Dagmar Kiesel, was heißt es von der Diagnose Borderline betroffen zu sein?

KontaktAufnahme_Kiesel_final.mp3
Ansage: KontaktAufnahme. Der Podcast des Bildungszentrums Nürnberg. #00:00:10-9#
Anne Wasmuth: Herzlich willkommen zu einer neuen KontaktAufnahme. Mein Name ist Anne Wasmuth und ich spreche heute mit Dagmar Kiesel. Herzlich willkommen! #00:00:32-1#
Dagmar Kiesel: Guten Morgen, Frau Wasmuth. #00:00:34-4#
Anne Wasmuth: Ich sage mal in Auszügen, was Ihr offizieller Lebenslauf verrät. Sie sind in Nürnberg geboren, haben an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Philosophie, Evangelische Theologie und Neuere und Neueste Geschichte studiert, promoviert und habilitiert. Ihre Habilitation wurde mit dem Habilitationspreis des Universitätsbundes der FAU ausgezeichnet. Zusammen mit Dr. Cleophea Ferrari haben Sie die Leitung des Arbeitsbereichs Philosophie der antiken und arabischen Welt am Institut für Philosophie inne. Außerdem haben Sie immer wieder den Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie in Würzburg vertreten und arbeiten in der Erwachsenenbildung auch bei uns im Bildungszentrum, unter anderem im Studium Generale, daher kennen wir uns auch. #00:01:25-0#
Dagmar Kiesel: Genau. #00:01:25-8#
Anne Wasmuth: Und neben Ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit haben Sie letztes Jahr eine Ausbildung im psychotherapeutischen Bereich gemacht. Darüber wollen wir uns später auch ausgiebig unterhalten. Sie forschen und arbeiten also im Feld der Philosophie, Philosophie der Antike, Philosophie als Lebenskunst, Philosophie und Literatur und eben Philosophie und Psychologie. Ein Name zieht sich dabei durch Ihre Publikationsliste, Friedrich Nietzsche. An diesen großen Namen traue ich mich noch nicht heran. Ich versuche mich auch so gut es geht darum zu schummeln und ich versuche es mal durch die Hintertür und wir werden sehen, wie schnell wir dann doch bei Nietzsche landen. Sie haben viele Jahre bei der KinderUni Nürnberg mitgemacht und ein Titel ist mir sofort ins Auge gesprungen und zwar "Was ist Glück und wie werde ich glücklich?". Was für ein wunderbarer Vortragstitel! Bitte verraten Sie es, wie werde ich glücklich? #00:02:25-5#
Dagmar Kiesel: Oh je. Das ist tatsächlich eine ganz, ganz schwierige Angelegenheit. Also ein berühmter antiker Philosoph, ein Stoiker, nämlich Epiktet meint, wenn du glücklich werden willst, musst du Philosophie betreiben. Und wenn du Philosophie betreiben und lernen möchtest, glücklich zu sein, dann ist es eine Marathon Aufgabe. Ja, du musst dich auf dieses Glücklichsein vorbereiten und dazu Kompetenzen, Techniken, Fähigkeiten entwickeln, die ganz, die einfach viel Zeit brauchen. Ja, du musst dein ganzes Leben und Denken vermutlicherweise umstellen. Kurz gesagt eine kurze Antwort lässt sich nicht geben. Wer uns aber zum Thema Glück sehr viel zu sagen hat, das ist das gesamte Spektrum der antiken Philosophie. In der Antike verstand sich die Philosophie als Anleitung zur Lebenskunst, als Anleitung für ein glückliches Leben. In der Antike unterschied man zwischen der "Eutychia", das ist das Zufallsglück, das einem in den Schoss fällt, beispielsweise bei einem Lottogewinn oder wenn man durch Glück eine wunderbare Stelle bekommt, bei der man beruflich tätig sein kann, wenn man zufälligerweise dem richtigen Partner über den Weg läuft. Für dieses Glück kann man sehr wenig tun. Ja, das ist unserer Kontrolle entzogen. Aber es gibt noch eine andere Form von Glück, das ist die "Eudaimonia", damit ist das menschliche Erfüllungsglück gemeint. Zu diesem Erfüllungsglück können wir sehr wohl unseren eigenen Beitrag leisten, indem wir zum Beispiel unsere Überzeugungen und Grundannahmen über die Welt und die Dinge und über uns selbst reflektieren, eventuell korrigieren, wenn sie zum Beispiel falsch sind oder wenn sie uns unglücklich machen. Unser Erfüllungsglück können wir gestalten, indem wir lernen, unsere Emotionen zu regulieren, indem wir lernen, Resilienz zu entwickeln, das heißt uns vorzeitig darauf vorbereiten, wie könnte es sein, wie könnte ich reagieren, wenn schwierige, kritische Lebensereignisse in mein Leben einbrechen? Und all diese Dinge bietet tatsächlich die antike Philosophie in ihrem gesamten Spektrum? #00:05:08-9#
Anne Wasmuth: Das ist faszinierend. Kann man überhaupt Philosophie betreiben, ohne sich mit den Vorsokratikern auseinandergesetzt zu haben? #00:05:18-7#
Dagmar Kiesel: Ja, das kann man. Also früher war es tatsächlich so, dass diejenigen, die an der Uni gelehrt haben, ein ganz, ganz breites Wissen hatten, also sowohl was Allgemeinbildung generell anbelangt, als auch die Disziplin ihres je eigenen Faches. Das ist heute nicht mehr so, heute spezialisiert man sich sehr stark. Und obwohl ich jetzt persönlich auch schwerpunktmäßig antike Philosophie mach, neben Friedrich Nietzsche, habe ich mich tatsächlich mit den Vorsokratikern erst befasst, als Sie mich, liebe Frau Wasmuth, gebeten haben, im Studium Generale dazu einen Kurs anzubieten. Also auch da musste ich mich dann einlesen. #00:06:07-7#
Anne Wasmuth: Ja, klasse, dass Sie das dann gemacht haben. Ja das Glück, ich frage mich, sind gute Menschen glücklicher als Menschen, die böse sind, die Schlechtes tun? #00:06:24-0#
Dagmar Kiesel: Gut und Böse sind natürlich sehr harte und scharfe und rigide Kategorien. Es stellt sich natürlich auch die Frag, was verstehen wir unter einem guten Menschen, was verstehen wir unter einem schlechten oder unter einem bösen Menschen? Das kann man durchaus unterschiedlich definieren. Die Rede vom guten Menschen hat tatsächlich seit geraumer Zeit einen schlechten Ruf. Also jeder kennt die Vokabel Gutmenschm, also wenn wir jemanden als Gutmensch bezeichnen, meinen wir damit nicht, also das ist kein Lobpreis, sondern eher eine Abwertung. Ich glaube tatsächlich, dass, ich würde es jetzt nicht gute Menschen nennen, aber dass Menschen, die am Wohl anderer interessiert sind, ja, die anderen Menschen wohlwollend zugeneigt sind, die sich um Einfühlsamkeit, Verständnis und aktive Bereitschaft zur Unterstützung in Notsituationen bereit sind, die dazu fähig sind, die sich mit anderen auch mitfreuen können, also nicht nur da sind, wenn Leid zu beheben ist, sondern auch das Glück quasi zu teilen, dass die glücklicher sind als andere Menschen. Und das hat damit zu tun, dass wir, das wusste schon Aristoteles, dass wir Menschen soziale Lebewesen sind, ja. Wir sind zwar keine Herdentiere, aber wir sind auf die Gemeinschaft hin angelegt. Und so müssen auch unsere Fähigkeiten sein. Also um als Menschen überleben zu können, haben wir in der Evolution, aber auch noch heute, wir brauchen den anderen. Deshalb haben wir soziale Fähigkeiten, unter anderem Einfühlungsvermögen, Wohlwollen, Tendenz zu Fürsorge. Und diese Fähigkeiten und Vermögen, die können aber verschüttet gehen, ja, zum Beispiel durch fehlgehende, fehlgeleitete Erziehung oder vollkommen fehlende Erziehung oder Missbrauch, Vernachlässigung in der Kindheit, all diese Dinge gibt es und man kann diese Dinge aber auch wieder fördern, in sich kultivieren und stark machen. Man weiß das auch aus der sozialpsychologischen Forschung, dass Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, die viele positive soziale Kontakte haben, dass sie glücklicher sind, sogar auch gesünder sind und länger leben als Menschen, die das nicht haben. Also soziale Beziehungen sind tatsächlich, neben der Selbstliebe und der Selbstfürsorge die wichtigste Komponente für das menschliche Glück. Also das sind die Ergebnisse auch der Forschungen in der Sozialpsychologie. #00:09:14-7#
