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Lena Gorelik, Max Czollek, wer sind wir? Und wie bewältigen wir die Gegenwart?

Grazyna Wanat: Guten Tag. Mein Name ist Grazyna Wanat und ich freue mich sehr, die heutige Podcastfolge ankündigen zu dürfen. Sie hören gleich den Audiomitschnitt vom Live-Gespräch, das im November 2021 im Bildungszentrum Nürnberg stattgefunden hat. Auf der Bühne saßen Lena Gorelik und Max Czollek. Lena Gorelik ist Publizistin, Schriftstellerin, Autorin von solchen wunderbaren Romanen wie "Meine weißen Nächte" oder "Die Listensammlerin". Das ist übrigens eins von meinen Lieblingsbüchern überhaupt. Ihre Eltern emigrierten 1992 mit ihr, der damals Neunjährigen, als sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge aus Russland nach Deutschland. Lena Goreliks aktuelles autobiografisches Buch heißt "Wer wir sind" und erzählt eben diese Geschichte. Ein Mädchen reist mit ihren Eltern, der Großmutter und ihrem Bruder nach Deutschland aus. In die Freiheit. Was sie dafür zurücklässt, sind ihre geliebte Hündin und letztendlich ihre ganze Kindheit. Im Westen merkt sie, dass sie jetzt eine andere und die Fremde ist. Die Besucher des Literaturfestivals Texttage Nürnberg hatten bereits letztes Jahr die Gelegenheit, Lena Gorelik bei uns live zu erleben, als sie eben dieses Buch "Wer wie sind" vorgestellt hat. Auch Max Czollek, Publizist, Lyriker, beschäftigt sich viel mit Fragen der Herkunft und der Identität und damit, wie diese uns in der Gesellschaft positionieren und damit, wie mit Zuschreibungen von außen die Identitäten konstruiert wird werden, was zum Beispiel bedeutete, dass von einer Jüdin, einem Juden, in Deutschland ein besonderes Verhalten erwartet wird. Ein guter Jude sei, wer stets zu Antisemitismus, Holocaust und Israel Auskunft gebe. Czollek bezeichnet diesen Mechanismus als Integrationstheater und beschreibt in seinem Buch "Desintegriert euch!" Strategien, das Theater zu beenden. Sein aktuelles Buch "Gegenwartsbewältigung" ist ein Manifest für die plurale, ja radikal plurale Gesellschaft und dreht sich um die Frage: Wie muss sich die Gesellschaft wandeln, damit Menschen gleichermaßen Solidarität erfahren? Der Anlass dieses Publikumgesprächs war das Festjahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, das übrigens unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten bis zum 31. Juli 2022 verlängert wurde. Und mitten in diesem Festjahr entbrannte eine heftige Debatte über jüdische Identität, die sich leider sehr persönlich um Max Czollek drehte. Nachdem Maxim Biller in seiner Zeitkolumne schrieb, Czollek sei kein Jude im Sinne der Halacha, das seine Mutter keine Jüdin ist. Ich erwähne es jetzt, weil auch diese Debatte in unserem Gespräch thematisiert wurde. Das Gespräch wurde moderiert von Doktor Claudia Globisch, Soziologin und Antisemitismusexpertin. #00:03:35-8#

Doktor Claudia Globisch: Ja, ich freue mich sehr, dass ihr heute hier seid. Ich kenne euch bislang nur aus den Büchern und aus diversen Onlinedebatten und -vorstellungen, Blogs und so weiter. Und das nochmal live ist doch nochmal was anderes. Also, ich freue mich sehr, dass ich heute eingeladen wurde, mit euch zu sprechen. Ich werde es vor dem Hintergrund eurer Bücher machen: "Gegenwartsbewältigung" und "Wer wir sind". Aber auch vor dem Hintergrund einiger Texte und Bücher davor und vielleicht auch vor dem Hintergrund der Innerjüdischen Debatte und den Anwürfen von Maxim Biller, welche Rolle die Bezeichnung "jüdisch sein" für euch bedeutet. Auch etwa im Verhältnis zu anderen Selbstbeschreibungen. #00:04:31-3#

