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Olga Tokarczuk, wie hat dich der Nobelpreis für Literatur verändert?

Ansage: KontaktAufnahme. Der Podcast Bildungszentrum Nürnberg. #00:00:10-9#

Grazyna Wanat: Guten Tag, bei der ersten Folge des Podcasts im Jahr 2025. Die Feiertage sind vorbei und doch wollen wir noch etwas von der feierlichen Stimmung erhalten. Deshalb senden wir heute eine ganz besondere Aufnahme aus unserem Veranstaltungsarchiv. Es ist das Gespräch mit der Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, die uns Ende 2023 besucht hat und über viele, zum Teil ziemlich überraschende Themen mit uns gesprochen hat. Bevor wir loslegen, möchte ich gerne etwas zum Schnitt dieser Folge sagen. Vor dem Gespräch hören Sie die Begrüßung von Arne Zielinski, Leiter des Bildungscampus Nürnberg. Das Gespräch wurde in der polnischen Sprache geführt. Ich durfte die Fragen stellen und hier in der Mitschnitt hören Sie jeweils den Anfang von der Antwort der Autorin in der polnischen Sprache. Danach hören Sie die deutsche Übersetzung übertragen von der Dolmetscherin Silvie Preusser. Und noch ein Wort zu Technik, leider, leider hatten wir am Anfang Schwierigkeiten mit der Tonaufnahme der Dolmetscherin. Aber wie gesagt, nur am Anfang, das legt sich ganz bald und dann wird es nur noch besser. Ich wünsche Ihnen alles Gute im neuen Jahr und viel Freude an dieser Folge. #00:01:34-6#

Arne Zielinski: Sie sehen hier das Schild von Olga Tokarczuk von den Texttagen 2019. Und da haben wir uns natürlich sehr gefreut, dass sie damals da war, weil sie in dem gleichen Jahr auch den Literaturnobelpreis bekommen hat. Und da kann man eigentlich auch nicht viel mehr sagen, um einen Gast vorzustellen. Ich glaube, das spricht für sich und wir freuen uns sehr, dass Sie heute da sind. Herzlich willkommen! Wir werden heute Abend ein bisschen aus Ihrem neuen Buch hören "Empusion. Eine naturheilkundliche Schauergeschichte". Das musste ich wirklich einige Male üben. Stefanie Weidmann wird lesen. Herzlich willkommen. Vielen Dank dafür, dass Sie aus der Übersetzung ein wenig lesen werden. Und danach, davor und dazwischen wird es ein Gespräch geben mit Olga Tokarczuk, moderiert von Grazyna Wanat und übersetzt von Silvie Preusser. Herzlichen Dank Ihnen zwei, dass Sie die Veranstaltung möglich machen und Ihnen, Frau Wanat, herzlichen Dank, dass Sie Olga Tokarczuk zurück nach Nürnberg gelotst haben. Noch zwei Worte des Dankes und dann bin ich von der Bühne verschwunden und Sie können der Protagonistin lauschen. Ich danke dem Kulturzentrum Krakauer Haus für die Kooperation und Unterstützung der heutigen Veranstaltung und wir begrüßen natürlich ganz herzlich Daniel Kampa, wo sitzt der Verleger von Olga Tokarczuk, der den Weg aus Zürich hierher gefunden hat. Herzlich willkommen! In diesem Sinne Ihnen allen ein herzliches Dankeschön, dass Sie einen ausverkauften Katharinensaal gemacht haben und viel Vergnügen beim heutigen Abend. Herzlichen Dank. #00:03:42-7#

Grazyna Wanat: Guten Tag, mein Name ist Grazyna Wanat. Unsere Gästin muss ich Ihnen nicht vorstellen, aber gerne erwähne ich ein paar Fakten, die Sie vielleicht noch nicht gewusst haben. Olga Tokarczuk ist ausgebildete Psychologin. Ihre ersten Erzählungen publizierte sie 1979, danach folgten mehrere Romane. Und für die bekam sie jede Menge Preise, bevor die große Auszeichnung gekommen ist. Unter anderem sieben Mal den Nike-Preis, das ist der größte polnische Literaturpreis und davon fünfmal in Form von Publikumspreis. In 2018 bekam sie den Man Booker Preis, das ist schon wieder der wichtigste britische Literaturpreis. Einige ihrer Werke wurden verfilmt, zum Beispiel unter anderem von Agnieszka Holland, in dem Film "Die Spur". Im Februar 2021 übernahm Olga Tokarczuk von Denis Scheck den Juryvorsitz des Usedomer Literaturpreises. Und im selben Jahr wurde nach ihr ein Asteroid benannt. Und ab jetzt werde ich Polnisch sprechen und Silvie übersetzen. #00:05:11-2#

Grazyna Wanat: Herzlich willkommen in Nürnberg vier Jahre nach dem letzten Treffen. Damals waren Sie hier, drei Monate vor dem Nobelpreis. Und die Frage ist: Hat der Preis Sie verändert? #00:05:31-4#

Olga Tokarczuk: Ich bin durchschnittlich alle zwei, drei Jahre hier. Ich habe Freunde hier. Ich fühle mich hier wohl. Wir haben gerade ein kleines Mittagessen eingenommen, und zwar in einem indischen Restaurant. Und der indische Kellner begrüßte uns auf Polnisch, was natürlich ein sehr schönes Ereignis war. Jetzt zu der Frage: ich habe, Ich bin alt geworden bzw. älter geworden. Ich kann also seit meinem ersten Besuch in Nürnberg in den 90er Jahren, ich kann gewisse Dinge nicht mehr essen. ich trinke keinen Alkohol mehr, ich habe das Rauchen aufgegeben. Mein Leben ist sehr arm geworden im gewissen Sinne. Ich fühle mich auch in der letzten Zeit ziemlich überstimuliert und sehr müde und meine Hauptbeschäftigung besteht darin, nach Ruhe und Einsamkeit zu suchen. Sie sind jetzt das letzte Publikum von meinem Aufenthalt in der Schweiz. Ich darf dort einen Monat lang alleine verbringen, was für mich natürlich eine sehr schöne Sache ist. Ich werde niemanden sehen und ich werde mit niemandem sprechen. Die Grenzen sind zurück. Meine Reise, unsere Reise nach Nürnberg war deshalb nicht ganz so angenehm. Wir standen ziemlich lange an der Grenze. Und diese Visionen, dass die Grenzen wieder da sind, dass wieder so lange kontrolliert wird, auch wenn nicht mehr alle Pässe und alle Dokumente kontrolliert werden. Diese Vision ist trotzdem sehr schlimm. #00:08:08-7#