Anne Wasmuth: Hm, das ist jetzt interessant, weil Sie ehrenamtliche angesprochen haben, wir haben es ja auch gesehen, was für ein ehrenamtliches Potenzial in unserer Gesellschaft eigentlich vorhanden ist. Wir haben es 2015 gesehen und mich dann immer gefragt, wo waren diese Menschen vorher, was haben die gemacht und oder was haben sie nicht gemacht? Und ich frage mich das auch jetzt. Man hat noch das Gefühl, die Menschen sind noch so so eingekapselt manchmal. Wir gehen überhaupt nicht auf die Straße, um für Frieden zu demonstrieren. Wir sind in unserem privaten Zuhause immer noch, oder, das ist jetzt sehr subjektiv, meine Erfahrung aus dem Bekanntenkreis, dass jemand sagt, Mensch, mein Mann arbeitet bei der Feuerwehr und wir kriegen gar keinen Nachwuchs, also sozusagen für die Freiwillige Feuerwehr, solche ehrenamtlichen Kontexte kann man das durch die Philosophiegeschichte beobachten, dass es da so Wellen von Mitmenschlichkeit gibt, dass so Gesellschaften das mal mehr, mal weniger gut beherrschen oder eben verlernt haben. #00:10:16-0#
Dagmar Kiesel: Das ist so eine interessante Frage, die ich Ihnen tatsächlich nicht beantworten kann. Also da fehlen mir, fehlt mir das Wissen dazu, ich habe gar keinen Zugriff auf einschlägige Studien. Ich bin mir auch nicht ganz sicher, ob die Analyse so stimmt, dass wir weniger im Ehrenamt tätig sind. Es kann durchaus sein, dass so die klassischen Ehrenämter, Sie haben jetzt die Freiwillige Feuerwehr genannt, dass die vielleicht nicht mehr so gang und gäbe sind wie früher. Und zugleich ist es ja schon so, dass wir jetzt im Zuge des Ukrainekriegs eine ganz, ganz massive Ehrenamtsbewegung haben, also ganz viele Freiwillige, die hier unterstützend tätig sind, die ukrainische Flüchtlinge bei sich aufnehmen, ihnen Wohnung und Herberge geben oder die in der Organisation in diesem Bereich tätig sind, also da wird wirklich ganz, ganz viel getan. Wir sind im Übrigen auch als Staat bereit, hier sehr viele Gelder und sehr viel Engagement und Arbeitskraft hinein fließen zu lassen und damit der Staat das tun kann, muss auch die gesellschaftliche Bereitschaft dazu da sein, ja, das sind ja alles unsere Steuergelder, die hierfür verwendet werden. Und da gibt es bislang zumindest noch große Unterstützung. Und wir haben auch Ähnliches gesehen während der Flüchtlingskrise aus dem Nahen Osten, also viele Leute haben Sprachunterricht gegeben, ehrenamtlich, sich in Fahrradwerkstätten für Flüchtlinge engagiert und vieles mehr. Und ich sehe es auch an meinen Studierenden, wenn sie von mir ein Empfehlungsschreiben möchten für Stipendien oder ähnliches, frage ich immer nach, "Machen Sie auch ein Ehrenamt?", ja. Und ich bin überrascht, da kommt immer etwas. #00:12:07-2#
Anne Wasmuth: Oh, wie schön. #00:12:08-7#
Dagmar Kiesel: Ja. #00:12:10-8#
Anne Wasmuth: Dann ist das vielleicht tatsächlich nur eine Frage der Wahrnehmung oder wie das auch medial verbreitet wird. Ja, Glücksforschung ist das eine, in Ihrer Publikationsliste kann man auch ablesen, Ihr Plädoyer für Mitmenschlichkeit eben auch zum eigenen Glück. Ist Ihnen das selber immer gelungen, in der Praxis umzusetzen? #00:12:34-0#
Dagmar Kiesel: Also Mitmenschlichkeit war tatsächlich für mich lange Zeit ein schwieriges Problem, weil ich immer Angst hatte, also war eine meiner großen Ängste tatsächlich, so Fürsorge und Wohlwollen, also Wohlwollen schon, aber wie aktualisiere ich, wie verwirkliche ich dieses Wohlwollen, das ich zwar innerlich habe, aber wie mache ich das so, dass es dem anderen wirklich zugute kommt und nicht irgendwie aufdringlich ist oder dem anderen schadet? Es war eine meiner Grundängste, Menschen zu schaden und das hat mich tatsächlich auch gehindert in sozialen Kontexten. Ja, das hat sich zum Glück geändert, wir werden daraufhin wahrscheinlich zu sprechen kommen. Was die Sache mit dem Glück anbelangt, da habe ich tatsächlich auch sehr viel von der von der antiken Philosophie profitiert, dank meines akademischen Lehrers Maximilian Forschner, der mich in die antike Philosophie eingeführt hat und, ja, und dann, darauf wollen Sie vielleicht auch hinaus, hat mir tatsächlich auch die Psychotherapie geholfen, insbesondere die dialektische Verhaltenstherapie nach Marsha Linehan. #00:13:48-0#
Anne Wasmuth: Ja, genau, es bewegt sich in die Richtung, Sie haben es gemerkt, nämlich das Gespräch, das wir heute führen, wollte ich schon vor einem Jahr mit Ihnen machen und da konnten Sie nicht, da Sie sozusagen die Schulbank gedrückt haben, Sie haben sich zum DBT-Peer-Coach ausbilden lassen. Coach verstehe ich, quasi eine Trainerin, Peer kann ich mir auch noch ableiten im Sinne von gleichrangig und das heißt in dem Zusammenhang, Sie waren selber, oder sind von der Diagnose Borderline betroffen. Wie haben Sie das für sich selbst gemerkt, hier stimmt was nicht? #00:14:28-9#
Dagmar Kiesel: Ähm, diesen Eindruck, mit mir stimmt etwas nicht, oder ich reagiere anders als andere, ich habe auch ein anderes Denken, also andere Grundüberzeugungen als andere, das, ich möchte nicht sagen, das war mir schon immer bewusst, denn als Kleinkind ist man natürlich nicht reflektiert. Aber mir ist natürlich aufgefallen, dass ich im Leben Probleme hatte, also mit der Affektregulation im zwischenmenschlichen Bereich, was mein Identitätsgefühl anbelangt, das habe ich wohl gemerkt. Auch bestimmte Verhaltensweisen erschienen mir irgendwie als nicht normal. Und ich hatte aber Schwierigkeiten, psychotherapeutische Hilfe mir zu suchen, um mich zu öffnen oder überhaupt zu wissen, was mit mir los ist. Als es mir dann 2007 sehr schlecht ging, habe ich dann therapeutische Hilfe gesucht und bekam diese Diagnose Borderline. Und das war für mich tatsächlich ungeheuer hilfreich, weil mir die Diagnose geholfen hat, mich selber zu verstehen. Es hat mir gezeigt, dass ich nicht alleine bin in dem, wie ich so bin und die Welt und mich selbst erfahre, sondern dass es auch andere gibt und vor allen Dingen, dass es Möglichkeiten gibt, dieses Krankheitsbild, die eine Störung der Persönlichkeit darstellt, auch zu therapieren und zwar sehr erfolgreich zu therapieren, nämlich mit der dialektischen Verhaltenstherapie nach Marsha Linehan. #00:16:06-0#