Max Czollek: Ja, ich glaube, es ist vielleicht sinnvoll damit anzufangen, dass es einen großen Unterschied macht, die Frage zu beantworten in Bezug auf eine Öffentlichkeit und in Bezug auf einen ganz persönlich. Und ich glaube, das markiert schon einen Unterschied, der häufig schon in der Benennung eigentlich unsichtbar wird, wenn man über die sogenannte Identitätspolitik spricht. Weil das, was, glaube ich, privat ist, ist das, was man Identität nennen kann. Und das, was wir in der Öffentlichkeit verhandeln, das nennt sich Positionalität, also die Art und Weise, wie einem Dinge zugewiesen werden, wie einem aufgrund dieser Zuweisung bestimmte Themen zugewiesen, bestimmter Schutz aberkannt, bestimmte Geschichten erwartet werden, aber eben auch auch, wie aufgrund dieser Zuweisung die Verfügbarkeit dieser Geschichten behauptet wird. Ich habe schon häufig erlebt, dass Leute sozusagen auf Grundlage der Tatsache, dass ich aus einer Familie komme, von der ein Teil eine Geschichte der Schoa-Verfolgung hat, dass die Gegenseite, gerade wenn es eine nichtjüdische Deutsche ist, glaubt, sie hat irgendwie so eine Art Verfügungsrecht darüber. Wenn wir sie umgebracht haben, dürfen wir auch ihre Storys hören sozusagen. Und da, glaube ich, ist ja "Desintegriert euch!" auch das erste S.A.-Band, sowohl wie die Theaterarbeiten, die wir gemacht haben, reingegangen und hat gesagt: "Na gut. Also, wenn wir schon auf diese Weise konstruiert werden, dann wollen wir den Ball auch zurückspielen und sagen: Also, wenn wir eure Juden sind, dann seid ihr auch unsere Kartoffeln." Das war sozusagen die öffentliche Arbeit. Und die persönliche Frage, die ist vor allem eines erstmal, nämlich persönlich. Und ich glaube, das Schwierige an der öffentlichen Verhandlung ist für mich gewesen, dass ganz viele Dinge, die ich nicht öffentlich verhandelt habe, nämlich Familienhintergründe, ganz bestimmte biografische Brüche in meiner Familie, dass die plötzlich von anderen Leuten, natürlich völlig schief auch, beleuchtet werden. Und ich glaube, das, was ich dazu gerne sagen will, ist, dass ich aus einer Familie komme, die in der DDR gelebt hat. Der jüdische Teil dieser Familie ist sozusagen, hat angefangen, oder geht zurück auf Walter Czollek. Der war Verleger in der DDR von einem großen Verlag, der hieß "Volk und Welt" und hat diesen Verlag 20 Jahre geleitet und davor war er ein kommunistischer jüdischer Widerstandskämpfer und war in mehreren KZ´s in Deutschland, hat als einziger aus seiner sehr großen Familie überlebt. Und er hatte zwei Kinder, meinen Vater und meine Tante, und die haben sich dann auf unterschiedlichen wegen dem Judentum zugewandt. Und da muss man halt sagen, und das ist, glaube ich, total wichtig, auch in der Diskussion zu verstehen, und da wird Lena jetzt, glaube ich, gleich noch was auch drüber sagen können vielleicht, dass ja Jüdischkeit und jüdisches Leben in der DDR nicht in Synagogen stattgefunden hat, sondern in Wohnzimmern. Dass also die Behauptung, dass der einzige Definitionsanspruch, der gilt, ein religiöser ist, etwas tut, was eine westdeutsche Perspektive leider immer wieder tut, nämlich die ostdeutschen Realitäten unsichtbar zu machen. Und das gilt natürlich nicht nur für eine jüdische Situation, sondern auch für eine deutsch-deutsche. Dementsprechend würde ich nur dafür plädieren, und darüber wollen heute Abend auch reden, ein Gespür dafür zu bekommen, wie unterschiedlich Jüdischkeit sich durch die Zeiten und nach diesem heftigen Einschnitt 33 bis 45 entwickelt hat und wie wenig sich das über den Maßstab einer Institution oder nur eines Definitionsraumes klären lässt. #00:08:20-3#

