise nicht gesprochen wird, weil der Betreffende selber sich schämt, dass er solche Gedanken hat. Und wenn er da dieses Gefühl hat, ich kann das in einer Beziehung nicht ansprechen, weil ich mich selber so vor meiner Frau schäme, dass ich so was denke, dann hat es natürlich jetzt wenig Sinn, wenn er das jetzt in einem Dialog mit seiner Frau tut, sondern da kann er sich dann fragen Ist es nicht günstiger, das zum Beispiel in einem therapeutischen Prozess zu klären, warum habe ich denn überhaupt solche Gefühle? Was steckt dahinter? Sind das irgendwelche sadistischen Impulse, die ich jetzt durch Prügel, die ich von meiner Mutter erlebt habe, jetzt wieder an Frauen auslasse oder was weiß ich. Da gibt es also viele unbewusste Gründe. Das andere ist, dass ich glaube, dass jeder Mensch auch einen Intimsraum braucht, in dem nur er hinein kann. Also CG Jung hat ja dann von diesem wahren Selbst gesprochen. Ich selber wird jetzt vielleicht als Theologe so sagen, das es so in unserem Innersten, eigentlich vielleicht so wie so ein kleines Kämmerchen gibt, in dem niemand Zutritt hat, außer ich selber. Als Theologe würde ich vielleicht noch sagen Gott hat da noch Zutritt und das wäre so die einzige, möglicherweise auch projektive Größe, wo ich dann sagen würde, dem kann ich dann alle sagen, Das ist vielleicht auch, ich habe es mir kürzlich erst noch mal so gedacht, ein Sinn von Beichte, dass man da zu irgendeinem wildfremden Menschen geht, wo man weiß, den werde ich nie mehr sehen, der hockt in irgendeinem Beichtstuhl, und da gehe ich jetzt irgendwie hin und sag dem, ich habe Steuern hinterzogen, ich habe mal jemand mit Absicht, was weiß ich, durch die Prüfung fallen lassen, ich bin mal fremdgegangen oder was das auch immer ist, dass das tatsächlich eine entlastende Wirkung hat und dass das aber oft nur möglich ist, wenn mir das jemand sagen kann, wo man weiß, zu dem gibt es keinerlei Kontakte sonst, der wird für immer und ewig aus meinem Blickfeld verloren sein. Das hat etwas unheimlich lösendes und entlastendes. Und vielleicht ist die Gottesgestalt an der Stelle auch so eine Projektionsfläche, wo man eben sagen kann in diesem inneren Kern, wo ich so ängstlich bin, das mein Bild, was ich vor mir selber habe und mein Bild, was ich vielleicht auch bei anderen Menschen auslöse, dass das zerstört werden könnte, wenn ich das sage, wo ich mich so drüber schäme. Das kann durchaus möglich sein, dass man das für sich behält. Aber zum Beispiel bei so einem anonymen Beichten, das ist für mich ein großer Punkt, dass die Beichte, sowas, so ein Vorläufer auch von psychotherapeutischen Prozessen ist, wenn Sie so wollen, oder vielleicht in so einem individuellen Gottesbewusstsein das dann auch dann in Dialogform zu besprechen ist, das halte ich für ganz wichtig, sinnvoll und für jeden Menschen auch, sagen wir mal fast schon notwendig, dass er diesen innersten Raum hat, der nur für ihn zuständig ist. #00:46:40-7#
Dr. Anne Wasmuth: Und wo Sie auch als Therapeut nicht eindringen. #00:46:44-5#
Prof. Dr. Bernd Deininger: Wo ich als Therapeut schon gar nicht eindringen würde. Der Therapeut hoffe ich, das auch nirgends eintritt, sondern wo der Therapeut bestenfalls dann einen Zugang hätte, wenn ihm der Patient es gestattet. #00:46:59-1#
Dr. Anne Wasmuth: Wie zentral ist bei Ihren Therapiegesprächen die Schuldfrage? Also die Schuld, die ich jemandem anderen an meiner Krankheit gebe, auch die ich mir selbst gebe. #00:47:12-8#
Prof. Dr. Bernd Deininger: Na ja es gibt, da muss man nochmal differenzieren zwischen der Realschuld und einem Schuldgefühl. Die Realschuld, die kann natürlich im Laufe so eines psychischen Prozesses, wo sie erst einmal um Verdrängungen, um Verleugnungen, um Reaktionsbildungen, Projektionen, um Idealisierungen geht. Das sind psychische Mechanismen, die das Ich hat, um überhaupt existieren zu können. Zumindest ist das die psychoanalytische Theoriebildung, so. Da wird man dann natürlich zu Vorgängen kommen, wo es Realschuld gibt, zum Beispiel wenn es eben sexuellen Missbrauch gibt als Kind, wenn es Gewalterfahrungen, wenn es Vernachlässigungen, all diese Dinge gibt, dann würden wir davon schon reden müssen, dass da, an diesem Kind ganz real Dinge passiert sind, die schuldhaft sind. Und dann gibt es aber natürlich noch das große Feld des Schuldgefühls, also wo dann Kinder, weil sie eben zum Beispiel von der Mutter in dieser Entwicklungsphase, da gibt es so eine Entwicklungsphase, so um das zweite, zweieinhalbte Lebensjahr herum, die nennt man Autonomie-Abhängigkeit. Das sind Konflikte, die in jeder psychischen Entwicklung eine Rolle spielen. Gibt es insgesamt sieben und ein ganz wichtiger ist in dieser Autonomie-Abhängigkeitskonflikt, wo das Kind zwischen den Bestrebungen, autonome Entscheidungen zu treffen einerseits, aber um das Wissen, ich bin auch