Anne Wasmuth: Ja, darauf komme ich später noch zu sprechen. Mich würde noch interessieren, Sie sagen ja, als Kind ist man nicht reflektiert. , ist Borderline dann eine Krankheit, die einen von Anfang an irgendwie begleitet, die also mehr genetisch angelegt ist oder sich irgendwann ins Leben schleicht oder mit einem Knall da ist? #00:16:25-8#
Dagmar Kiesel: Zur Ätiologie, das heißt zur Entstehung der Borderline-Störung gibt es tatsächlich verschiedene Hypothesen. In der DBT vertreten wir das sogenannte Bio-Psycho-Soziale Modell. Das heißt, wir gehen davon aus, dass ein bestimmter Teil der Störung genetisch bedingt ist, das heißt eine emotionale, eine affektive Hypersensitivität, also dass Gefühle stärker erlebt werden, intensiver sind und auch länger andauern. In den meisten Fällen kommt aber auch noch eine ungünstige familiäre Situation dazu, also das kann von normalen Invalidierungen im Elternhaus, von Vernachlässigung, emotionaler Missbrauch, sexueller Missbrauch, körperlicher Missbrauch, all diese Dinge, das kann alles aufgetreten sein, muss aber nicht. Also meiner Erfahrung nach gibt es da eine ganze Breite. Es gibt tatsächlich Patient*innen, die haben keine sonderlich ungünstigen Elternhäuser, sondern es ist eigentlich alles ganz normal gelaufen, aber sie haben eben diese starke affektive Hypersensitivität mitgebracht. Und es gibt Patient*innen, die haben tatsächlich ganz, ganz schwere Traumata in der Geschichte und hätten wohl diese Störung niemals bekommen, wenn sie nicht in diesen Kontexten großgezogen, oder groß geworden wären. #00:17:51-8#
Anne Wasmuth: Wir haben jetzt sozusagen über Ursachen gesprochen, woher es kommt. Wie äußern sich Symptome oder was sind Symptome dieser Krankheit? #00:18:02-0#
Dagmar Kiesel: Also die drei wichtigsten Merkmale der Borderline Persönlichkeitsstörung sind die Instabilität in der Affektregulation, Instabilität im Selbstbild und Instabilität in den sozialen Beziehungen. Was die Affektregulation anbelangt, ich habe schon gesagt, stärkere, intensivere und länger dauernde Gefühle. Und das betrifft sowohl und das ist die gute Sache an Borderline, das betrifft sowohl die schmerzhaften, die aversiven Affekte als auch die positiven Affekte. Ja, und schmerzliche Gefühle, wenn sie verstärkt auftreten und wenn auch verschiedene unterschiedliche, widersprüchliche Gefühle zusammen auftreten, dann versetzt das die Patientinnen, den Patienten in große Spannungszustände und diese Spannungszustände werden dann häufig gelöst durch Hochrisikoverhalten oder durch Selbstverletzungen, also Selbstverletzungen haben tatsächlich einen beruhigenden, einen entlastenden Effekt. Der zweite Störungsbereich, die Störung in den sozialen Beziehungen. Borderline Betroffene haben ein Nähe-Distanz-Problem, sie können Nähe und Distanz ganz schwer regulieren, was für die jeweiligen Partner oder Freunde sehr, ja, irritierend sein kann, es ist schwierig, dann damit umzugehen. Borderline Patienten und Patientinnen erwarten häufig, dass sie in sozialer Hinsicht zurückgewiesen werden, also sie haben eine entsprechende Erwartungshaltung, die sie dann auch bestätigt werden. Es ist fast immer so, dass Borderline Patienten und Patientinnen den Eindruck haben, wenn sie in eine Gemeinschaft neu kommen "Oh die mögen mich nicht". Und entsprechende Signale werden dann auch häufig überbewertet. Sie haben Schwierigkeiten, manchmal wahrzunehmen, wie ihr Verhalten selbst von anderen wahrgenommen wird, weil sie glauben, dass andere Menschen nicht ihr Verhalten bewerten, sondern ihre Intentionen, ihre Absichten. Das ist nachvollziehbar, so ist es aber tatsächlich nicht. Und all diese Dinge machen natürlich das soziale Miteinander schwer. Der dritte Bereich, Störungen im Selbstbild. Borderlinebetroffene fühlen sich häufig oder haben häufig Zustände ganz schmerzhafter innerer Leere einerseits, oder aber sie fühlen sich innerlich fragmentiert, sie fühlen sich gespalten, sie neigen zur permanenten Selbstabwertung und zwar egal, was sie in sich betrachten oder wofür sie sich entscheiden, alles ist irgendwie falsch, ja, in ihnen ist alles falsch, sie sind irgendwie falsch, sie fühlen sich nicht mit sich selbst verbunden, nicht mit anderen verbunden, sie haben das Gefühl, keinen inneren festen Kern zu haben, an dem sie sich festhalten und orientieren können, sondern Ihr selbst fließt quasi aus, ja, oder ist zerstückelt. Sie sind sehr abhängig von der Meinung anderer, das heißt, sie sind eben so wie andere Menschen sie sehen, ja. Und da man natürlich unterschiedliche Feedbacks von unterschiedlichen Menschen in unterschiedlichen Kontexten kommt, wissen sie dann nicht, wer bin ich wirklich? So wie X sagt, dass ich bin oder so, wie Y sagt, dass ich bin? #00:21:38-2#
Anne Wasmuth: Das hört sich unglaublich anstrengend an und auch unglaublich traurig. Ich stelle mir vor, dass man dann ja, dann liegt so eine Depression ja auch nicht weit weg, also eine Folgeerkrankung dann, oder? #00:21:52-3#
Dagmar Kiesel: Genau. Also Depression ist eine ganz, ganz häufige Komorbidität. Also fast alle Borderline Patientinnen und Patienten machen depressive Phasen durch. Das kann sich natürlich auch chronifizieren und Sie haben das wunderbar gesagt, Frau Wasmuth, das hört sich schlimm an und genau das ist, was jeder Therapeut, der, jede Therapeutin, der oder die mit Borderline Patient*innen zusammenarbeitet, auch wissen muss, ja. Es ist für die Patient*innen erstmal eine ausweglose Situation, ja und eine der Grundannahmen, die jeder DBT Therapeut für sich annehmen muss, sonst kann er nicht DBT machen ist die Borderline Patienten und Patientinnen müssen in allen Lebensbereichen neues Verhalten, neues Denken lernen. Also diese Störung durchzieht sich wirklich durch alle Felder des Menschseins. Und dessen muss man sich bewusst sein, sonst wirkt es häufig so, wenn Patientinnen und Patienten nicht gleich auf therapeutische Angebote positiv reagieren oder meinen das bringt doch alles nicht. Das ist tatsächlich der Grund dafür, liegt darin, dass es so viele Gebiete gibt, auf den Borderliner neues lernen müssen. Und wenn man nur auf einem Gebiet neues Verhalten oder neues Denken lernt, also zum Beispiel in der sozialen Kompetenz, bedeutet das noch nicht, dass man in der Lage ist, stresstolerant zu sein oder achtsam zu sein oder seine Emotionen regulieren zu können. Und dann haben Patient*innen schnell den Eindruck, das bringt doch alles nichts. #00:23:31-6#