Grazyna Wanat: Wir kommen jetzt zu diesem Buch Empusion, das Sie uns mitgebracht haben. Das Buch knüpft an den Zauberberg von Thomas Mann sehr deutlich an, auch damals, Der Zauberberg wurde auch mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Es spielt nicht in Davos, sondern in dem niederschlesischen Görbersdorf, wo im Jahre 1913 ein polnischer Student aus Lemberg, Lwiw. #00:08:50-5#

Olga Tokarczuk: Okay, also wir gehen an das Buch jetzt von dieser Seite heran. Viele Deutsche erinnern sich nicht mehr daran, vor allem die jungen Deutschen erinnern sich nicht daran, dass Schlesien einmal deutsch war. Eigentlich ist es eine schöne Erscheinung, dass sich viele nicht mehr daran erinnern. Wir leben heute in Europa und es ist eigentlich egal, zu welchem Land das dazugehörig war. Einmal habe ich mit einem deutschen Journalisten über das Glatzer Tal gesprochen, über Glatz und darüber, dass das mal eben deutsch war. Und er war ganz erstaunt darüber. Eine Aristokratin hat im 17. Jahrhundert entdeckt, dass in diesem Glatz Tal, überhaupt in diesen Bergtälern, ein sehr, in der Nähe von Görbersdorf ein sehr günstiges Mikroklima ist. Ihr Schwager befasste sich damals mit der Heilung von Tuberkulose, und sie haben zu zweit beschlossen, dass sie dort die erste Heilanstalt, ein erstes Sanatorium für Tuberkulosekranke gründen werden. Dieser Herr Dr. Brenner hat eine Reihe von Heilmethoden entwickelt, die sehr wirksam gegen die Tuberkulose sein sollten. Der Ort wurde dafür sehr bekannt und sehr populär. Und zwar so weit, dass in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts einige Schweizer aus dem Ort Davos dorthin kamen und sie, dann fuhren sie in die Schweiz zurück. Sie haben ihn vorher genau ausgefragt, wie die Methoden sind, wie man die Menschen dort heilt. Und dann fuhren sie zurück nach Davos und bauten dort eben diese Lungenheilanstalt auf und an Görbersdorf dachte niemand mehr. Aus Trotz zu diesen, zu diesen Erscheinungen kehre ich zurück nach Görbersdorf und knüpfe an diese Geschichte an, die von Thomas Mann, die eben vollständig in Davos gespielt hat. Für dieses, dieses kleine Buch, das ich da mitgebracht habe, ist eine Art von Rebellion gegen diese Art von kapitalistischen Zugängen. Es ist eine Art von mir, eben in dem ganzen System so eine, so ein kleines, boshaftes Mal zu hinterlassen. Wir werden jetzt ein Stück hören aus diesem Buch, eben, wie das vor sich geht. #00:12:24-1#