noch von meinen Eltern abhängig andererseits hin und her pendelt. Und wenn jetzt zum Beispiel so ein Kind, zweieinhalb Jahre, Autonomiebestrebungen hat, das es zum Beispiel bei so einem Wetter wie heute, nehmen wir das mal an, 30 Grad wird erwartet, früh zur Mutter sagt, wenn sie in den Kindergarten soll "Du, Mama, ich zieh heut mein Ski Anorak an und meine Winterstiefel". Dann sagt die Mutter "Na ja, also heute kriegt es 30 Grad, das wird wohl nichts sein, das ist doch besser, du ziehst kurze Hose und Sandalen an" und dann gibt es da dann den Dialog. Die Mutter wird vielleicht hektisch, weil sie ins Büro muss und die kleine Sandra oder wie es immer heißt, die schmeißt sich dann am Boden "Nein, ich will meinen Ski Anorak anziehen" usw. und die Mutter steht dann vor diesem Dilemma. Auf der einen Seite ist es wichtig, dass das Kind auch mal selber Autonom etwas entscheidet, auf der anderen Seite weiß sie aber, dass das unsinnig ist bei solchem Wetter wie heute, dann kann man eine Realitätsprüfung machen, dann geht man mit der kleinen Sandra vor die Türe oder am Balkon und sagt "Schau mal hin. Das Wetter ist so", sagt die kleine Sandra, aber immer noch "Nein, ich will meinen Ski Anorak anziehen" und dann geht es darum, ob die Mutter in der Lage ist, einen Kompromiss zu finden, oder, jetzt bin ich bei Ihrer Frage, dann sagt "Wenn du jetzt nicht die Sandalen anziehst und eine kurze Hose, dann mag ich dich nicht mehr". Also wenn sie mit Liebesverlust kurzum droht, dann kann sein, dass so ein Kind, wenn das durchgängig in diesem inneren Erleben der Mutter so ist, ich setze meine Interessen nur durch, wenn ich mit Liebesverlust drohe, was zum Beispiel auch auf Beziehungen bezogen immer ein Totschlagsargument ist, wenn dann in Partnerschaften der eine sagt ,wenn du das jetzt nicht magst, was ich will, dann verlasse ich dich, oder dann mag ich dich in mir, dann kann man die Beziehung eigentlich am besten gleich aufgeben, würde ich mal sagen, wenn so was passiert. Also jedenfalls noch mal auf das Kind zurück. Wenn dann so ein Kind in dieser Atmosphäre aufwächst, wenn ich eigene Autonomiebestrebungen leben will, muss ich das mit Liebesverlust bezahlen, dann wird es auch später als erwachsene Sandra das Gefühl haben, wenn irgendetwas ist, wo sie den Eindruck hat, das liegt jetzt daran, dass ich ein Interesse vertreten habe, bin ich schuld, weil ich ja dieses Interesse vertreten habe. Und dann stellt sich da ein Schuldgefühl ein, was dann sozusagen der oberste Ablauf erst einmal ist, um dann die Depression zu entwickeln. Der depressive Mensch ist eben der, der eben keine Autonomiebestrebungen leben durfte, sich immer anpassen musste, weil er immer Angst vor diesem Liebesverlust hatte. Dann wird natürlich das Schuldgefühl eine große Rolle spielen, bei all den Menschen, die halt diesen Konflikt nicht bewältigen konnten. Dann gibt es noch einen zweiten Konflikt, Kontrolle-Unterwerfung heißt der. Eine Entwicklung steht dann später so ab dem dreieinhalb ten, vierten Lebensjahr. Da spielt auch eine Schuld eine große Rolle. Da geht es dann um die Entwicklung von Moral, um die Entwicklung, das was Freud noch mit dem Begriff des Über-Ichs bezeichnet hat. Da meint man heute eher, wie gehe ich in gesellschaftlichen Zusammenhängen um, wie bin ich im Kindergarten sozialisiert, was ist Recht, was ist Unrecht? Dass man dann schon einem Dreieinhalbjährigen, wenn der jetzt mit seiner Schaufel dem kleinen Kevin eine auf auf den Kopf haut, dann sagt, dass das dem weh tut und dass das eben nicht gut ist, wenn er so was macht, was der 2-jährige noch nicht versteht. Vom Dreieinhalbjährigen muss man das aber schon erwarten. Da entwickeln sich auch oft Schuldthemen, die aber dann wiederum etwas mit der eigenen inneren Position zu tun haben, wie man mit Recht und Unrecht, Moral, all solchen Dingen umgeht. Da kommen wir eigentlich auch nur sehr bedingt raus, weil wir ja nach Søren Kierkegaard existenziell immer schuldig werden, allein dadurch, dass es uns gibt. Und es ist dann auch oft immer so eine Frage, wie man ins Dasein geworfen ist, ob dann auch ein Mensch zum Beispiel sagen kann, ich habe ein Recht, dass ich überhaupt hier lebe. Bei Zwillingsgeburten gibt es das manchmal, dass dann ein Zwilling verstorben ist und der andere, der überlebt hat, dann wahnsinnige Schuldgefühle hat. Warum hat er überlebt und andere nicht? Das sind aber so grundexistenzielle Fragen, weil schon allein dadurch, dass Sie jetzt hier sitzen und vielleicht einen befriedigenden Job haben, haben es schon anderen wieder den Job genommen, die Sie vielleicht auch dafür interessiert hätten. Mit diesem Gefühl, ich bin jetzt da und darf auch da sein, müssen Sie auch zurechtkommen, auch wenn Sie dann denken, da gibt es jetzt doch nur vier andere, die hätten das auch gern getan und hätten es vielleicht noch nötiger gehabt, weil die alleinerziehend sind oder was weiß ich, kann dann auch ein Schuldgefühl zustande bringen. Aber da kommen wir nicht raus. Da glaube ich, ist es auch wichtig, dazu zu stehen. An dem Platz, an dem ich jetzt gestellt bin, habe ich auch ein Recht zu sein. #00:54:16-2#