Anne Wasmuth: Es hört sich ja für mich auch so an, dass selbst so ein ganz simples Einkaufen beim Bäcker eine Herausforderung sein kann. Also wenn da jetzt eine Verkäuferin oder ein Verkäufer einen, der hat vielleicht selber einen schlechten Tag und guckt einen komisch an, dass man sich dann schon irgendwie ganz verunsichert fühlt, oder wie ist das so im Alltag? Also vielleicht können Sie so einen Einblick in die damals akute Phase Ihrer Krankheit geben. Wie war das, wie sehen Sie das jetzt auch mit Abstand auf diese akute Phase Ihres Lebens? #00:24:03-9#
Dagmar Kiesel: Ähm, ich überlege gerade, wie ich darauf jetzt antworten soll, ohne dass es irgendwie zu persönlich wird, aber auch nicht so abstrakt. Für mich war das Hauptproblem zunächst in einer Beziehung, also speziell in der Partnerbeziehung, zu vertrauen. Also Vertrauen darauf, dass mir da nichts Böses widerfährt, Vertrauen darauf, dass mein Partner bei mir bleiben wird, ja und ich habe auf alle Signale, die, mein Mann schaut mal eine andere Frau länger an, ja, oder mein Mann hat auch mal etwas anderes Wichtiges zu tun, außer mir zum Beispiel die Wohnung zu renovieren, ja, habe ich damals tatsächlich als massive Abweisung empfunden. Im Nachhinein ist mir das auch wirklich peinlich. Ich denke mir okay, wie konntest du so selbstzentriert sein? Ja, also diese permanente Angst, der andere könnte einen verlassen, ja, mein Partner könnte mich verlassen. Diese Angst, alleine bin ich nicht lebensfähig, ich brauche aber meinen Partner, ich brauche den anderen, damit ich überhaupt ein Gefühl von Sicherheit habe. Zugleich kann ich mir nie sicher sein, dass er auch wirklich da ist, verbunden mit der Angst, ich könnte anderen Menschen schaden, ich könnte meinem Partner schaden, ich habe meinem Partner auch geschadet. Also unsere Differenzen waren teilweise sehr handgreiflich und sehr emotional. Und der wichtigste Punkt war eben für mich so, also was ich so als äußerst belastend auch empfunden haben hab neben der Beziehungsgeschichte, dass ich meinen eigenen Einschätzungen und Wahrnehmungen und meinem eigenen Urteil, auch meinem moralischen Urteil nicht vertraut habe. Also alles was von mir kam, wurde irgendwie als ungültig von mir selbst bewertet. Und dann ist es natürlich schwierig, ein kohärentes und konsistentes und auf Dauer angelegtes Wertesystem zu haben, ja. Oder Selbst wenn ich weiß, was meine Werte sind, nämlich Mitmenschlichkeit, Zuwendung, wie setze ich die um, ja und da hat es mir gefehlt. Tatsächlich, ich wusste nicht, wie das geht. Das war für mich sehr schmerzhaft. Ich habe mir immer Rat gesucht, auch bei der Erziehung meiner Kinder und du hörst da ganz unterschiedliche Ratschläge, von man darf Kinder überhaupt nicht schreien lassen, bis zu zwei Stunden schreien lassen geht schon mal, ja. Und diese Hilflosigkeit und diese Ohnmacht, das, was ich doch eigentlich möchte, also ein gutes Leben selbst zu führen und für andere auch wohlwollend und fürsorglich da zu sein. Diese Kluft zwischen Wollen und Können, das empfand ich als äußerst belastend. #00:26:51-7#
Anne Wasmuth: Hm, ich habe in der Recherche einen Satz gelesen, der passt vielleicht darauf ganz gut von Betroffenen, die sagen, es geht nicht mit anderen und es geht nicht ohne andere. In diesem Satz schwingt ja ganz viel das Thema Aufbau, Distanz und Nähe mit. #00:27:09-7#
Dagmar Kiesel: Ja, wobei ich sagen muss, dass ich das, also wenn Sie fragen, wie war das persönlich bei mir, dieses Nähe-Distanzproblem hatte ich tatsächlich vorrangig in der Beziehung zu meinem Mann, was andere soziale Beziehungen, unter anderem Freundschaften anbelangt, Nähe-Distanz war insofern ein Problem, als ich mir Nähe gewünscht habe im Sinne von "Wir sind Freunde, haben ganz ähnliche Werte, enttäuschen einander nicht", also da bietet dieser Gedanke, jemand anderes kann enttäuschen und gleichzeitig ist es natürlich so, dass Menschen eben Menschen sind und ihre guten Seiten haben, ihre weniger schönen Seiten, ja wunderbare Charaktervorzüge und auch manche Charakterschwächen. Und das ist ganz normal, das hat jeder von uns. Und mir ist es schwergefallen, wie anderen Betroffenen auch, zu akzeptieren, wenn da mal ein kleinerer Vertrauensbruch war oder diesen Vertrauensbruch auch zu reparieren. Und das macht natürlich, wenn du immer so ein Auge hast, wie agiert der andere, ist es jetzt auch einer, vor dem du Angst haben musst, vor dem du dich fürchten musst, oder es ist jemand, dem du vertrauen musst, dann legst du jedes Wort auf die Goldwaage. Und über das eigene Verhalten ist man sich dann auch unsicher und dann werden soziale Beziehungen wahnsinnig anstrengend. Deshalb neigen auch Betroffene häufig dazu, sich innerlich zurückzuziehen. Und gleichzeitig wissen sie aber, oder meinen sie auch "Ich brauche doch den anderen", ja, "Ohne den anderen kann ich nicht, bin nicht lebensfähig" und so kommt es eben zu permanenten Schwankungen zwischen Nähe und Distanz. #00:28:51-9#
Anne Wasmuth: Auf dem Papier haben Sie einen sehr geradlinigen Lebenslauf. Sie sind sehr produktiv. War das immer möglich, auch so ein ganz normales Alltagsleben? #00:29:04-5#
Dagmar Kiesel: Nein, das war so nicht immer möglich. Es gab tatsächlich Zeiten, da habe ich Schule geschwänzt oder Arbeiten leer abgegeben wurde dann auch zur Direktorin zitiert, "Ja, Frau Giese, aus Leuten wie Ihnen wird nie was werden" und ich habe genickt und gedacht, ja, das weiß ich auch. Also ich spreche das aus und nehme das auch so wahr, nur ich gebe mir noch so große Mühe, ich weiß nicht, wie es geht. Ja, ich weiß nicht einfach, ich weiß einfach nicht, wie es geht, ein Leben zu führen. Und es ist auch tatsächlich so, die doch recht vielen Publikationen, die ich hab, stammen tatsächlich aus der Zeit nach meiner Promotion und nach meiner Therapie. Also Ende meiner Promotion habe ich die Therapie gemacht und danach ging es auch wirklich, ja und die Zeit vorher, ich habe ja schon immer mit Kind studiert, also früh unseren ersten Sohn Raphael bekommen und habe ein absolutes Schmalspurstudium hingelegt. Für mich war eigentlich nur noch die Beziehung, die Familie, Kind, das Kind das Wichtigste. Und auch promoviert habe ich außerhalb der Uni. Und während der Zeit habe ich tatsächlich fachlich wenig gelernt und ich habe das dann alles nachholen müssen nach meiner Promotion, als ich dann eine Anstellung an der Uni bekommen habe und habe das aber auch lernen dürfen und ich hatte großen Spaß dabei, große Freude. Also ich war da wirklich intrinsisch motiviert oder bin intrinsisch motiviert, was die Philosophie anbelangt. Und dann ging es dann auch schnell. Ich habe dann auch gelernt, wie man ein erfülltes Leben führen kann. #00:30:48-6#
Anne Wasmuth: Es hört sich schön an, davon wollen wir noch hören, aber trotzdem muss ich fragen, Sie haben es gesagt, 2007 war der Zeitpunkt, dass Sie sich professionelle Hilfe geholt haben. Wie haben Sie ganz konkret Hilfe erfahren? #00:31:05-3#