Stefanie Weidmann: Das Gästehaus für Herren. Die Rauchwolken der Dampflokomotive, die über den Bahnsteig quellen, verdecken die Sicht. Man muss durch sie hindurch schauen, sich einen Moment lang von dem grauen Dunst blenden lassen, bis der Blick nach dieser Prüfung sich geschärft hat, durchdringend geworden ist, allsehend. Jetzt erkennen wir die Bahnsteigplatten. Quadrate, zwischen denen die Halme kärglicher Pflänzchen wachsen. Eine Fläche, die um jeden Preis ihre Ordnung und Symmetrie bewahren möchte. Und sogleich erscheint ein linker Schuh aus braunem Leder nicht mehr ganz neu. Der Rechte gesellt sich dazu, erscheint noch etwas ärger mitgenommen, die Spitze abgewetzt. An einigen Stellen sind helle Flecken zu sehen. Einen Augenblick stehen die Schuhe reglos, dann bewegt sich der linke nach vorn. Unter dem Hosenbein wird ein schwarzer Baumwollstrumpf sichtbar, und schwarz sind auch die Schöße des offenen Mantels aus Wollstoff. Es ist ein warmer Tag. Eine zierliche Hand, blass und blutleer, hält einen braunen Lederkoffer. Die Anstrengung lässt die Adern hervortreten, die auf ihre Quellen verweisen. Tief im Innern der Ärmel, unter dem Mantel, blitzt ein Flanelljackett auf, nicht eben der besten Sorte, zudem zerknittert von der langen Reise. Helle Punkte einer nicht näher zu bestimmenden Verschmutzung sind zu erkennen. Spelzen der Welt. Der weiße, abknöpfbare Kragen wurde offenbar vor kurzem erst gewechselt. Sein Weiß wirkt frischer als das Weiß des Hemdes. Es kontrastiert auch mit dem erdigen Teint der Gestalt. Die hellen Augenbrauen und Wimpern lassen das Gesicht ungesund erscheinen. Vor dem kräftigen Rot des Himmels im Westen macht die ganze Erscheinung einen beunruhigenden Eindruck, als wäre sie aus dem Jenseits in diese melancholischen Berge gekommen. Zusammen mit den anderen, die hier ausgestiegen sind, begibt sich die Gestalt in Richtung der Halle, die erstaunliche Ausmaße aufweist für eine Bahnstation in dieser Berggegend. Im Unterschied zu den übrigen Reisenden aber geht die Person langsam, ja mit geradezu trägen Schritten. Auch ist sie die einzige, die von niemandem begrüßt wird. Niemand ist gekommen, diesen Menschen zu empfangen. Er stellt den Koffer auf den lädierten Fliesenboden und zieht gefütterte Handschuhe an, die eine Hand zum Trichter geschlossen, bewegt sich an den Mund, um eine Serie kurzer, trockener Hustenstöße entgegenzunehmen. Der junge Mann beugt sich vor, sucht in der Hosentasche ein Schnupftuch. Für einen Moment berühren die Finger die Stelle, wo sich unter dem Mantel Stoff der Reisepass verbirgt. Wenn wir uns für einen Augenblick konzentrieren, erkennen wir die phantasievoll geschwungene Handschrift eines galizischen Beamten, der sich Rubriken des Dokuments ausgefüllt hat. Mieczysław Wojnicz, Katholik, Student des Lemberger Polytechnikums, geboren 1889. Augen: blau, Größe: mittelgroß, Gesicht: länglich, Haare: blond. Jener Wojnicz nun durchquert die Halle des Bahnhofs in Dittersbach, das unweit von Waldenburg gelegen ist. Und während er unsicher durch das hohe, düstere Gebäude geht, auf dessen höchsten Gesimsen gewiss ein Echo wohnt, spürt er, wie ihn aufmerksame Augen aus den Kassenschaltern im Warteraum mustern. Er wirft einen Blick auf die große Uhr. Es ist schon spät. Dies war der letzte Zug aus Breslau. Einen Moment noch zögert er, dann tritt er vor das Bahnhofsgebäude, wo ihn die mächtige Umarmung des unregelmäßigen Gebirgshorizonts erwartet. Mitte September, der Ankömmling bemerkt es mit Erstaunen, ist hier der Sommer längst vorbei. Die ersten welken Blätter liegen auf der Erde, auch müssen die letzten Tage regnerisch gewesen sein. Ein leichter Nebeldunst schmiegt sich noch an die Landschaft. Nur die dunklen Linien der Bäche bleiben ausgespart. Der Reisende spürt in den Lungen, dass er in der Höhe ist. Seinem von der Krankheit ausgezehrten Körper wird es guttun. Wojnicz steht auf den Stufen vor dem Bahnhof, betrachten zweifelnd seine Schuhe mit den dünnen Ledersohlen. Er wird sich um Winterschuhe kümmern müssen. In Lemberg blühen noch die Astern und Zinnien. Niemand denkt dort an den Herbst. Hier aber läßt die hohe Linie des Horizonts alles dunkler erscheinen, und die Farben wirken greller, ja fast vulgär. Eine wohlbekannte Melancholie erfasst ihn die Schwermut der Menschen, die um ihr baldiges Lebensende wissen. Die Welt, die ihn umgibt, er spürt es, ist Dekoration, bemaltes Papier. Den Finger könnte er hineinbohren in diese monumentale Landschaft, ein Loch reißen, das ins Nichts führt. Und dieses Nichts würde herauszuströmen beginnen, gleich einer Flut, die am Ende auch ihm bis an die Kehle stiege. Er muss den Kopf schütteln, um die Vorstellung loszuwerden. Das Bild zerspringt in kleine Tropfen, die auf die Blätter fallen. Zum Glück holpert ihm jetzt über den Weg ein Gefährt entgegen, das an eine Britschka erinnert. Auf dem Bock sitzt ein schlanker, sommersprossiger Bursche, seltsam ausstaffiert. Und sogleich geht es los. Zuerst über das Kopfsteinpflaster des Städtchens, dann