Lena Gorelik: Ja, ich glaube, ich versuche, das, was Max, finde ich, sehr gut zusammengefasst hat, runterzubrechen auf eine konkrete, vielleicht singuläre Geschichte. Ich glaube, ein ganz wichtiger Punkt ist, dass mein Erleben, auch, dass das Jüdischsein sehr schnell auf zwei Themen runtergebrochen wird, nämlich Religion und dann die Frage, wie man an diesem Tisch irgendwie verfolgt wird, wo auch so eine Art von Ansprüchlichkeit, finde ich, oft da ist - Erzähl mir doch mal dein Leid! - und es immer sehr schwer zu erklären ist. Oder, ich finde es unglaublich schwer zu erklären, also ich glaube, ich habe keine Studien im Kopf, aber für die meisten jüdischen Menschen auf der Welt das Jüdische eben abseits der Religion stattfindet. Also die, die tatsächlich in den Synagogen beten, jeden Samstag. Deren Zahl ist im Verhältnis zur Zahl der jüdischen Menschen relativ gering. Gestern war ich, wir feiern ja 1700 jüdisches Leben im deutschen Raum. Und wie auch immer man den definiert, lassen wir das nochmal beiseite, die Benennung dieses Festjahres. Aber, und ich saß gestern in einem Podium mit vier anderen jüdischen Menschen, die alle sehr schnell gesagt haben, dass sie aus atheistischen Familien kommen, und woraufhin - das war eine Online-Diskussion - im Chat auch die Frage auftauchte, warum man nicht richtige Juden eingeladen hätte und wir vier uns quasi sehr schwer damit taten, kurz mal für andere zusammenfassen zu müssen, was das Jüdischsein eigentlich ausmacht. Aus meiner Biografie hat das Jüdischsein sehr viele unterschiedliche Zuschreibungen. Ich bin in der Sowjetunion geboren. Das ist ein Land, in dem Antisemitismus staatlich nicht nur geduldet, sondern gewollt war. Das heißt, ich habe Jüdischsein erstmal als ein Ausschlusskriterium kennengelernt. Und als Kind, also bevor ich verstanden habe als Kind, dass es ein Ausschlusskriterium ist, habe ich es als Schimpfwort auf dem Spielplatz kennengelernt. Das heißt für mich war Jüdischsein erst mal etwas, was ich auf gar keinen Fall sein wollte, weil es einfach nicht besonders cool war, jüdisch zu sein, so. Und dann ging das einher mit so ner leisen, so wie du sagst, im Wohnzimmer, wirklich hinter geschlossenen Türen, leisen Erinnerung daran, dass es mal ein jüdisches Leben in der Familie gegeben hat. Also alle erinnerten sich an den Urgroßvater im weißrussischen Schtetl, der Pejes hatte. Niemand hatte je ein Foto von diesem Urgroßvater gesehen, aber alle erinnerten sich an ihn. Es wird ein Kidduschbecher weitergereicht - ich habe ihn gerade geerbt. Aber es war mit leisen Erinnerungen und auch immer - Also ich hatte eine Tante, die immer, wenn sie ein bisschen was getrunken hatte, anfing, auf jüdisch Lieder zu singen und dann hieß es immer: Pschscht! Die Wände haben Ohren. Das ist das Jüdischsein, mit dem ich aufgewachsen bin. Dann kam ich nach Deutschland und habe komplett andere Zuschreibungen erlebt. Ich hab erst mal erlebt, dass ich Opfer zu sein habe. Ich habe dann erlebt, ich war elf, ich musste immer in den katholischen und evangelischen Religionsunterricht, um Pessach zu erklären, das alle Passahfest nannten, und ich musste zu Hause aber nachschlagen, was es bedeutet und wie man es feiert, und dann habe ich das pflichtbewusst im katholischen Religionsunterrricht widergegeben. Und dann, als ich 14 war, wurde Rabin in Israel ermordet. Dann musste ich den Nahostkonflikt erklären und ich hatte nur eine sehr geringe Vorstellung davon, wo sich der Nahosten überhaupt befindet. Und an all diesen Zuschreibungen musste ich mich erst mal sehr lange abarbeiten, bevor ich mich mit der Frage nach dem Privaten, Was bedeutet das für mich?, überhaupt beschäftigen konnte, weil ich sehr viel einfach damit beschäftigt war: Was bedeutet es für andere, dass ich jüdisch bin?, und bin da auch durch verschiedene Phasen gegangen. Oft wird man ja auch gefragt: Wann fühlen Sie sich jüdisch? Und ganz häufig fühle ich mich jüdisch durch die Begegnung mit dem Außen. Also, es gibt sehr viele Tage, da spielt das für mich in meinem Alltag keine Rolle, weil es einfach, so wie du am Anfang sagtest, eine Teilidentität ist neben vielen anderen. Und dann geschieht etwas. Zum Beispiel in der Gesellschaft. Ne Debatte wird losgebrochen oder es gibt Halle oder was auch immer geschieht. Und dann fühle ich mich quasi durch die Außenwelt jüdisch. Und das Innere ist etwas, was ich für mich neben all dem Außen manchmal wirklich erarbeiten muss. #00:13:43-5#