Dagmar Kiesel: Also das Erste, was tatsächlich hilfreich für mich war, war die Diagnose. Ich konnte mich einlesen und ich habe mich sofort verstanden gefühlt, so bin ich. Was dann wenig hilfreich war, meine ersten drei Therapieversuche, die teilweise auch an meinem eigenen Verhalten gescheitert sind, also einer meiner damaligen Grundannahmen oder Glaubenssätze war, als ich noch erkrankt war, ich darf nichts Gutes von mir denken. Wenn ich nichts Gutes von mir denken darf, dann darf ich auch nichts Gutes von mir sagen. Und ich habe mich also bewusst in einem schlechten Licht dargestellt und das hat auch sehr gut funktioniert. Und dann bestimmte Dinge aus dem eigenen Erleben und aus den eigenen Erfahrungen zu berichten, ich möchte nicht ins Detail gehen, ist einfach schwer und es ist immer ein Risiko. Wie reagiert der andere? Und da hatte ich große Schwierigkeiten, das zu kommunizieren und habe dann erst das Vertrauen ausgetestet, ist der andere vertrauenswürdig und das ist gescheitert. Bis ich dann zu einer Therapeutin nach Erlangen kam. Ich habe einen Zuschlag bekommen für die ambulante DBT Therapie im Nürnberger Klinikum Nord und dazu brauchte ich aber eine begleitende Einzeltherapie und ich rief sämtliche Therapeut*innen durch in Erlangen und eine, die meinte dann tatsächlich "Ach Borderline, die mache ich am liebsten!" #00:32:47-6#
Anne Wasmuth: Echt? #00:32:48-2#
Dagmar Kiesel: Und da habe ich gedacht "Super, das sind super Voraussetzungen". Und da hat es dann tatsächlich auch geklappt. Also das Wichtigste war tatsächlich, sie hat mir geglaubt, also sie hat mir meinen, meine Erfahrungen, die ich ihr so berichtet habe, die hat sie ernst genommen, die hat sie geglaubt, mir Bücher zum Thema lesen, also ich möchte jetzt nicht genau sagen, was das alles war, aber Bücher zum Thema dann zu lesen gegeben und da habe ich mich einfach verstanden und aufgehoben gefühlt. Das war ganz wichtig. #00:33:21-7#
Anne Wasmuth: Ja, aber das zeigt, wie wichtig das ist, dass man eben auf einen den richtigen oder kompetenten Therapeuten auch trifft. Also der auch das Krankheitsbild kennt und versteht und auch weiß, ja, die sind mir die liebsten, das heißt ja, sie weiß, sie kann was bewirken, auch ne? Sie haben es vorhin gesagt... #00:33:42-3#
Dagmar Kiesel: Tatsächlich ganz wichtig, wenn ich Sie da unterbrechen darf. Bei Borderline ist es ganz wichtig, dass man nicht irgendwie so therapiert, sondern eine störungsspezifische Behandlungsform wählt. Also entweder die dialektische Verhaltenstherapie oder die mentalisierungsbasierte Therapie oder Schematherapie nach Young. Das sind die drei Therapieformen, die für die Borderline Persönlichkeitsstörung sehr gut evaluiert sind und auch wirklich hilfreich sind. #00:34:11-7#
Anne Wasmuth: Borderline ist per definitionem eine Persönlichkeitsstörung, Sie haben es gesagt. Das heißt, diese Krankheit greift einen Menschen eben ganz grundsätzlich an, das haben Sie ja sehr eindrücklich geschildert. Im Zusammenhang von ADHS Bei Erwachsenen habe ich gelesen, dass Betroffene sich auch die Frage stellen, wer bin ich eigentlich, Sie haben das auch schon gesagt, was macht mich aus? Also im Falle von ADHS geht eine erhöhte Kreativität mit einher, sehr intensives Empfinden. Und wer sich behandeln lässt, der büßt etwas ein. Also der hat einen Bestandteil von dem, von dem er dachte, das bin ich, der ist dann auf einmal weg. Und dann steht ja doch einfach die Frage "Was bin ich? Was macht mich aus?". Deshalb zwei Fragen auf einmal. Erstens, wie haben Sie das erlebt, war und ist für Sie Borderline klar abgrenzbar als Krankheit? Beziehungsweise anders gefragt. Zweitens, wie haben Sie Ihre, in Anführungsstrichen "ungestörte Persönlichkeit" gefunden, wie wussten Sie, wer Sie sind? #00:35:13-1#
Dagmar Kiesel: Ist Borderline klar abgrenzbar von anderen Krankheiten, Sie haben gerade ADHS genannt, das ist tatsächlich eine häufige Komorbidität. Also Borderline Betroffene leiden signifikant häufiger gleichzeitig unter ADHS als andere Bevölkerungsgruppen. Sie haben genannt Kreativität als auch als Beispiel für ADHS, das ist tatsächlich auch bei Borderline Betroffenen, also Borderline Betroffene sind häufig sehr kreativ auf den verschiedensten Bereichen. Das kann Musik sein, das kann Kunst, das kann Literatur sein, das kann auch was Intellektuelles sein. Also das haben tatsächlich ganz, ganz viele. Und Abgrenzungen sind auch schwierig, zur komplexen posttraumatischen Belastungsstörung. Es gibt auch Forscher und Forscherinnen, zum Beispiel Judith Herman, die den Begriff der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung auch geprägt hat, die meint Borderline ist tatsächlich nichts anderes als eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung. Das teile ich nicht, weil es auch eben Borderline Betroffene ohne traumatische Erfahrungen gibt, ja, aber die Symptomatik ist ganz ähnlich. Überschneidungen gibt es tatsächlich auch zu Störungen aus dem Autismusspektrum, also Asperger Störungen zum Beispiel, Tics, Schaukeln zur Selbstberuhigung, Schwierigkeiten in den sozialen Kontakten, Selbstverletzungen also das können Menschen auch haben bei einer Asperger Störung, aber das lässt sich relativ gut dann diagnostisch, wenn man näher draufschaut, unterscheiden. Und wie war jetzt noch mal die zweite Frage? #00:37:10-2#
Anne Wasmuth: Wie man sagen kann, was ist tatsächlich meine Persönlichkeit? Wenn ja eigentlich die Krankheit vorher die eigene Persönlichkeit ausgemacht hat, Sie haben es ja auch gesagt, das hat ja auch positive Anteile gehabt, indem Sie das, was gut war in Ihrem Leben besonders intensiv positiv erfahren haben. Wenn das plötzlich wegfällt, also was bleibt dann, so was tritt an diese Stelle? #00:37:32-9#
Dagmar Kiesel: Ja, es ist interessant, Frau Wasmuth, aber Sie stellen so kluge Fragen, es ist so, als hätten Sie, also, Sie haben wahnsinnig viel Einfühlsamkeit, tatsächlich für das Erleben von Borderline Patient*innen. Dieses Problem haben ganz, ganz viele Patient*innen, dass sie an ihrer Krankheit festhalten, weil die Identität so wenig konsolidiert ist, ja, die eigene Identität, dass quasi die Krankheit das Einzige ausmacht, was sie eigentlich sind. Ich bin meine Krankheit, ja. Und durch meine Krankheit erfahre ich auch Aufmerksamkeit, ja, ich erfahre Zuwendung, ich kann immer mal wieder in die Klinik gehen, da weiß ich, da habe ich eine gewisse Sicherheit, einen strukturierten Tagesablauf, da kümmert sich jemand. Und in meiner eigenen Störung, da kenne ich mich irgendwie aus, ja, das bin ich. Und ganz, es ist ein ganz schwieriger Prozess für viele Patient*innen, davon loszulassen und dann sich langsam anzunähern, wer bin ich überhaupt? Dazu braucht es Achtsamkeit. Achtsamkeit ist das Gewahr werden des gegenwärtigen Augenblicks, auch das Gewahr werden des eigenen Selbst, ohne ein Urteil zu fällen. Und Achtsamkeit ist eines der fünf Module in der dialektischen Verhaltenstherapie. Das lernen Patientinnen und Patienten ganz, ganz intensiv, ihre Achtsamkeit