über einen Weg, der sich in der hereinbrechenden Dunkelheit zwischen steilen Hängen durch einen Wald windet. Unablässig begleitet sie das Rauschen eines nahen Baches und der Geruch, ein Arom, das Wojnicz immer beunruhigt hat. Feuchter Humus, verwesende Blätter, ewig nasse Steine, Wasser. Er versucht, den Fuhrmann etwas zu fragen, mit ihm in ein Gespräch zu kommen, wie lange sie fahren werden, wie er ihn erkannt hat auf dem Bahnhof, wie er heißt. Doch der Bursche schaut sich nicht einmal um und schweigt. Die Kutschenlaterne zu seiner Rechten erscheint die Hälfte seines Gesichts, das im Profil an einen Nager der Berge erinnert, ja, an ein Murmeltier. Und Wojnicz denkt sich, dass der Bursche entweder taub sein müsse oder schlicht ungehobelt bis zur Unverschämtheit. Nach drei Viertelstunden endlich tauchen sie wieder aus dem Schatten des Waldes und fahren in ein unerwartet flaches Tal. Eine solche Hochebene hier zwischen den Bergen setzt in Erstaunen. Der Himmel erlischt. Doch der hohe Horizont ist noch zu sehen. Die unruhige Linie der Berge, die jedem, der aus dem Flachland hierher kommt, an die Kehle zu greifen scheint. Görbersdorf lässt sich mit einem Mal der Fuhrmann vernehmen, mit überraschend hoher Knabenstimme. Wojnicz aber kann nichts erkennen, außer der dichtgeflochtenen Wand aus Dunkelheit, die sich in großen Flächen von den Berghängen löst. Erst als sich die Augen ein wenig an die heranbrechende Nacht gewöhnt haben, tritt ein Viadukt hervor, unter dem sie in ein Dorf gelangen. Dann ist ein mächtiges Gebäude aus rotem Backstein zu erkennen. Daneben weitere kleinere Bauten, eine Zufahrtsstraße, zwei Gaslaternen. Jetzt biegt die Britschka auf einen schmalen Seitenweg ab, der an einem Bach entlangläuft, passiert eine kleine Brücke. Das Geräusch der Räder erinnert an das Echo von Schüssen. Vor einem stattlichen Holzbau, dessen Architektur an ein Haus aus Streichhölzern denken lässt, mit seinen unzähligen Veranden, Balkonen und Terrassen kommt das Gefährt schließlich zum Stehen. Aus den Fenstern schimmert angenehmes Licht. An der Fassade unter dem ersten Stockwerk ist eine aus dickem Blech geschnittene schöne Frakturschrift zu sehen: Gästehaus für Herren. Erleichtert steigt Wojnicz aus der Britschka, atmet tief die neue Luft ein, von der es heißt, sie heile noch die schwersten Zustände. Doch vielleicht ist es zu früh dafür, denn ein Hustenanfall packt ihn, dass er sich am Geländer des Brückchens festhalten muss. Und während er hustet, spürt er das modernde Holz, kühl und unangenehm schlüpfrig, und der erste gute Eindruck zerplatzt. Er kann nichts tun gegen die Krämpfe seines Zwerchfells, und eine gewaltige Angst ergreift ihn, dass er ersticken werde, dass dies der letzte Anfall sei. Er versucht, der Panik Herr zu werden, versucht an eine Blumenwiese im warmen Sonnenschein zu denken, wie Professor Sokolowski es ihm geraten hat, und alle Mühe gibt er sich mit dieser Vorstellung, auch wenn ihm die Augen tränen und das Blut ihm ins Gesicht steigt. Er hat das Gefühl, seine Seele aushusten zu müssen. Da spürt er einen Druck an der Schulter und ein großer, gut gebauter Herr mit graumeliertem Haar reicht ihm die Hand. Durch die Tränen sieht Wojnicz ein rosig gesundes Gesicht. "Na, na, mein Herr, jetzt nehmen wir uns aber mal zusammen", sagt der andere und gibt seiner Selbstsicherheit ein breites Lächeln mit, dass der um sein Leben hustende Ankömmling sich an ihn schmiegen möchte, auf dass dieser Mensch ihn zu Bett bringe wie ein Kind. Ja, genau das. Kind. Bett. Etwas geniert legt er dem Mann den Arm um den Hals und lässt sich durch das Torhaus führen, wo es nach dem Rauch von Tannenholz riecht und weiter über eine mit einem weichen Läufer bedeckte Treppe nach oben. Der Ankömmling überlässt sich den kräftigen Händen, lässt sich in einem Zimmer im ersten Stock bringen, auf das Bett setzen, Mantel und Pullover ausziehen. Wilhelm Opitz, so stellt der Mann sich vor, wobei er mit dem Finger auf seine Brust deutet, legt ihm ein wollendes Plate um, und von Händen, die für einen Augenblick im Türspalt erscheinen, nimmt er eine Tasse mit dampfender Bouillon entgegen. Als Mieczysław mit kleinen Schlucken davon trinkt, reckt Wilhelm Opitz den Finger in die Höhe. Wojnicz versteht Just in diesem Moment, wie bedeutsam dieser Finger ist und sagt in einem weichen, etwas drollig klingenden Deutsch: "Ich hatte Professor Sokolowski geschrieben, dass Sie in Breslau Station machen sollten. Die lange Reise ist zu anstrengend. Ich habe es gesagt.". Mit angenehmer Wärme durchdringt die Bouillon seinen Körper, und der arme Wojnicz spürt nicht einmal mehr, wie er einschläft. Bleiben wir noch ein paar Augenblicke bei ihm, hören seinen ruhigen Atem. Wir freuen uns, dass seine Lunge sich beruhigt hat. Ein Lichtstrahl fesselt unsere Aufmerksamkeit. Scharf wie eine Klinge fällt er vom Korridor ins Zimmer, auf das Porzellan des Nachttopfs unterm Bett und die Ritzen zwischen den Dielen ziehen uns an, eben dort verschwinden wir. #00:23:20-2#