Dr. Anne Wasmuth: Das führt mich eigentlich direkt zur nächsten Frage. Wenn ich mir nämlich vorstelle, dass jemand wirklich eine manifeste Depression hat, also wirklich, wirklich schwer krank ist und befindet sich aber auf dem Weg raus. Wie weiß so jemand, welches Maß an Traurigkeit, an Schwermut, an Sorge, an Angst, an Verzweiflung in Anführungsstrichen "normal" ist? Wie findet so jemand wieder einen Bezugsrahmen, so dass er oder sie weiß, Traurigkeit oder Angst oder Situationen, in denen ich als Mensch nicht so funktioniere oder mein Umfeld, die gehören trotz allem mit dazu, die kann ich aushalten. Also an einen Waschzwang gedacht, wie viel Händewaschen ist okay? Oder ist dann meine grundsätzliche Vorstellung falsch? Und lassen sich klare Linien bei diesen Krankheiten ziehen, wann Sie als Diagnostiker sagen Richtung behandlungsbedürftig oder gesund? #00:55:07-3#
Prof. Dr. Bernd Deininger: Da gibt es sicherlich keine klaren Linien, sondern das ist natürlich auch eine individuelle Betrachtung von Welt grundsätzlich. Wenn Sie heute aufwachsen, sagen wir mal in Kenia oder in Tansania, dann werden Sie, was die Hygiene anbelangt, ganz andere Grundvoraussetzungen haben, als wenn sie hier in Westeuropa oder in Mitteleuropa aufwachsen. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wir hatten mal eine Reinigungsfrau aus Indien, genauer gesagt aus Pakistan. Die war dann ein paar Mal bei uns und die kam dann in unsere relativ, scheinbar für pakistanische Verhältnisse saubere Wohnung und wusste dann tatsächlich nicht, was sie da machen soll. Und erst als dann meine Frau erklärt hat, "Na ja, schauen Sie mal da im Schrank, da ist Staub drauf oder da müsste mal gesaugt werden", oder sonst was, hat es der gedämmert, dass es bei uns ganz andere Vorstellungen von Sauberkeit, Ordnung usw. gibt. Das ist zum einen eine gesellschaftliche Frage, aber zum anderen auch eine individuelle, je nachdem wie sie halt aufwachsen. Es gibt ja nun auch hier bei uns in Mitteleuropa natürlich Familien, die, sagen wir mal, mit Abfall, mit Wäschewaschen, mit Hygiene ganz anders umgehen als wieder die andere Familie. Also das ist sehr stark von der Sozialisation abhängig. Das ist das eine. Und das andere, auf Ihre konkrete Frage Depression und Zwänge bezogen, da würde ich einmal sagen, geht es immer darum, wie der Leidensdruck ist. Also ich glaube, dieser Aspekt oder dieser Begriff Leidensdruck, ich leide darunter, dass ich jetzt Schuldgefühle habe, ich leide darunter, dass ich eben jedes Mal, wenn ich eine Türklinke anfasse, meine Hände waschen muss. Der spielt eine große Rolle. Und jetzt von außen zu sagen, wenn sich jetzt jemand, bleiben wir mal bei dem, bei so Zwangshandlungen, wenn jemand jetzt, bevor er die Wohnung verlässt, noch einmal schaut, ob alle Lichter aus sind, ob der Herd ausgestellt ist und sonst was, das dann gleich als Krankheit zu deuten halte ich ein wenig für schwierig, sondern individuell gibt es halt den einen Menschen, der halt stärker kontrollbedürftig ist als der andere. Und das sind einfach Charaktereigenschaften und entwicklungsbedingte Aspekte, die aber ein relativ größeres Spektrum dann haben. So ähnlich stellen Sie sich vielleicht so vor, dass es da eben auch so Variationen von Normalität gibt, wie man sie, Gott sei Dank, auch in den letzten 20 Jahren auf Sexualität bezogen hat. Ich bin noch aufgewachsen in der Generation, bis zu meinem 30. Lebensjahr, wo die Homosexualität beispielsweise eine Erkrankung war und wo es auch sogar noch einen Strafrechtsparagraphen gab, bis 1975 ist der glaube erst abgeschafft worden, da war ich schon fast 30. 1990 ist erst aus der Weltgesundheitsorganisation das gestrichen worden, dass das eine Erkrankung ist, das müssen Sie sich mal vorstellen, das sind jetzt gerade mal 30 Jahre. #00:58:23-6#
Dr. Anne Wasmuth: Das ist nichts. #00:58:25-6#
Prof. Dr. Bernd Deininger: Das ist eigentlich gar nichts. Und dass man jetzt eben sagt, da gibt es eine Variation des Geschlechtslebens und da gibt es eben Homosexualität und es gibt Transsexualität, alles mögliche, das ist heute völlig normal und so ähnlich, wenn man das mal übertragen will, würde ich auch das auf Affekte bezogen sehen. Ob jetzt jemand eher eine melancholischere Seite hat und an sich, oder die Mutter sich mehr Sorgen macht, wenn nun die Tochter mit, was weiß ich, 16 das erste Mal auf eine Party geht als die andere. Das sind einfach Dinge, wo ich sagen würde, da gibt es ein größeres Spektrum. Wenn es dann aber einen Leidensdruck gibt und wenn dann der betreffende Mensch sagt, ich leide darunter, dass ich immer wieder in so Löcher hineinfalle, wo ich die Welt nur grau sehe und wo ich nur das Gefühl habe, ich bin der größte Versager oder ich schaffe nichts und sonst was. Dann hat es natürlich einen Krankheitsaspekt. #00:59:24-2#