zu schulen. Und Achtsamkeit schult auch nicht nur die Verbundenheit mit anderen, denen man sich aufmerksam zuwenden kann, sondern auch die Verbundenheit mit dem eigenen Selbst. Und das ist ein Prozess, der dauert lange. Das geht nicht von heute auf morgen, und da passieren auch viele Rückschritte, aber es geht, es funktioniert. Was mich anbetrifft, ich selbst war nie stationär in Therapie. Dadurch, dass ich die Diagnose auch so spät bekommen habe, hatte ich diese Borderline Identität nicht und gewisse Dinge waren mir tatsächlich schon immer wichtig. Also Philosophie, Spiritualität, Religion. Ja, dafür habe ich schon immer richtig gebrannt, mit aller Leidenschaft, schon als Teenager, das ist mir einfach, da wusste ich ganz klar, das bin ich, ja. Natürlich, ich hatte ja früh Familie, mein Partner, meine Kinder, die gehören zu mir, die sind mir ganz wichtig, da habe ich meine Bindungen, ja und halt auch tatsächlich, dass ich so diesen Wunsch hatte, etwas Gutes in die Welt zu bringen. Wusste zwar nicht, wie es geht, habs auch tatsächlich nicht gekonnt, aber dieser Wunsch war da. #00:40:17-5#
Anne Wasmuth: Ja, das ist die Hauptsache, dass das schon mal da ist, die Voraussetzung. Ich glaube, jetzt ist doch der Zeitpunkt gekommen, noch einmal, oder noch einmal ist gut, überhaupt auf Nietzsche zu kommen. Nietzsche ist berühmt und berüchtigt. Viele Zitate sind von ihm im Umlauf, zum Beispiel "Gott ist tot, und wir haben ihn getötet". Giorgio Colli, der Mitherausgeber seiner Werke warnte: "Nietzsche hat alles gesagt und das Gegenteil von allem". Ihre Habilitation trägt den Titel: "Perspektiven personaler Identität in der christlichen Spätantike und bei Friedrich Nietzsche". Also da haben wir das Stichwort personale Identität. Was sagt Nietzsche zu diesem Thema? Oder ist er deshalb so Ihr Forschungsschwerpunkt geworden? #00:41:08-2#
Dagmar Kiesel: Genau. Genau. Nietzsche hat viel zu sagen zum Thema personale Identität. Was er nicht sagt, ist wie ein gutes Selbstverständnis, ein guter Umgang mit dem eigenen Selbst, eine sichere, eigene Identität, dass ich sagen kann, wer bin ich und wer bin ich nicht. Dazu sagt er sehr wenig. Er sagt aber ganz viel darüber, wie eine gespaltene, eine fragmentierte Identität aussieht. Sie haben gerade eben Giorgio Colli zitiert, können Sie das Zitat noch mal wiederholen? #00:41:43-2#
Anne Wasmuth: Er sagte "Nietzsche hat alles gesagt und das Gegenteil von allem". #00:41:47-4#
Dagmar Kiesel: Genau, "Nietzsche hat alles gesagt und das Gegenteil von allem". Nietzsche scheint auf den ersten Blick ein sehr widersprüchlicher Denker zu sein, ja. An einer Stelle sagte das eine, an anderer Stelle sagt er das Gegenteil. Und eigentlich ist das für einen Philosophen ein sehr schlechtes Zeichen, denn von einem philosophischen Denker erwartet man Systematik, Kohärenz, Konsistenz, ja also ein philosophisches System, das in sich widerspruchsfrei ist. Und Nietzsche ist nicht aus mangelndem philosophischen Vermögen inkohärent, sondern Nietzsche betreibt Experimentalphilosophie, und er betreibt eine perspektivistische Philosophie. Was heißt das, perspektivistische Philosophie? Nietzsche geht davon aus, dass wir bei unseren Überzeugungen über die Welt und bei unseren Überzeugungen, über die Moral, über das Gute und das Böse etc. häufig von eigenen Interessen, Bedürfnissen geleitet sind, ja, also die Art und Weise, wie wir die Welt sehen, hat etwas damit zu tun, wie wir in unserer Persönlichkeit gestrickt sind. Beispiel: Alle Kirchenlehrer lesen dieselbe Bibel, ja, sie kommen aber zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen. Also, Origenes zum Beispiel, ein Kirchenlehrer, ist der Auffassung, dass es am Ende eine Allversöhnung Gottes mit allen Lebewesen, mit allen Menschen geben wird. Also keiner wird in der Hölle enden, ja. Und Tertullian, ein anderer Kirchenlehrer, ist der Auffassung, ja, die Hölle, die gibt es sehr wohl, ja und alle Bösen, alle großen Könige, die machtvollen Könige und die Philosophen, die alles besser wussten, ja, die sitzen dann in der Hölle und schmoren und braten und wir seligen, wir gucken zu und freuen uns. Das sind natürlich ganz andere Modelle und Nietzsche stellt sich die Frage, wenn die dieselbe Bibel gelesen haben, wie kommen Sie dann zu so unterschiedlichen Ergebnissen? Sagte Naja, der eine, der Origenes, das war halt ein sehr empathischer, ein freundlicher und wohlwollender Mensch, der kann sich das nicht vorstellen, dass Gott am Ende möchte, dass alle, dass ein Teil seiner Menschen verdammt wird. Und der Tertullian der war halt von Rache beseelt, ja, das war ein Denker des Ressentiments gegen die Starken und Machtvollen. Nun ist das Problem, wenn jemand der Auffassung ist, dass bei unseren Überzeugungen, auch bei unseren philosophischen Überzeugungen, immer unser Inneres und unsere Bedürfnisse, unsere Triebe und Affekte eine Rolle spielen, dann überlegt man sich natürlich auch Ja, wie ist das bei mir? Und genau das tut Nietzsche. Er stellt also alles, er misstraut seinen eigenen Überlegungen, stellt alles, was er denkt, in Frage durch eine andere Perspektive. Seine Vorstellung ist es, dass man Perspektiven, Deutungen der Welt, Deutungen des eigenen Lebens, Deutungen der Moral ein und aushängen kann, ja. Und es ist völlig unmöglich, meint Nietzsche, dass wir uns an die Wahrheit, Nietzsche schreibt Wahrheit deshalb auch meistens in Anführungsstrichen, dass wir an die Wahrheit herankommen. Wie lässt sich die Welt wirklich beschreiben, so dass es die Realität trifft? Aber wir können uns annähern, indem wir einfach ganz viele verschiedene Perspektiven nebeneinander stellen und die abgleichen. Nun kann es aber passieren, wenn man diese vielen verschiedenen Perspektiven, Weltdeutungen, Philosophien, moralische Systeme nebeneinander stellt, dass man dann sich selbst verliert, ja, dass man in der Vielfalt der Perspektiven keine eigene Perspektive mehr findet. Also einerseits ist es eine großartige Sache, dieser Perspektivismus, weil er zur Selbstreflexivität beiträgt, weil es auch eine Sache ist, wir können uns besser einfühlen und andere Menschen, wenn uns klar wird, jeder hat eine eigene Perspektive, ja jede Perspektive hat irgendwo auch ihr Recht oder ihre Berechtigung, lässt sich nachvollziehbar beschreiben und erklären. Das ist eine ganz tolle Sache, kann aber auch ganz schwierig werden, wenn es mir nicht gelingt, als Philosoph, als Philosophin irgendwo mein eigenes, meine eigene innere Wahrheit für mich solide zu machen. Und wenn Sie jetzt gesagt haben, mit Giorgio Colli, "Nietzsche sagt alles und von allem das Gegenteil", so ist das genau diese Praxis des Perspektiven nebeneinanderstellen und verschiedenen Perspektiven einander gegenüberzustellen. Also Nietzsche tut das nicht, weil er irgendwie es nicht besser kann, sondern weil er es so machen möchte. Schaut euch an, wie viele mögliche Perspektiven es auf ein Phänomen, auf eine Welt geben kann. Und damit experimentiert er, das ist seine Experimentalphilosophie. Er schreibt gerne, vor allen Dingen in den Werken seiner mittleren Schaffensperiode, in kurzen, manchmal auch längeren Aphorismen, das heißt in kurzen Gedankenüberlegungen, er schreibt keine großen Monographien, in diesem Sinne, weil er eben dieses Perspektivische stark machen möchte. Und damit, mit diesem Perspektiven experimentiert er und experimentiert zugleich mit seiner eigenen Existenz. Und er weiß, dass man, wenn man so denkt wie er, dass man da auch durchaus in seelische Abgründe stürzen kann. #00:47:30-5#