Grazyna Wanat: Das ganze Buch, der ganze Text besteht aus dünnen Fäden, die immer in die jetzige Realität auch führen. Über jeden dieser Fäden könnte man ein extra Gespräch führen. Aber wir versuchen es jetzt so, wir haben Mieczysław kennengelernt. Er hat die Bahnhofshalle passiert und nun ist er da. Er fühlt sich, also Mieczysław, fühlt sich beobachtet, im Bahnhofsgelände fühlt er sich beobachtet und er hat auch Angst davor. Und dass, dieses, dieses Motiv bleibt, er fühlt sich über die Dauer seines Aufenthaltes immer beobachtet und er wird dann später auch kleine Löcher in den Wänden verstopfen, damit man ihn nicht abhört und nicht sieht. Ist es nicht eine sehr, ein sehr zeitgenössisches Motiv? #00:24:37-6#

Olga Tokarczuk: Ich möchte zuerst eine Frage stellen an die, die das Buch gelesen haben. Haben Sie das Gefühl, dass dieses Buch wie ein Horrorroman beginnt? Wenn ja, dann ist es mir gelungen, es war gewollt von mir. Das wird, das wird schon, also diese Konstruktion wird beibehalten bis zum Schluss. Es ist ja eine, dieses beobachtet sein ist ja eine Methode, um eben dieses Unheil aufzubauen, die Angst aufzubauen. Aber es ist auch ein Teil meines literarischen Experiments, weil auch die Erzählerinnen, Erzähler aus diesem Buch sind ein Teil dieser Horrorgeschichte, die hier stattfindet. Ich habe mit vielen Übersetzern gearbeitet. Das Buch wurde ja in viele Sprachen übersetzt, und es lag mir immer sehr viel, dass in dieser Übersetzung auch diese, diese Furcht bestehen bleibt, dass die Erzählerinnen und Erzähler aus diesem Text eben diese Furcht weitertragen. Es ist nicht das erste Mal, dass ich in meinem meinem Roman eine literarische Gattung benutze, um eine Geschichte zu erzählen. Vielleicht erinnern sich einige von ihnen, dass ich auch Kriminalgeschichten geschrieben habe. Ich habe eine, eine historische, einen historischen Roman geschrieben. Auch Reisetagebücher habe ich geschrieben. Aber ich habe noch nie einen Horrorroman verfasst, und das war auch ein Anliegen von mir. Es bleibt jetzt noch die Gattung Science Fiction. #00:27:05-4#

Grazyna Wanat: Du hast ja auch schon verschiedene Erzählweisen ausprobiert. Es geht darum, wer es eigentlich erzählt. #00:27:19-2#

Olga Tokarczuk: Ich kann nicht auf diese Frage antworten, sonst verrate ich den ganzen Kontext. #00:27:31-6#

Grazyna Wanat: Derjenige, der erzählt oder diejenige hat, steht in irgendeinem Zusammenhang zu dem Titel dieses Buches, Empusion. #00:27:43-7#

Olga Tokarczuk: Also Empusion in der griechischen Mythologie waren Schreckensgestalten, weibliche Schreckengestalten aus dem Wald, die den Männern vor allem Böses taten. Diese Endung werden sie sich in so einer mit Begriffen wie Symposium eben in Zusammenhang bringen, also Platons Gelage, die tatsächlich die Konversation, die ein Dialog zu zum Ziel hatten. Also der Titel verbindet zwei Bereiche, die auf den ersten Blick erst mal nicht verbindbar sind. Also es ist eine Art Symposium auf, zu dem eben so eine weibliche Schreckensgestalt erschienen ist. Aber wir können hier ja nicht alles verraten. Ich habe versucht, dieses Buch in einer sehr ausgeglichenen, harmonischen Sprache zu verfassen. Etwas anachronistisch, in einer Art und Weise, wie man Bücher vor dem Ersten Weltkrieg geschrieben hat. Meine deutschen Übersetzer sind großartig und haben das sicher so übersetzt, dass es auch auf Deutsch sehr gut klingt. #00:29:43-8#

Grazyna Wanat: Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein, das sind die beiden Übersetzerinnen. Lisa Palmes war schon hier und hat auch über das Übersetzen dieses Buches erzählt. Es war insofern eine interessante Sache mit dem Übersetzen, vor allem deshalb, weil das Buch ist in polnischer Sprache verfasst, aber die Geschichte passiert irgendwie auf Deutsch, also in dieser polnischen, in diesem polnischen Buch. Natürlich ist es auf Polnisch geschrieben, die alle Dialoge, aber der Leser kriegt, kriegt es mit, dass sie eigentlich Deutsch sprechen miteinander. #00:30:37-5#

Grazyna Wanat: Es sind viele Essensszenen in dem Buch, darüber wollten wir sprechen, die tatsächlich sehr, sehr grausam verlaufen. Und hier bieten wir noch um ein Fragment aus dem Buch. #00:31:05-2#