Dr. Anne Wasmuth: Aber da nützt es wahrscheinlich auch nichts, wenn ich sage "Du, das geht mir auch so und das ist jetzt normal". #00:59:29-7#
Prof. Dr. Bernd Deininger: Das nützt wenig. #00:59:31-0#
Dr. Anne Wasmuth: Ja. #00:59:31-6#
Prof. Dr. Bernd Deininger: Also auch diese, gerade bei Depressiven hört man das ja dann oft, wenn dann Menschen sagen "Ja, ich habe jetzt keinen Antrieb mehr und ich kann früh nicht aus dem Bett raus und will nur liegen bleiben" und dann kommt aus der Familie oder von der Partnerschaft oder von Freunden "Jetzt reiß dich doch mal zusammen und jetzt komm, du wirst doch jetzt aufstehen können, das ist doch nicht so schwer". Das nützt da gar nichts. #00:59:57-0#
Dr. Anne Wasmuth: Wie können Sie dann helfen, als Therapeut? #01:00:01-1#
Prof. Dr. Bernd Deininger: Als Therapeut können Sie natürlich nur helfen, wenn jemand einen Leidensdruck hat und dann kommt, dann selber was verändern möchte. Wir haben natürlich, stehen oft vor dem Problem und das war auch in meiner Praxis so, dass dann Angehörige kommen und sagen dann, "Mein Sohn, mein Partner, mein sonstwas, der trinkt zu viel, der wäscht sich nicht, der ist jetzt schon zum dritten Mal, hat der jetzt eine neue Berufsausbildung begonnen" und alles Mögliche. Das nützt leider nichts. Man kann sozusagen, wenn der Betreffende selber nichts verändern will, nichts machen. Das ist ja auch oft das Problem dann bei den schweren psychischen Krankheiten, bei Schizophrenien zum Beispiel, wenn dann jemand einen Wahn hat oder wenn jemand Denkstörungen hat, den dann dazu zu bringen, dass er sich behandeln lässt, ist oft ganz, ganz schwierig. #01:00:56-3#
Dr. Anne Wasmuth: Sie sind in Ihrer Arbeit mit unendlich vielen Schicksalen und Krankheit konfrontiert. Ist es Ihnen immer gelungen, dabei klare Grenzen zu ziehen zwischen Therapeut und Hilfesuchenden? #01:01:12-9#
Prof. Dr. Bernd Deininger: Also wenn Sie Grenzen meinen, wo es dann darum geht, sagen wir mal, was wenn so eine, sagen wir mal auf eine, wenn es um eine Liebesübertragung geht, was in analytischen Prozessen oft der Fall ist, wenn es erotische Gefühle gibt, wenn wenn dann weibliche Patienten sich dann in den Therapeuten verlieben. Da bin ich sehr froh und, ja, zufrieden auch, dass es da mir immer wieder gelungen ist, über Supervisionen dann, wenn ich selber dann auch ein erotisches Gefühl mal jemand gegenüber hatte, das dann zu bearbeiten und zu besprechen und rauszufinden, woran das lag. Wenn es dann aber um schwere Schicksale ging, zum Beispiel habe ich einen Patienten, der mir das dann auch noch gestattet hat, bevor der starb, der fällt mir jetzt am ehesten ein, veröffentlicht in einem Buch und hab da auch beim Weltkongress damals in Wien drüber Vortrag gehalten. Das war ein evangelischer Pfarrer, der 37-jährig damals, während der analytischen Behandlung bei mir, an einem Magenkarzinom Erkrankt ist und dann auch während der Analyse daran verstarb. Und ich habe da, nachdem er das auch wollte, bis zum Schluss wollte er den analytischen Prozess weitermachen. Die letzten zwei Wochen vor seinem Ableben konnte er dann nicht mehr in die Praxis kommen, sondern ich bin dann die letzten zwei Wochen, die zweimal die Woche zu ihm nach Hause gefahren und dann diese, das waren dann vier Stunden insgesamt und diese Woche, wo er verstarb, er hatte mir Dienstag und Freitag seine Stunde, da konnte ich aber an dem Freitag nicht, bin ich am Samstag hin, Nachmittag um zwei haben eine Stunde gehabt und um sechs ist er dann verstorben. Das war zum Beispiel so ein Patient, wo ich große Schwierigkeiten hatte, da eine Grenze zu finden mit dem Schicksal, mit Gerechtigkeit, wie geht man mit Angst um, was bedeutet denn auch Glaube, was bedeutet dann die Gerechtigkeit Gottes, wenn ich jetzt noch mal so als Theologe sagen darf, aber auch für mich als Analytiker damals, wo kann ich mein Mitgefühl dann so ordnen, dass ich das noch professionalisiere? Da waren die Grenzen dann sehr, sehr, sehr, sagen wir mal, fließend. Also das ist jetzt ein Extrembeispiel, aber natürlich gibt es viele Schicksale, die ich erlebt habe, jetzt in den ganzen, sagen wir mal seit 1985 sind jetzt ja dann auch schon 35, 40 Jahre, wenn ich dann noch meine Facharztausbildung dazu nehmen, also gut 40, 45 Jahre, wo ich jetzt ärztlich tätig bin und wo immer wieder, gerade so dieses Gefühl von Gerechtigkeit, gerade so dieses Gefühl von Mitleid, von Empathie, von sich hinein zu versetzen, wie ging es dann diesem vernachlässigten Kind, was dann da geprügelt wurde? Wie geht's diesen kleinem Mädchen, was dann, ich habe da mal eine Frau dann lange in Analyse gehabt, die schwersten sexuellen Missbrauch erlebt hat. Das ist, wo ich mich dann auch als Mann dann sehr schuldig gefühlt habe, als Vertreter des männlichen Geschlechts, was diesen Kindern angetan wurde und dann mit den Symptomen, mit denen, die sich dann später herumschlagen musste. Also das sind schon Dinge, die ganz, ganz schwer sind, da eine Grenze zu finden. #01:05:19-3#