Anne Wasmuth: Sehr, sehr spannend. Deshalb ist Nietzsche wahrscheinlich auch noch so modern oder weil er eben nicht nur in eine Richtung gedacht hat, sondern eben aus diesen verschiedenen Perspektiven. Also passt ja zu so einer volatilen Welt, in der wir leben. #00:47:45-6#
Dagmar Kiesel: Genau. Das haben einige Denker tatsächlich auch so gesehen, also dass die Postmoderne tatsächlich eine Zeit ist, wo wir im permanenten Fluss sind, im permanenten Wandel, im Werden, dass uns die Stabilität verloren geht, auch die Stabilität in der Identität. Also ich habe auch schon mal gehört, ja unsere Zeit ist eine Zeit der Borderliner, ja, wir sind alle so ein bisschen Borderliner. Wir wissen nicht mehr genau wie es ist. Ja, sollen wir noch an Gott glauben oder nimmer? Sollen wir an die Wissenschaft glauben oder doch nicht? #00:48:17-2#
Anne Wasmuth: Das ist noch mal ein gutes Stichwort. Also was mich ganz häufig bei psychischen Erkrankungen beschäftigt, ist so die Frage: Wann ist zum Beispiel etwas nur, in Anführungsstrichen "nur" Weltschmerz und wann ist es wirklich Krankheit? Würden Sie es sagen, also wo ist da die Grenze? Wann beginnt tatsächlich Borderline im pathologischen Sinne? #00:48:40-1#
Dagmar Kiesel: Das ist schwierig, da eine klare Grenze zu benennen, weil die Übergänge vage sind. Als Krankheit oder als psychische Störung würde ich das definieren, was tatsächlich psychisches Leiden für die eigene Person, also für den oder die Erkrankten und oder ihre soziale Umwelt mit sich bringt. Also bei manchen Erkrankungen, Narzissmus zum Beispiel, ist es ja auch so, dass vor allen Dingen die Umwelt auch leidet oder durch soziale Persönlichkeitsstörungen etc. pp. Wenn das Leiden so massiv ist, dass es quasi das Leben beeinträchtigt und zwar deutlicher weise beeinträchtigt, das es das Leben, das erfüllte Leben dauerhaft, also nicht nur deutlich, sondern auch dauerhaft beeinträchtigt und dass diese Beeinträchtigung eben große Teile der eigenen Lebenswelt mit einbezieht. #00:49:37-4#
Anne Wasmuth: Jetzt müssen wir auf die Therapien zu sprechen kommen. Sie haben schon mehrfach gesagt die DBT, die dialektisch behaviorale Therapie. Also da steige ich sehr schnell aus, was die Begriffe angeht. Therapie, das verstehe ich noch, Behandlung, dialektisch vielleicht auch noch im Sinne von in Gegensätzen denkt behavioral vielleicht vom Englischen ableiten, behaviour, das Verhalten, aber erklären Sie es mir bitte. Was verbirgt sich dahinter? #00:50:10-6#
Dagmar Kiesel: Verhaltenstherapie heißt, wir machen keine Psychoanalyse mit dem Patienten und Patientinnen, das heißt, wir schauen uns nicht ihre Träume an oder unbewusste Wünsche und Sehnsüchte, sondern wir arbeiten tatsächlich am Verhalten und wir geben ihnen auch konkrete Techniken vor, wir nennen das Skills, um ein Verhalten, damit sie ein Verhalten entwickeln, das ihnen hilft zu einem erfüllten Leben. Verhalten zum Beispiel, das wichtig ist für die Stresstoleranz oder soziale Kompetenz. Und dialektisch meint das Gleichgewicht zwischen Gegensätzen und der erfolgreiche Versuch, diese Gegensätze in einer Einheit zu verbinden. Und in der DBT meint, bezieht sich Dialektik tatsächlich darauf, dass man einerseits, oder dass die Patient*innen, wie auch der Therapeut lernen zu akzeptieren, dass die eigene Lebenssituation erstmal wirklich schlimm ist. Am Horizont sind ganz, ganz dunkle, schwarze Wolken und manchmal gewittert es und blitzt und man hat keinen Unterschlupf, vor dem man sich schützt. Ja, das ist erstmal so und das zu akzeptieren auf der einen Seite ist schlimm, gerade ist es mal schlimm und auf der anderen Seite genauso akzeptieren zu lernen, es gibt einen Hoffnungsschimmer am Horizont. Irgendwo hinter den schwarzen Wolken, da ist die Sonne. Und sind Sie bereit, als Patientin, als Patient sich darauf einzulassen, auf diesen Weg? Dass wir diesen Weg gemeinsam miteinander gehen. Ich akzeptiere ihr Leid, ich verstehe ihr Leid ich kann das nachvollziehen und gleichzeitig gibt es einen Weg zur Veränderung, lassen wir uns darauf ein. Und dieses dialektische Spiel zwischen Akzeptanz und Veränderung, das haben wir durchgehend und in der DBT auch in vielen Skills und in vielen Techniken. #00:52:15-1#
Anne Wasmuth: Können Sie das konkret beschreiben? Wie funktioniert das? Also das Besondere ist ja trotzdem, dass Sie als selbst Betroffene in diese Rolle des Coaches kommen. Das ist ja ein Konzept, das gibt es ja jetzt, also wenn ich mir ein Bein breche, da würde ich also würde ich das nicht wollen, dass jemand anders, der schon mal ein Bein gebrochen hat, mich behandelt, sondern ich würde gerne von einem studierten Arzt behandelt werden, sozusagen. Also, was ist da, warum macht man das, also das, ist die Akzeptanz dann tatsächlich leichter, oder weil jemand, der davon betroffen war, eher eben diese Empathie hat für den anderen das, oder, ja, was sind da die Gründe hinter diesem Konzept? #00:52:54-5#
Dagmar Kiesel: Ihr Beispiel hinkt insofern ein bisschen, als es niemals passieren darf, dass ein DBT-Peer-Coach, also ein selbst Betroffener oder eine selbst Betroffene, die Therapie eines Patienten übernimmt. Das ist ein No-Go, alleine ja, das gibt es nicht, absolutes No-Go. Sondern DBT ist und das unterscheidet die DBT auch von anderen Therapieformen, immer Teamarbeit. Ja, also im DBT Team sitzen die Psychotherapeuten, sitzen die Ärzt*innen, sitzen die Pfleger, sitzt die Musiktherapeutin, sitzt der Sozialpädagoge, sitzt die Kunsttherapeutin. Einmal in der Woche gibt es Teamsitzungen und man tauscht sich im Team aus und man ist gemeinsam für alle Patientinnen und Patienten verantwortlich. Das funktioniert immer nur im Team und der DBT-Peer-Coach ist idealerweise eine Ergänzung dieses Teams. Also er macht selber keine Therapie, sondern hat die Funktion, die Therapie begleitend zu unterstützen. Hauptfunktion ist tatsächlich erstmal zu sehen, dass Veränderung möglich ist, an einem lebendigen Beispiel. Ja, da sitzt jemand vor mir, der kennt das, was ich auch kenne, hat vielleicht nicht genau dieselben Erfahrungen, aber ganz ähnliche Erfahrungen. Und wenn ich mit jemandem rede, der das kennt, was mich so umtreibt, dann habe ich gleich größeres Vertrauen in den. Ich kann das ernst nehmen, ich kann auch ernst nehmen, wenn er sagt, Genesung oder Besserung ist möglich, weil der oder die ja weiß, wovon er oder sie spricht. #00:54:42-8#