Stefanie Weidmann: In jener Zeit war Emil, Janoris jüngerer Bruder, bereits Offizier der Kavallerie bei der österreichischen Armee. Ein großer, gut aussehender, hellhaariger Mann mit untadeliger Figur und Manieren. Er trug einen strohblonden Schnurrbart, der seinen zarten jungen Zügen Würde und Männlichkeit verlieh. Die blaugraue Jacke umspannte überaus ansehnlich seinen schlanken Oberkörper. Ihre Farbe verlieh seiner Haut eine vornehme Blässe. Das Schönste aber, so erschien es mir, waren seine roten Hosen, die in hohen, stets wundersamen, blank gewienerten Stiefeln steckten. Emil kam, knallte seine Absätze zusammen und zündete sich sogleich eine Zigarre an, wobei der Vater ihm Gesellschaft leistete. Mieczysław bekam vom Onkel immer eine Dose Plätzchen aus der Konditorei und ein militärisches Mitbringsel, Patronenhülsen, ein Taschenmesser oder ein blechernes Kochgeschirr. Dann musste er die Fragen des Onkels beantworten, was er, da er all das auswendig herunterbeten konnte, voller Inbrunst und mit großer Selbstsicherheit hat. Eine Kavalleriedivision besteht aus zwei Brigaden zu je zwei Regimentern oder ein Kavallerieregiment umfasst sechs Schwadronen. Außerdem galt es zu ergänzen, dass jeder Division eine spezielle berittene Artilleriedivision und vier Unterabteilungen, bewaffnet mit Maschinengewehren, unterstellt waren. Von den Patronen für diese Maschinengewehre stammten die Hülsen, mit denen Mieczysław übrigens im übrigen nichts rechtes anzufangen wusste. Er trug sie einfach in der Hosentasche und spürte ihre angenehme Schwere. Einen Tag vor der Anreise des Onkels ging Josef stets gleich nach seinem Einkauf in den Keller, um der Ente die Kehle durchzuschneiden. Anschließend hing der Vogelrumpf den ganzen Nachmittag am metallenen Rand des gekachelten Herdes, während das Blut langsam Tropfen um Tropfen in eine darunter aufgestellte Schüssel rann. Mieczysław Wojnicz wusste bereits aus früheren Kummer und schmerzvollen Lektionen, dass man sich mit der Ente vom Markt unter keinen Umständen anfreunden durfte, dass man kein Mitleid mit ihr haben durfte. Daher ignorierte er ihr jammervolles, bisweilen auch empörtes Quaken, das aus dem Keller nach oben drang bevor es ans Schlachten ging. Ja, er hielt sich die Ohren zu, um möglichst wenig zu bemerken von ihrer kurzen, nur einen Augenblick dauernden Anwesenheit im Haus. Doch der blutende, gefiederte Fetzen, der da vom Herdrand herabhing, stürzte ihn unweigerlich in Verzweiflung, und ein jämmerliches, hilfloses Weinen würgte ihn in der Kehle. Dass er vor dem Vater, dem Onkel, ja sogar vor Josef zu verbergen gezwungen war. Sie hätten doch nur gesagt, er flenne wie ein Weib. Der entsetzliche Anblick des dunkelroten, beinahe bräunlichen Blutes, das an der Halöffnung der kopflosen Ente eingetrocknete, versetzte ihn in einen schmerzlichen Widerstreit der Gefühle. Es graute ihn. Zugleich aber verspürte er eine merkwürdige, unbeschreibliche, fast lustvolle Faszination, die viel mächtiger war, als wenn er sich scharf vom eben verhalten kratzte oder einen bereits losen Milchzahn immerzu berührte. Eine Trauer, die in kein Weinen, in keine Erleichterung verwandelt werden konnte, zerriss ihm die Brust, drückte von innen und lähmte den Atem. Denn es bestand doch eine rätselhafte Gemeinschaft zwischen ihm selbst und der toten, kopflosen Ente, aus der das Blut tropft. Etwas, das er in seinem Körper erspürte, eine Flauheit und Schwäche, die sich aus einer völligen Wehrlosigkeit ergab. Perfekt wurde das Grauen durch die Schönheit der blut verklebten Federn, die wundersam im Licht der Küche schillerten. Dunkelblau und golden schimmernd, tintenschwarz und grünlich, Azuren-, Saphirblau. Es gab nicht die rechten Namen dafür. Gewiss aber ähnelten sie den Flügeln des vierfingrigen Engels. Der Tod der Ente wurde dadurch zur Schmähung, zum Anschlag auf die ganze Welt. Doch das Schlimmste sollte erst noch kommen. Wenn nämlich das Schwarzsauer köchelte, das von Josefs Hand aus Blut, Essig und Gewürzen wie Piment, Lorbeerblättern, Majoran, Pfeffer, aus getrockneten Pflaumen und Aprikosen zubereitet wurde, wusste Mieczysław, dass unweigerliche Qualen nahten. Ein Teller mit der Suppe wurde vor ihn hingestellt. Eine weitere Prüfung, ob er sich Manns genug erwies, diesmal in Gegenwart seines Onkels, des Offiziers. Vorerst jedoch ließen sein Vater und Emil doch nichts erkennen, dass dies eine außergewöhnliche, besondere Angelegenheit wäre. Sie plauderten gelöst meist über zukünftige Geschäfte oder Politik, noch nicht aber über Emils Heiratspläne. Diese Frage würde erst beim Likör erörtert werden. Mieczysław wiederum saß vor seinem Teller mit der schokoladenbraunen Masse voller Fettaugen, die Serviette unterm Kinn, innerlich verkrampft, machtlos gegen den Speichel, der sich in seinem Mund sammelte und den seine zugeschnürte Kehle nicht schlucken wollte. Dann streifte ihn flüchtig der Blick des Vaters. Und Mieczysław nahm den Löffel wie ein zu Folterqualen Verurteilter und tauchte ihn in den dunklen Brei. Emil verdrehte indessen entzückt die Augen und seufzte, noch nie im Leben habe er etwas so Köstliches gegessen. Ein Ausdruck der Zufriedenheit erhellte Josef sonst immer recht finsteres Gesicht. Er zog sich nicht in die Küche zurück, sondern forderte durch seine Anwesenheit weiteres Lob ein. Mieczysław wusste, dass die Augen der beiden Männer sich gleich auf ihn richten würden, und er rief sich innerlich selbst zur Ordnung, indem er sich sagte, er müsse es tun. Er dürfe die beiden Personen, die ihm auf der Welt am nächsten waren, nicht enttäuschen, denn sie wollten nur das Beste für ihn, damit ein echter Mann aus ihm würde, müsse er sich überwinden, setzen Sie ihm dieses Gericht doch aus Liebe vor. Da stiegen ihm Tränen in die Augen, und der Löffel hob sich, zitternd und Tropfen vergießend, an seine Lippen, die nichts anderes mehr tun konnten, als sich zu öffnen und das Opfer entgegenzunehmen. Immer erwartete er, dass er sich von den letzten Malen falsch an den Geschmack des Schwarzsauers erinnerte und dass es sich plötzlich als erstaunlich wohlschmeckend erwiesen. Jedoch entfaltete sich in seinem Mund auch diesmal etwas widerliches, mit nichts anderem Vergleichbares, das kaum noch das Aroma von Lorbeer und Majoran übertüncht wurde, das nur mit buttrigen Pinselstrich lackiert, Im Grunde aber scheußlich und abstoßend war. Es war ein schreiender, widerwärtiger, durchdringender Geschmack, der sich süßlich und fade zwischen Zunge und Wangen ausbreitete. Der Hals schnürte sich ihm zu und Mieczysław, verspürte wieder einen Brechreiz, konnte ihn diesmal jedoch unterdrücken, so dass das Gefühl sich nach einem Moment des Zögerns wieder in seinen Körper zurückzog, in den Eingeweiden versickerte und die Portion gekochten Tierblutes in seinen Magen hinabrinnen konnte. Beide Männer taten so, als sähen sie ihn nicht an, doch er wusste nur zu gut, dass sie ihn verstohlen beobachteten, wachsam und kühl. Nun nahm Mieczysław den nächsten Löffel und noch einen. Sein Vater entspannte sich und begann zu scherzen. Tränen füllten die Augen des Jungen, doch auch die ignorierte er, so dass sie ebenfalls tief in seinem Körper versickerten. Das ist eine traditionelle polnische Suppe. Ein Narr, wer sie nicht probiert und wie viel Kraft sie gibt, freute sich der Vater. Onkel Emil lächelte, und die Enden seines strohblonden Schnurrbart färbten sich dunkelrot. Es ist doch ganz einfach, dachte ich, während er seine Tränen herunterschluckte, die sich in seinem zarten, kindlichen Körper mit dem Tierblut mischten. Ein Mann zu sein heißt, zu lernen, alles zu ignorieren, was Probleme bereitet. Das ist das ganze Geheimnis. #00:39:13-9#