Dr. Anne Wasmuth: Ich weiß, Sie haben es, glaube ich, irgendwo auch geschrieben. Sie haben selber in der Schule noch die Erfahrung des Rohrstocks gemacht, durch einen Vikar, glaube ich, also kirchliche Amtsträger. Das macht einen ja auch so, jetzt im Jahr 2021 ist das kaum vorstellbar, dass Menschen so, so ihre Macht ausüben oder so ein Instrument dafür benutzen. Wie haben Sie das für sich selbst erlebt? Wie ist das möglich, trotzdem einen Weg zu finden, an einen gnädigen und einen verzeihenden Gott zu glauben? #01:05:56-4#
Prof. Dr. Bernd Deininger: Na ja, ich bin ja, dadurch, dass ich dann mein Theologiestudium dann abschloss, bin ich dann in den ehrenamtlichen Dienst der bayerischen Landeskirche eingetreten, 1976 war das, also auch schon lange und bin dann, über diese Doppelqualifikation wahrscheinlich, zum Vertrauensarzt der evangelischen Kirche geworden. Bis heute mache ich das und bin dann ab 1992 von der katholischen Kirche auch gefragt worden, ob ich Gutachten erstelle für die Kirchengerichte, was ich auch bis heute mache, Offizialatsgerichte heißen die und bin 1992 auch als Supervisor in die, in das Recollectio-Hausin der Abtei Münsterschwarzach berufen worden, da kenne ich ja den Pater Anselm Grün auch her und bin da seit 1992. Nachdem das das einzige Therapiezentrum für Priester und Ordensleute war, mit sehr viel Schicksalen von Theologen befasst gewesen, von beiden Seiten. Und da ist mir immer stärker deutlich geworden, dass Kirche als Institution und Glaube als Lebensanschauung und Religion als Kulturgut große Unterschiede sind. Und mir ist es Gott sei Dank immer mehr dann gelungen, zwischen den Repräsentanten der Kirche, den Amtsträgern, den Menschen, die sich als gläubig bezeichnen und dem, was Religion bedeutet, zu differenzieren. Und diese Enttäuschungen, dass jetzt nun Menschen, die sich als gläubig bezeichnen oder die Amtsträger sind, nun schwere neurotische Störungen haben, Zwänge haben und Sadisten sind und was alles gibt, das hat mich jetzt in meiner persönlichen Glaubenserfahrung nicht mehr dann belastet, sondern da muss ich halt zur Kenntnis nehmen, so wie es eben sehr viele Richter gibt, die Sadisten sind, wo kein Mensch sich überlegt, wie man, ob man Richter nun wird, weil man die entsprechende Persönlichkeitsstruktur hat, sondern da wird man halt Richter, weil man ein gutes Staatsexamen hat. Und ob in Gynäkologie einen Frauenhass hat, interessiert auch keinen Menschen und ob ein Kinderarzt pädophil ist, interessiert auch niemanden. Und ob irgendwelche Pädagogen Sadisten sind, interessiert auch niemanden, dass entscheidend ist, dass sie ihre Examina haben, aber es gibt aus meiner Sicht kaum Berufsgruppen, wo gefragt wird, wer, was haben die denn für eine psychische Ausstaffierung sozusagen. Sind die denn für das, was die dann tun sollen, zum Beispiel für Kindererziehung, für ärztliche Behandlung, für Rechtsprechung geeignet? Das interessiert doch bei uns in Deutschland niemanden. #01:09:12-2#
Dr. Anne Wasmuth: Sie haben ja ein Buch geschrieben, "Wie die Kirche ihre Macht missbraucht". Haben Sie da Reaktionen von offizieller Seite bekommen? #01:09:20-1#
Prof. Dr. Bernd Deininger: Ja, klar. Das Buch "Wie die Kirche die Macht missbraucht" ist eigentlich ein Buch, wo es grundsätzlich um Machtmissbrauch geht. Ich habe die Kirche als Beispiel genommen, weil dort der Anspruch, gerecht und ethisch zu sein, am stärksten sichtbar wird. Zu der Differenz, die es dann dazu gibt. Ich habe aber auch in dem Buch ja immer wieder darauf hingewiesen, dass man das auf gesellschaftliche Institutionen grundsätzlich übertragen kann. Das finden Sie in Wirtschaftsunternehmen so, das finden Sie in Lehrerkollegien in Schulen so, das finden Sie in Krankenhäusern so. Die Macht wird immer dann natürlich von Menschen missbraucht, die selber unter einem Selbstwertdefekt letztendlich leiden. Die einen, um es in der Wissenschaftssprache zu sagen, unter einem narzisstischen Defizit leiden und die Macht für sie dann innerlich das Gefühl ist, ich bin doch etwas wert. Und nachdem aber jemand in die Machtposition nicht kommt, weil er nur ein Selbstwertproblem hat, sondern weil er halt eben vielleicht irgendwelche besonderen wissenschaftlichen Leistungen hat, weil er in der freien Wirtschaft die besseren Ellbogen wie ein anderer hat, weil er besser intrigieren kann, weil er besser Netzwerker ist. Da können Sie auch