Doktor Claudia Globisch: Das heißt also also, über dieses, wie ich es jetzt verstanden habe, über das ausgestellt werden oder das positioniert werden von außen wird Jüdischsein oder Jüdischkeit etwas sehr persönliches. Vielleicht vor dem Hintergrund, ich habe viele Interviews mit jüdischen Lehrerinnen geführt und in dem Hintergrund gab es ganz unterschiedliche Positionierungen, also zum Beispiel auch die Position des Bedürfnisses, jüdisches Leben sichtbar zu machen und darüber zu sprechen. Eine Person, die mir erzählt hat: Ihr wurde gesagt, das ist die erste Jüdin, die sie getroffen haben. #00:14:28-0#

Lena Gorelik: Also zur Diversität des Jüdischseins in Deutschland gehören, glaube ich, auch die sehr unterschiedlichen Meinungen. Ich persönlich halte von der Idee, dass möglichst viele Menschen möglichst viele Juden persönlich kennenlernen sollten, damit sie feststellen, dass wir auch ganz normale Menschen sind, dafür gebe ich mich wirklich ungern her. Auch diese Kochabende mit jüdischen Menschen, damit die dann feststellen, dass ich auch Zwiebeln schneiden kann und somit man gar nicht antisemitisch sein muss, finde ich eine ganz fragwürdige, übergriffige Art für die. Und ich weiß, es wird auch durchaus anders gesehen. Aber wir sind weder Zootiere, die man mal gesehen haben muss oder die man seinen Kindern mal zeigen muss: Guck mal, das ist ein Jude, der ist ganz normal! Noch, sind wir in der Bringschuld, uns zu zeigen, damit es keinen Antisemitismus gibt. #00:15:35-5#

Max Czollek: Ja, ich finde Übergriffigkeit einen ganz guten Begriff. Ich glaube, dieses persönliche, ich glaube, das hat was mit der Erwartung zu tun. Und das ist, glaube ich, nicht nur eine Erwartung, die an jüdische Menschen gestellt wird, sondern auch an ganz viele andere Menschen. Also, wie oft müssen Migrant/innen ihre Migrationsgeschichte erzählen? Wie oft müssen, was weiß ich, schwule Menschen ihr Coming Out erzählen? Also, es gibt so bestimmte Narrationserwartungen an das gegenüber, wenn man weiß, dass er oder sie etwas bestimmtes ist. Und ich glaube, diese Erwartung, die ist eine persönliche. Das heißt, man zwingt die andere Seite zum biografischen Geständnis. Und wenn das einem nicht gefällt, dann fragt man weiter. Und das, finde ich, ist das interessante, dass die Authentizitäterwartung an den anderen eigentlich nicht die Erwartung von echter Authentizität im Sinne von, was Lena erzählt oder was ich erzähle oder was sozusagen anders ist, ist. Sondern die Erwartung ist eigentlich eine, die dazu führt, dass man im Zoom Call dann sagt: Hä, warum habt ihr denn keine echten Juden eingeladen? Also, man hat eigentlich eine Authentizitätserwartung, die gar nichts mit realer Authentizität zu tun hat, sondern mit der Erwartung sind projezierte Fantasien davon, was der oder die andere ist. Und nun stellt sich raus in der Gegenwart, dass das, was man sich als Juden und Jüdinnen vorstellt, und das, was Juden und Jüdinnen tatsächlich sind in Deutschland, immer weiter auseinander tritt. Weil sozusagen bis in die späten 80er Jahre gab es noch eine relative Deckung zumindest von Biografien und und dem, was an jüdischem Leben in West- und Ostdeutschland existiert hat. Aber mit der Einwanderung von über 90, also von knapp 200.000 sowjetischen Juden und Jüdinnen, die mittlerweile über 90 Prozent der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland ausmachen, ist die Sache komplizierter geworden. Die wirklich interessante Frage ist jetzt: Was machen wir jetzt mit einem Erinnerungsdiskurs, einem Gedächtnistheater, der bestimmte Juden braucht, und einer jüdischen Gemeinschaft, die diesen Bedarf real gar nicht decken kann? #00:17:45-8#