Grazyna Wanat: Wir haben hier zwei Fragen. Die erste Frage, über die wir noch zu sprechen haben, das ist, wie wird ein Mann ein Mann? Und die zweite Frage: Wie ist es möglich, dass wir Tiere töten und essen? Das ist eine sehr wichtige Fragestellung für dich. #00:39:52-4#

Olga Tokarczuk: Das sind zwei sehr wichtige Fragen für mich. Ich kann sie in wenigen Sätzen nicht beantworten. Also die Szene, die Sie jetzt gehört haben, ist eine Art von Parodie und es ist schon richtig, dass man auch darüber lacht. Also dieses ganze Buch sollte schon auch etwas zu bieten zum Lachen, aber auch zu einer zu einer bitteren Reflexion anregen. Wir haben hier ein Beispiel eines Trainings, praktisch wie ein Kind durch die Betreuer abgerichtet wird. Das Training basiert vor allem eben auf einer bestimmten Vorstellung, wie der Mann in Zukunft eben zu sein hat. Es ist, ich muss aber auch gestehen, dass dieses ein autobiografisches Element ist. Es ist die meine Geschichte als kleines Mädchen, dass man eben mit dieser Blutsuppe versucht hatte eben, man brachte mich dazu, zu essen, sie zu essen und jedes Mal endete das Ganze in einer hysterischen Sache. Die, also es wird, immer wieder kommt eben diese Perspektive zurück. Die Erziehung eines Kindes, eines Kindes, das noch nicht vollständig umrissen ist in seinem Charakter. Ein Kind, das eben versucht wird, an die Gegebenheiten, an die Muster unserer Kultur anzupassen. Wir haben ein bisschen so eine Anknüpfung tatsächlich an Thomas Mann jetzt. Ich bin ein großer Fan von Zauberberg. Ich habe dieses Buch in, natürlich in einer polnischen Übersetzung 6 bis 8 Mal gelesen. Als Teenager war ich wahnsinnig fasziniert nicht nur von dieser Geschichte, sondern auch von diesen Diskursen, die in diesem Buch stattfinden. Ich habe, als junge Frau habe ich sehr viele Bücher gelesen, von Musil, von Kafka, amerikanische Literatur und ich habe in all diesen Büchern nichts gefunden, was mich als Frau in irgendeiner Form bewegen würde. Als ich 15, 16 Jahre alt war, stand ich vor der Bibliothek, die bei uns zu Hause da war, also vor all diesen Büchern und ich dachte mir, all diese Klassik, all diese Bücher, die hier versammelt sind, das sind alles Bücher, die von Männern, über Männer und für Männer geschrieben wurden. Sie können sich sicher vorstellen, wie einem 15, 16-jährigen Mädchen zumute ist, das sehr, sehr viel liest, das diese Bücher verschlingt und trotzdem nichts findet, gar nichts, was, gar kein Buch, wo diese, wo die weibliche Psyche, wo weibliche Intellekt in irgendeiner Art und Weise berücksichtigt werden würde, wo eine Frau eben tatsächlich philosophische Diskurse führt und ethische auch, ja. Sie treten meist in beigeordneten Positionen auf. Sie sind Mütter, also Frauen, die Ehefrauen, Geliebte, Prostituierte, Dienerinnen. Sie sind, sie erfüllen die Rolle, die ihnen eben diese Tradition zugeordnet hat. Zum Beispiel eben Der Zauberberg von Thomas Mann. Ein großartiges Buch. Versucht mal, die Frauen zusammenzuzählen, die dort auftreten, die irgendetwas zu sagen haben. Es ist eine Frau, die mit den Türen schlägt, es sind ein paar Dienerinnen, die die Milch beibringen und es ist eine tote Amerikanerin ganz zu Beginn des Buches. Ich habe diesen Gestus eben von Thomas Mann übernommen, gewissermaßen, oder wiederholt. Das Buch beginnt mit einer toten Frau. Es gibt so einen sehr, sehr alten Mythos, einen sumerischen Mythos, vermutlich den ältesten überhaupt. Er geht auf die Zeit des Neolithikums zurück, als eben die matriarchalen Verhältnisse durch patriarchale zerstört und übernommen wurden. Also der Gott erschafft die Welt, indem er eben aus einer Frau die Welt errschaft, er spalte diese Frau die Hälfte. Aus einer Hälfte erschafft er den Himmel, aus der anderen Hälfte die Erde. Tiamat, heißt sie. Dieser Gestus auf einem, auf einem toten Körper etwas aufzubauen, erschien mir damals in dem Zauberberg sehr stark und sehr symbolisch. Und dann sind nur noch Männer da, und das Ganze endet in einem Krieg, wie Sie wissen. Aber bei einer wiederholten Lektüre, ich glaube, das war das sechste Mal, dass ich den Zauberberg gelesen habe, fand ich eine Szene, ein Motiv, der eigentlich von der Rezeption, von den Kritiken unbeachtet blieb, soweit es mir bekannt ist, eben. Da taucht Peeperkorn auf, ein sehr reicher Holländer, der nach Davos gekommen ist, um eben seine Lungenkrankheit zu heilen und zwar nicht sprechen kann, aber auch eine Rolle trotzdem spielt. Er lädt zum Wodka trinken ein und er ruft eine Kellnerin. Die Kellnerin ist eine kleine, bucklige Frau, die Emerentia heißt. Er behandelt diese Kellnerin sehr schlecht, erniedrigt sie vor allen Menschen dort. Er lässt sie irgendwelche Milchkännchen bringen und macht sie auch lächerlich richtig. Ich habe dann diesen, mich hat es fasziniert, dieser Name fasziniert, Emerentia. Ich habe dann, bin dem nachgegangen, was das denn für ein Name ist. Vielleicht wird es ein Zufall, vielleicht auch Manns Sinn für Humor. Diese Emerentia, das ist die Großmutter von Jesus. Und diese wird auch im süddeutschen Raum in vielen Kirchen so dargestellt. Eben eine zerfurchte alte Frau, die mit ihrem Mantel, mit ihrem offenen Mantel da sitzt und diesen kleinen Jesus auf dem Schoss hält. Beziehungsweise da ist noch Maria und Anna dabei. Diese Emerentia wurde also. Die Darstellungen der Marcia waren früher, bis zum Barock waren sie sehr häufig und später hat man sie da aber beseitigt, weil sie zu heidnisch aussah, zu unschön. Vielleicht bin ich dazu etwas überempfindlich, aber ich habe das Gefühl eben, dass in all diesen Werken, in diesen großen Werken doch immer zu sehr, manchmal sehr subtil, aber auch, aber doch immer ein Geschlechterkampf stattfindet. Das betrifft natürlich vor allem die Literatur des 19. Jahrhunderts und des Anfangs des 20. Jahrhunderts. Aber auch in der gegenwärtigen Literatur sieht man sehr oft, wie unterschiedlich die Dinge sind, die Männer und die Frauen in diesen Büchern tun. Also bei Netflix sind jetzt sehr, sehr viele, sehr starke Frauengestalten zu sehen, aber vor 20, 30 Jahren hat man sie auch im Kino nicht gesehen. Also zum Beispiel der Radetzkymarsch von Joseph Roth. Es sind nur Männer da. Also die Frauen tauchen ausschließlich als nackte Körper in den Betten auf. Oder Dienerinnen, die eben die Hemden zum Waschen abholen. Ich habe dieses Buch auch tatsächlich in diesem Gestus aus Trotz geschrieben. Aus Trotz, gegenüber diese Erscheinung. Und ich wollte die Leser und die Leser auch zu einem, und Leserinnen, zu einer Art Mysterium einladen. Es war ja geradezu ein Racheakt meinerseits. Ich wollte eben diesen Faden aufnehmen und ich wollte auch zeigen, dass ich stolz bin, auf diese, in dieser westlichen Welt zu leben, die doch eine große Arbeit getan hat und viel geleistet hat, damit die Frauen so leben können, wie sie heute es tun. Die Arbeit ist natürlich noch lange nicht zu Ende, aber die Tatsache, dass ich hier bin, dass ich Bücher schreiben darf, dass ich hier auftreten kann, dass ich Verhütungsmittel zur Verfügung hatte, um nicht die Welt mit unzähligen Nachkommen zu beglücken. Es ist schon ein ganz, ganz großer Schritt. Also, ich möchte Sie dazu einladen, dieses Buch mit einem leichten Augenzwinkern auch zu nehmen und zu lesen. Die ganze Sache nicht so nicht so ernst zu nehmen, nicht so in großer Grübeleien zu verfallen, sondern auch Spaß zu haben. Einfach beim Lesen. #00:52:32-4#

Grazyna Wanat: Also es ist tatsächlich so, dass in dem Buch sind sehr viele Dialoge enthalten. All diese Männer, die dort eben sitzen und sehr, sehr viel über Frauen sprechen. Sie erzählen über diese Frauen unglaubliche Geschichten. Wirklich, die Irritation wird immer größer angesichts dieser Geschichten. Und dann endet das Buch mit einer Liste von Namen. #00:53:09-5#

Olga Tokarczuk: Auf diese Liste sind Männer, große Männer, die seit Beginn unserer Geschichte eben ihre Meinungen über Frauen kundtun. Und für mich war das schockierend. Für mich selbst war es wirklich schockierend, als ich begann, all diese Zitate zu sammeln. Und ich hatte Mitleid mit mir selbst, ich Arme, ich musste damals all diese Bücher lesen, diese Zitate. Mädchen, die so viele von diesen Büchern gelesen haben, die bräuchten alle eine Therapie. Also wir haben, das war gar nicht so schwer, diese all diese Zitate zu finden. Wir haben wirklich tausenden davon im Internet über uns, die wirklich so viel aussagt. Die Zitate, die so viele, so viel aussagen über unsere misogyne Geschichte. Wir Leserinnen, in unserer Großzügigkeit verzeihen wir all diesen Männern diese Zitate. Sigmund Freud, William Shakespeare, August Strindberg, Jonathan Swift, Henry Fielding, Carton, Jack Kerouac, Aurelius Augustin, William Burroughs, William Butler Yeats, Otto Wieninger, Richard Wagner, Tertullian. #00:55:04-8#

Grazyna Wanat: Im Grunde genommen ist das der Horror dieser Geschichte. Um nicht nur in diese Richtung zu schauen, möchte ich noch die Erziehung der Männer ansprechen. Es ist nicht nur schlimmes, was den Frauen angetan wird, sondern auch den Männern. #00:55:47-6#