in die Politik von mir aus mit hineinschauen. Da sind in Führungsriegen aller Institutionen, aus meiner Sicht viele Menschen drin, die nicht in der Lage sind, mit der Macht, die man ihnen zuspricht, umzugehen. Und da ist natürlich dann der Schritt zum Missbrauch sehr schnell da. Und das haben sie ja dann bei den ganzen Dingen, die in den letzten Jahren mit den MeToo Debatte aufgekommen sind, nie gesehen. Wir hätten vor 20 Jahren einen Harvey Weinstein, nehmen wir den als Beispiel, wenn Sie da gesagt hätten, als Frau, da gab es einen Übergriff, dann wären Sie ausgelacht worden. Das ist eine Entwicklung, die ganz neu ist und das ist in Wirtschaftsunternehmen, denke ich, bis heute so, dass es da, wie soll man sagen, vielleicht noch fast wie im Absolutismus mit den Fürstentümern umging. #01:11:50-5#
Dr. Anne Wasmuth: Sie haben ganz viel ja von den Individuen gesprochen, also der individuelle Blick, den sie immer wieder auf die Menschen haben, gleichzeitig eben aber auch der Blick auf Strukturen in dem Fall und damit auch eine Vogelperspektive. Und die würde ich jetzt gerne noch eine Frage mehr auf die Gesellschaft beziehen wollen. Also selbst für Menschen, die psychisch stabil sind oder sich dafür halten, ist so etwas wie eine Pandemie eine Herausforderung. Immer mehr Menschen, mit denen ich spreche, die sagen von sich "Ja, diese Zeit ist nicht ohne Spuren an mir vorbeigegangen". Die Ersatzakkus sind praktisch entladen. Viele, die das nicht kannten, haben morgene erlebt, an denen sie gerne liegen geblieben wären oder die eigene Arbeit plötzlich keinen Spaß mehr macht oder wo es sich nicht gut anfühlt, mit anderen Menschen Kontakte zu haben. Selbst jetzt, wo viele schon geimpft sind, also Dinge, die sich wie Vorstufen oder mehr von Depressionen oder Angstzuständen anfühlen können. Und selbst ohne Pandemie gibt es in der Welt so viele Dinge, die uns beschäftigen können. Wir sehen es, wir hören es, wir lesen es, wie emotional viele Dialoge oder Debatten werden können. Da ist dann sofort Wut da, also gleich große, negative, emotionale Wucht. Sie sehen, wie gesagt, viele einzelne Menschen. Und Sie haben mit Anselm Grün, den Sie erwähnt haben, ein Buch geschrieben in diesem Jahr erschienen "Verstehen statt verurteilen". Sehen Sie da auch auf einer höheren Ebene auf unsere Gesellschaft und analysieren sie auf einer kollektiven Ebene, beziehungsweise haben Sie bestenfalls eine Therapiemöglichkeit, so dass sich Debatten mehr versachlichen, so das gesellschaftliche Klima nicht so emotional aufgeladen ist? #01:13:30-9#
Prof. Dr. Bernd Deininger: Ja, das ist sehr schwierig. Ich hatte ja vorhin schon mal gesagt, die Gesellschaft besteht natürlich erst einmal aus Individuen. Und bei diesen ganzen Dingen, die Sie jetzt angesprochen haben, fangen wir nochmal von vorne an. Natürlich macht die Pandemie, hat als allererstes mal die Menschen noch einmal bewusst gemacht, dass er ein gesellschaftsbezogenes Wesen ist. Bei Platon heißt es ja dann ein "Zoon politikon" und, dass wir eben in einem hohen Maße, Digitalisierung hin, Digitalisierung her und künstliche Intelligenz hin und künstliche Intelligenz her, als humane Wesen auf Beziehung, Kontakt, Gespräch angewiesen sind. Und wir sehen sie auch bei unseren Patienten zum Beispiel. Wir mussten eine Zeit lang auch online Behandlungen durchführen. Das, sobald es möglich ist. Die Patienten sagten, sie möchten wieder präsent im Raum sein und in ein Gespräch eintreten. Dieses sozusagen zurückerinnern, dass wir gesellschaftsbezogene Wesen sind, war aus meiner Sicht ein ganz positiver Anteil, den die Pandemie uns noch einmal vor Augen geführt hat. Dass das, was wir mit Menschsein bezeichnen, dass das, sagen wir mal, in einem hohen Maße von dem sozialen Umfeld, in dem ich mich bewege, von den Kontakten, die ich habe, von den Interessen, die ich habe, sehr, sehr stark geprägt ist, ist, was extrem wichtiges. Und wenn Sie das alles wegnehmen und ich hatte ja vorhin schon mal auch auf die Kinder und Jugendlichen bezogen gesagt, da ist es ja noch stärker sichtbar, wenn man da die sogenannte "Peer Group" dann wegnimmt, dass das dann Vereinsamung, Ängste, all diese Dinge macht, das ist die zwangsläufige Folge. Das andere, was Sie noch mal gerade angebracht haben mit den Diskussionen in Debatten, hängt natürlich auch in einem hohen Maße tatsächlich von der psychischen Struktur auch des Einzelnen ab. Und je stärker Ängste da sind und je stärker Menschen sich irgendeine Führungsgestalt suchen, weil sie selber so ängstlich sind und weil sie selber so wenig eigene Positionen vertreten können, desto stärker wird natürlich eine, sagen wir mal Aufspaltung in verschiedene Weltsichten kommen. Und wenn wir jetzt nun zum Beispiel die extremistischen Gruppen nimmt, das gilt für Links und Rechtsextremisten in gleicher Weise und die