Anne Wasmuth: Also das, was sie machen, sind dann im Wesentlichen Gesprächsangebote. #00:54:47-7#
Dagmar Kiesel: Also derzeit mache ich gar nichts, weil ich keinen Job hab als DBT-Peer-Coach, also die Frau Dr. Bofinger, Oberärztin Station 20 IV links im Klinikum Nord, ist da zwar gerade dabei, also bemüht sich da eine Stelle als DBT-Peer-Coach zu schaffen im Klinikum Nord, es gibt derzeit noch keine. Was ich gemacht habe während meines viermonatigen Praktikums im Klinikum Nord war: Ich habe Einzelgespräche mit den Patient*innen gehabt, entweder auf Wunsch der Patient*innen, selbst wenn sie etwas mit einem Peer besprechen wollten, oder auf Wunsch der Therapeuten oder der Pfleger*innen, wenn sie den Eindruck hatten, da wäre vielleicht mal ein Peer-Gespräch passend. Und was ich auch zuerst angeboten habe, war eine Philosophiegruppe. Die ist gescheitert, die ist wirklich gänzlich gescheitert. Und zwar an meiner Vorstellung. Ich habe mich nämlich mit den Worten vorgestellt "ich bin die Dagmar, Dagmar Kiesel, ich hatte auch mal die Diagnose Borderline und heute bin ich genesen. Ja, und ich bin dabei hier, um andere Betroffene zu unterstützen. Und dieses Heute bin ich genesen, das war tatsächlich keine gute Idee, das so zu kommunizieren, weil das passiert ist, was Sie gerade eben schon angesprochen haben, die Borderline-Identität fällt weg. Allein diese Vorstellung, wenn ich mal nicht mehr meine Erkrankung habe, wer bin ich dann überhaupt? Und gleichzeitig der Gedanke einer Überforderung. auch. "Das werde ich ja nie schaffen, da komme ich ja nie raus". Insofern war das ungünstig, da von Genesung zu sprechen und ich sage heute, was genauso der Wahrheit entspricht: "Es geht mir heute viel besser". Und ich habe dann auch nicht mehr mit Philosophie in der Gruppe mit den Patienten und Patientinnen gemacht, sondern ich habe mit ihnen Compassion gemacht. Im Compassion haben wir, geht es um das mitfühlende Selbst. Das mitfühlende Selbst ist in der Lage, Mitgefühl an andere weiterzugeben. Das mitfühlende Selbst kann auch mit sich selbst und den eigenen Schmerzen mitfühlen, und das mitfühlende Selbst ist bereit, Mitgefühl von anderen anzunehmen, ohne sich schwach oder klein zu fühlen. Dazu gibt es auch eine eigene Therapieform, die "Compassion Focused Therapy" nach Paul Gilbert. Die hat dieses Konzept des mitfühlenden Selbst entwickelt, ausgearbeitet und verschiedene, ja, Therapieformen und Techniken dazu entwickelt, zum Beispiel den wohlwollenden inneren Begleiter, ja, als Gestalt, die immer bei einem ist und die man vor dem inneren Auge und inneren Herzen visualisieren kann, die einen unterstützt. Compassion Focused Therapy hilft einem, mit dem inneren Kritiker umzugehen. Diesen Kritiker zu verändern, dass er nicht mehr destruktiv ist, sondern dass er konstruktive Kritik leistet und unterscheidet auch Mitgefühl von Dingen wie mitleiden, unterscheidet Selbstliebe von Selbstsucht oder Narzissmus. Ja, genau. Und das habe ich dann mit den Patient*innen gemacht. Und das lief dann tatsächlich viel, viel besser. Und ich glaube auch, dass das ganz wichtig ist, auf der Ebene des Mitgefühls und auch das Selbstmitgefühls zu arbeiten, weil das genau die Kompetenzen sind, die wir als Menschen brauchen, die uns Beziehungen ermöglicht, die uns Verbundenheit ermöglichen, Verbundenheit mit uns selbst und Verbundenheit mit anderen. #00:58:45-9#
Anne Wasmuth: Sie haben so schön gesagt, heute geht es mir sehr viel besser. Also egal, ob man das jetzt genesen nennt oder nicht, die hoffnungsvolle Botschaft ist ja man, man kann etwas tun. Und es gibt ja ganz konkret eben in Nürnberg die Hilfe, Sie haben es gesagt, das sind die psychotherapeutischen Kliniken im Klinikum Nord oder im Krankenhaus Martha-Maria und natürlich auch, wer Akuthilfe braucht, es gibt bundesweit die Telefonseelsorge, erreichbar unter 08001110111 oder 08001120112. Mit Birgit Dier, der Leiterin der Nürnberger Telefonseelsorge, durfte ich auch schon sprechen in unserem Podcast, ganz viel über die ehrenamtliche Arbeit, die dort auch geleistet wird, erfahren. Also das ist ganz toll, was diese Arbeit und auch dieses Coaching, was Sie letztendlich hoffentlich auch noch mehr anbieten können, auch bewirken kann. Danke Ihnen sehr, sehr, sehr für Ihre große Offenheit. Ich empfinde es als ungeheuer wertvoll, gerade auch durch persönliche Erfahrungen zu lernen und etwas dadurch geschenkt zu bekommen. Ich wünsche Ihnen einfach alles, alles Gute auf Ihrem Weg mit allem, was Sie so vorhaben und in Zukunft tun werden. Vielen Dank, Dagmar Kiesel. #01:00:04-5#
Dagmar Kiesel: Vielen Dank, Frau Wasmuth. Vielen Dank für das Gespräch und die interessanten Fragen. #01:00:09-0#
Dieses Projekt/Diese Maßnahme/Initiative leistet einen wichtigen Beitrag, Nürnberg schrittweise inklusiver zu gestalten. Es/Sie ist Teil des Nürnberger Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Den Ersten Aktionsplan hat der Nürnberger Stadtrat im Dezember 2021 einstimmig beschlossen. Um die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit und ohne Behinderung in Nürnberg zu verwirklichen, wurden und werden umfangreiche Maßnahmen entwickelt und umgesetzt. Weitere Informationen finden Sie unter www.inklusion.nuernberg.de

Die Philosophin Dagmar Kiesel über Glück, Philosophie als Lebenskunst und die Diagnose Borderline.
Schon als Jugendliche funktionierte Dagmar Kiesel nicht wie andere. Ihr wurde gesagt: “Aus Leuten wie Ihnen wird nie etwas!” Heute ist sie promovierte und habilitierte Philosophin, deren Leben sich durch die Diagnose Borderline entscheidend änderte. Im Podcast erklärt sie Ursachen, Symptome und Folgen dieser Persönlichkeitsstörung und gibt Einblicke in ihr lange von Instabilitäten geprägtes Leben. Welche Rolle dabei empathische und rachlüsterne Philosophen spielen und warum Nietzsche heute noch modern ist, bringt sie verständlich auf den Punkt. Sie erzählt über ihr Scheitern, warum es ohne Achtsamkeit und Resilienz nicht geht und von Ihrer Ausbildung zum DTB Peer Coach, mit dem sie andere Betroffene in der Therapie unterstützen kann.
----
Aufgenommen am: Dienstag, 5. Juli 2022
Veröffentlicht am: Donnerstag, 14. Juli 2022
Moderation: Anne Wasmuth
Im Gespräch: Dagmar Kiesel
-------
Alle weiteren Folgen von KontaktAufnahme – der Podcast des Bildungszentrums Nürnberg finden Sie hier. Wir sind mindestens jeden zweiten Donnerstag mit einer neuen Folge online, manchmal öfters.
Wen sollen wir noch befragen - haben Sie Ideen und Anregungen? Oder möchten Sie Ihre eigenen „Glücksmomente“ (manchmal am Ende des Interviews zu hören) an uns schicken? Schreiben Sie uns an!