Olga Tokarczuk: Auch Männer leiden natürlich darunter, so wie sie diese Blutsuppe ununterbrochen essen müssen. #00:56:04-7#

Grazyna Wanat: Es wird jetzt viel darüber diskutiert, über, der ganze literarische Kanon wird ein bisschen in Frage gestellt und zumindest wird das hinterfragt. Und was ist Ihre Meinung dazu? Ist es tatsächlich so, kann man das sagen, das war einfach so, das ist historisch und zu fragen, was damals eben? #00:56:37-7#

Olga Tokarczuk: Man muss kein Psychotherapeut sein, und ich bin es, um festzustellen, dass diese ewiges, das ewige Wiederholen dieses Muster eben dazu, zum mangelnden Selbstwertgefühl führt, zum Misstrauen dem eigenen Körper gegenüber, geradezu zum Ekel dem eigenen Körper gegenüber, zu all diesen negativen Gefühlen. Das ist vielleicht, man kann natürlich die Frage stellen, wozu noch die Diskussion darüber? Das ist doch alles Geschichte. Aber wir sehen natürlich weltweit dieses Phänomen nach wie vor, das immer noch sehr stark vertreten ist. Es, ich habe viele Bücher gelesen, während ich das Buch geschrieben habe. Ich recherchiere immer sehr sorgfältig und da ist mir auch ein Buch in die Hände gefallen, ein anthropologisches Buch über Misogynie. Diese Haltung ist tatsächlich, gibt es in fast allen Kulturen, und die Anthropologen können die Frage danach, warum das so ist, nicht wirklich beantworten. Das ist ein Thema, das man beim Wein diskutieren sollte. #00:58:16-7#

Grazyna Wanat: Weshalb sind diese Themen eben Identität, geschlechtliche Identität, vegane Ernährung, wieso sind das Themen, die so oft von Rechtspopulisten aufgegriffen werden? #00:58:45-3#

Olga Tokarczuk: Vielleicht ist es so, dass die Populisten einfach eine Vision haben von der Welt, von der Welt, von damals, die in ihren Augen eine bessere war. Vielleicht ist es auch eine Art von Regression in die Zeit der Kindheit, da man als Kind sich sicherer fühlte, die Welt als besser geordnet empfand. Man greift eben nach der Vergangenheit, um diese Muster von damals in der Gegenwart wieder zu realisieren und so eben die Welt von damals wiederauferstehen zu lassen. Es ist auch interessant, dass sie, dass sie sehr selten oder nie negative Phänomene aus der Vergangenheit aufgreifen, wie Hungerkatastrophen, Pest und Cholera und andere Katastrophen, sondern immer nur diese kindliche Sicht der Welt. Eine Frau, die die Gleichberechtigung lebt, eine Frau, die keine so aggressive Herangehensweise an die Natur hat. Diese Frau bedroht eben diese naive Vision der Welt von damals. #01:00:24-7#

Grazyna Wanat: Ja, wir nähern uns dem Ende. Als ich, ich stelle dir. Ist eine ganz andere Frage. Und zwar, ich habe gelesen, dass auf der Grundlage dieses Buchs auch ein Videospiel entsteht. Mein Sohn versucht mir immer wieder, von den besonderen Werten dieser Videospiele irgendwas zu erklären, aber trotzdem stelle ich diese Frage: Wieso trägst du mit so einem Videospiel dazu bei, dass das geschriebene Wort untergeht? #01:01:06-4#

Olga Tokarczuk: Also ich bin da anderer Meinung. Ich denke, dass Computerspiele eine andere Dimension von Literatur sind, ist, die, wenn man spielt, dann betritt man eben eine andere Ebene der Literatur. Es ist ein sehr natürlicher Vorgang des Erzählens der menschlichen Geschichte, so wie früher eben diese mündliche Weitergabe von Geschichten, von Texten vor Gutenberg eben üblich war, so ist das vielleicht die nächste Entwicklungsstufe. Das wird, dieses Computerspiel wird heißen "Anna in den Katakomben". Ich würde Thomas Mann das wünschen, dass man aufgrund, auf der Grundlage vom Zauberberg ein Computerspiel konzipiert. #01:02:19-4#

Grazyna Wanat: Vielen herzlichen Dank. #01:02:22-7#

Dieses Projekt/Diese Maßnahme/Initiative leistet einen wichtigen Beitrag, Nürnberg schrittweise inklusiver zu gestalten. Es/Sie ist Teil des Nürnberger Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Den Ersten Aktionsplan hat der Nürnberger Stadtrat im Dezember 2021 einstimmig beschlossen. Um die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit und ohne Behinderung in Nürnberg zu verwirklichen, wurden und werden umfangreiche Maßnahmen entwickelt und umgesetzt. Weitere Informationen finden Sie unter www.inklusion.nuernberg.de.

Mitschnitt einer Liveveranstaltung mit der polnischen Nobelpreisträgerin.

In dieser Folge präsentieren wir ein besonderes Gespräch aus unserem Veranstaltungsarchiv mit der Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk.

Am Montag, den 6. November 2023, stellte die polnische Autorin in Nürnberg ihr neues Buch "Empusion. Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte" vor.

Tokarczuk berichtet, wie der männlich dominierte Literaturkanon ihrer Kindheit sie geprägt hat: Als kleines Mädchen war sie fast ausschließlich mit Werken männlicher Autoren konfrontiert, die Frauen oft in klischeehaften Rollen darstellten und nicht selten explizit misogynische Ansichten vertraten. Im Gespräch teilt sie auch einige überraschende Einblicke: Warum besucht sie Nürnberg alle zwei bis drei Jahre? In welcher Sprache unterhielt sie sich mit der Bedienung im indischen Restaurant, in dem sie vor ihrer Lesung speiste? Wie steht sie grundsätzlich zu Computerspielen? Und könnte sie sich Thomas Manns "Der Zauberberg" als Vorlage für ein Computerspiel vorstellen?

Ein inspirierendes und facettenreiches Gespräch mit einer der bedeutendsten Schriftstellerinnen unserer Zeit.

Foto: Khrystyna Jalowa

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Aufgenommen am: Montag, 6. November 2023
Veröffentlicht am: Donnerstag, 9. Januar 2025
Moderation: Grazyna Wanat
Dolmetscherin: Silvie Preusser
Im Gespräch: Olga Tokarczuk

Alle weiteren Folgen von KontaktAufnahme – der Podcast des Bildungszentrums Nürnberg finden Sie hier. Jede Woche, immer donnerstags, veröffentlichen wir ein neues Gespräch.  

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