dann psychoanalytisch untersuchen würde, ich habe immer wieder mal Menschen selber in Behandlung gehabt, die mal zu so extremistischen Gruppen Kontakt hatten oder da selber auch drin waren, dann stellt man in einem hohen Maße fest, dass das tatsächlich Menschen sind, die sich sehr schwertun, eine eigene Orientierung zu finden und die selber einen sehr großen Selbstwertmangel haben und deshalb dann ihren eigenen Mangel in eine Gruppierung mit einem Führer am besten leben können. Und das führt natürlich dann zu einer ganz starken Ideologisierung und damit natürlich zu Einstellungen, die sich jedem vernünftigen Argument entziehen. Also wenn Sie heute zum Beispiel mit irgendeinem querdenkenden Menschen reden, der irgendwie sich einer Verschwörungstheorie zugeordnet findet, da werden Sie mit jedem noch so guten wissenschaftlichen Argument nicht landen. Dann wird immer wieder gesagt "Das ist die Lügenpresse, das sind falsche Studien" und alles Mögliche. Ich habe das oft schon erlebt, wenn dann zum Beispiel Eltern bei mir waren, es gab ja in den 70er, 80er Jahren diese New Age Bewegung auf Religion bezogen oder wenn sie dann so nehmen wie jetzt, das war jetzt noch mal auch im Fernsehen, in der Dokumentation Colonia Dignidad in Chile, wenn da Menschen gekommen sind und gesagt haben "Ja, meine, meine Tochter, mein Sohn sind jetzt in einer eine Sektenbewegung", die jetzt religiös [unverständlich], Scientology nehmen wir mal als Beispiel, da war mit vernünftigen Argumenten nichts zu machen, genauso wenig wie jetzt heute, bei diesen etwas abstrusen Positionen der Querdenker. Ich glaube, wir müssen davon ausgehen, dass sich dort immer wieder Menschen finden, die halt selber eine starke psychische Beeinträchtigung im Sinne ihrer eigenen Ichentwicklung, im Sinne ihres eigenen Selbstwertgefühls haben. Das wird man nicht verändern können. Und ich denke, dass wir, ähnlich wie wir eben in Gesellschaften davon ausgehen müssen, do und so viel Alkoholkranke gibt es, so und so viele dissoziale gibt es, so und so viel Schizophrene gibt, so und so viel, was weiß ich, Borderline Erkrankungen gibt, so viel, so viele Querdenker wird es auch geben oder so viele Extremisten wird es geben. Ich glaube Gesellschaften müssen lernen, dass es innerhalb dieser Gesellschaft selber ein großes Spektrum an unterschiedlichen Positionen gibt, die Prozentual von den Mathematikern längst berechnet wurde, die man akzeptieren muss. Und Veränderungen können sie immer nur im Einzelfall machen. Das ist gesellschaftlich nur sehr schwer möglich. Also ich glaube, auch bei Extremisten, oder ich kann es am ehesten natürlich auch von religiösen Menschen sagen, die da sehr fundamentalistisch denken oder gedacht haben, das ist nur im Einzelfall möglich, also nur im Einzelnen, im Dialog und mit sehr viel Zeit und sehr viel Geduld kann man dann so schrittweise was verändern, wenn man dann klargelegt hat, woher denn diese fundamentalistischen Theorien kommen, ob diese religiös oder politisch sind, ist jetzt völlig Egal. Ob dann der Betreffende dann da in der Lage ist, mal drüber nachzudenken, wo er das her hat, was das für ein Motiv ist, was da dahinter steckt, mit mit welchem Wunsch er vielleicht in einer Gruppe sein möchte, weil er sich sonst immer ausgeschlossen gefühlt hat. Also da sind viele solche Fragen und die lassen sich individuell ganz gut lösen. #01:20:25-9#
Dr. Anne Wasmuth: Das ist so eine schöne Perspektive zum Schluss, die einem selber hilft, in solchen Situationen oder in solchen Debatten, die man liest oder hört, vielleicht auch einen gelasseneren Blick zu entwickeln. Herr Deininger, wer gut zugehört hat im Podcast, hat ein bisschen gerechnet und fragt sich jetzt, oder ich frage Sie jetzt: Werden Sie je in Rente gehen? #01:20:50-0#
Prof. Dr. Bernd Deininger: Ähm, ja. Also mein Vertrag läuft jetzt Ende 2022 aus, da bin ich dann 76 und werde dann sechs Wochen später 77. Ich werde da natürlich nicht auf, nach meinem Kaffeetrinken mit dem Dackel spazieren gehen und auf mein Mittagessen warten. Ich werde auch nicht mit Enkelkindern am Boden herumkrabbeln und Lego legen oder in einem Kleingarten meine Dachrinne hin nageln. Ich werde natürlich weiter die Dinge tun, die mich interessieren und beschäftigen. Ich werde mich mit Grundfragen, mit Grundfragen auseinandersetzen. Ich schreibe zum Beispiel jetzt gerade ein neues Buch über die Unsterblichkeit. Einerseits, wie man das betrachten kann aus psychoanalytische Sicht und habe mich jetzt ganz aktuell mit der Frage beschäftigt, warum es überhaupt etwas wie Leben gibt und wie kann ich mir das vorstellen? Also mit solchen Dingen werde ich mich weiter beschäftigen. Ich werde mich natürlich auch mit der Seele des Menschen weiter beschäftigen, weil mich das fasziniert. Und ich bin sehr dankbar, dass ich auch diesen Beruf ergreifen dürfte. Also insofern werde ich dann gucken müssen, ob ich so, vielleicht ein paar Tage, halbtags zumindest noch ein paar Stunden machen, noch ein paar Gutachten mache und vielleicht auch noch Weiterbildung macht, das werde ich auf jeden Fall. Und ich habe tatsächlich auch Vorbilder. Also das eine, kürzlich, Hans Maier, der mal früher Kultusminister war, der jetzt seinen 90. Geburtstag gefeiert hat, las ich in der Züricher, ich habe die Züricher Zeitung abonniert, war eine schöne Spalte drin, dass er also immer noch jeden Samstag Orgel spielt. Ein großes Vorbild ist Jürgen Habermas, der letztes Jahr 90 wurde und noch dieses fantastische Werk geschrieben hat. Und auch eine Philosophie in zwei Bänden. Ganz toll. Dann war ich selber mit einem Philosophen enger bekannt, mit dem Hans-Georg Gadamer, der 1900 geboren ist, 2002 starb, und 1998, war ich mit ihm zusammen in Tutzing, einen freien Vortrag über die Auswirkungen der griechischen Philosophie auf die Moderne gehalten hat und bis zum Schluss fit war. Und dann noch jüngst Helmut Schmidt, der mit 96 noch die Zeit herausgab und ich mache ab und zu mal was für die Zeit und da hatte mich dann die Journalistin gefragt, was ich als Dank für den letzten Artikel will, den hatte ich ihm jetzt vor Ostern war das. Und dann wusste ich daher nichts Besonderes und hat sie ihm vorgeschlagen, sie würde eine Stunde von ihrer Zeit mit Helmut Schmidt erzählen, weil sie mit ihm sehr eng zusammengearbeitet hat. Und das hat sie dann auch gemacht. Und da habe ich mir dann auch noch mal so gedacht Mensch, bis zum Schluss aktiv sein, immer auch einen Plan haben, immer auch noch etwas wollen, immer auch noch Ideen zu entwickeln. Das werde ich hoffentlich nicht aufgeben. #01:24:03-6#
Dr. Anne Wasmuth: Also ich sehe ein ganz strahlendes Gesicht, was auf die nächsten Jahre, die nächsten Jahrzehnte blickt. Professor Deininger, vielen, vielen Dank. Sie haben so viele Termine, die Therapieplätze sind, sind so lange Wartelisten und Sie haben sich Zeit für dieses Gespräch genommen. Ich sag einfach nur ein ganz, ganz großes Dankeschön. #01:24:23-5#
Prof. Dr. Bernd Deininger: Ich bedanke mich ganz herzlich bei Ihnen für den netten Dialog, den wir miteinander geführt haben. #01:24:28-4#
Dr. Anne Wasmuth: Danke. #01:24:29-4#
Dieses Projekt/Diese Maßnahme/Initiative leistet einen wichtigen Beitrag, Nürnberg schrittweise inklusiver zu gestalten. Es/Sie ist Teil des Nürnberger Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Den Ersten Aktionsplan hat der Nürnberger Stadtrat im Dezember 2021 einstimmig beschlossen. Um die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit und ohne Behinderung in Nürnberg zu verwirklichen, wurden und werden umfangreiche Maßnahmen entwickelt und umgesetzt. Weitere Informationen finden Sie unter www.inklusion.nuernberg.de.

Der Theologe und Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychosomatische Medizin über späte Berufung, Grundfragen des Lebens und die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit.
Der umtriebige Mediziner, der als Koryphäe seines Faches gilt, gewährt im Podcast ganz persönliche Einblicke in sein Leben, seine Arbeit, sein Scheitern und seine Erfolge.
Der Chefarzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Krankenhaus Martha Maria spricht über seine eigenen Grenzen als Therapeut, den Umgang mit Patientenschicksalen und Fragen von Gerechtigkeit, Schuld und Moral. Dabei geht es immer wieder um Autonomie und Abhängigkeit, Macht und Machtmissbrauch, Schweigen, Scham und die Fähigkeit zum Dialog.
Als Vertrauensarzt der Evangelischen Kirche, Gutachter für die katholische Kirche und durch seine Tätigkeit als Supervisor im Recollectio-Haus in der Abtei Münsterschwarzach hat er eine Vielzahl von kirchlichen Amtsträgern und Theologen sowie durch Machtmissbrauch schwer traumatisierte Menschen in therapeutischen Prozessen begleitet. Durch seine psychoanalytische Sicht und therapeutische Erfahrung auf und mit Menschen, die zu Extremismen neigen wird deutlich: Menschen sind gesellschaftsbezogene Wesen, doch Einsicht oder Heilung geschieht nur auf individuellen Wegen.
Prof. Deininger ist Träger des Verdienstkreuzes am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.
Hier finden Sie Publikationen von Bernd Deininger.
-----
Aufgenommen am: Dienstag, 6. Juli 2021
Veröffentlicht am: Donnerstag, 5. August 2021
Moderation: Dr. Anne Wasmuth
Im Gespräch: Prof. Dr. Bernd Deininger
-----
Alle weiteren Folgen von KontaktAufnahme – der Podcast des Bildungszentrums Nürnberg finden Sie hier. Wir sind mindestens jeden zweiten Donnerstag mit einer neuen Folge online, manchmal öfters.
Wen sollen wir noch befragen - haben Sie Ideen und Anregungen? Oder möchten Sie Ihre eigenen „Glücksmomente“ (manchmal am Ende des Interviews zu hören) an uns schicken? Schreiben Sie uns an!