Doktor Claudia Globisch: Und nicht decken will. #00:17:47-2#

Max Czollek: Ja genau. Richtig, danke. #00:17:50-6#

Doktor Claudia Globisch: Auf das Gedächtnis-Theater würde ich gerne später noch nochmal zu sprechen kommen. Ich würde gerne vielleicht noch einen ganz kurzen Moment trotzdem bei der Biografie oder den biografischen Erfahrungen bleiben, wenn ich darf. Also insbesondere in deinem eher autobiografischen Roman beschreibst du ja verschiedene, auch sich wandelnde Phasen der Aneignung und Auseinandersetzung mit sich wandelnden Gesellschaften, also sich wandelndem Positioniertwerden. Mich würde interessieren, welche Brüche und Widerstände du gegen deine eigene Sozialisation beschreiten muss. #00:18:29-9#

Lena Gorelik: Ich war elf, als ich nach Deutschland kam. Auf Englisch gibt es den schönen Begriff dafür: One and a half. Also ich bin nicht mehr die erste Generation und und noch nicht die zweite. Ich finde das eine sehr schöne Beschreibung, weil es genau das widergibt. Weil ich natürlich irgendwie verstehe, wo meine Eltern herkommen, es vermutlich mehr verstehe, als wenn ich das nur aus Geschichten kennen würde, wenn das nur die Narrative der Familie gewesen wären, aber gleichzeitig einfach viel zu sehr hier sozialisiert wurde, um, um nicht dagegen auch protestiert haben zu müssen, ganz viel protestiert haben zu müssen. Und das fängt natürlich bei bestimmten Bräuchen oder Definitionen von, weiß ich nicht, alleine schon den Begriff, was Familie bedeutet, was Glück bedeutet, also all diesen Dingen an. Und es geht natürlich weiter mit den Vorstellungen, mit denen meine Eltern in der Sowjetunion, einfach geprägt durch Propaganda, durch ein Leben, das in bestimmten Strukturen verlief, wurden und gegen die ich mich aufgelehnt habe. Es geht dann über Sprache weiter, weil die Sprache, in der ich schreibe, in der ich auch zum Beispiel jetzt in dem Roman auch meine Eltern beschreibe, was eine Aneignung ist, eine ganz klare. Ich eigne mich mir deren Geschichten an und schreibe sie in einer Sprache, die nicht deren Muttersprache ist. Das ist etwas, was mit sehr viel Hinterfragen von nicht nur, wo komme ich her und was hat mich geprägt, aber auch von dem, was darf ich und was tue ich hier und in welche Worte kleide ich es, einhergeht. Aber auch das Hinterfragen der Versprachlichung an sich. Also ich hab dann festgestellt, dass meine Eltern, also genauso wie es ganz viele jüdische Stereotype gab, die sie als Juden und als Jüdinnen und Jude in der Sowjetunion nicht hinterfragt haben, also die sie einfach übernommen haben, weil das einfach so war. Und auch auf meine sich wiederholenden Fragen: Aber ist euch nicht aufgefallen, dass es antisemitisch war bis heute kommt? "Aber das hat man doch so gesagt." Und genau so haben sie aber möglicherweise Dinge oder sprachlich Dinge übernommen, die ganz klar rassistisch sind. Also zum Beispiel sagt man auf Russisch, wie bei weißen Menschen, wenn es darum geht, dass etwas besonders toll ist, dann sagt man: Ich erzähle, der Urlaub war gut und dann sagt meine Mutter: "Ach, dann warst du ja im Urlaub wie bei weißen Menschen." Und dann versuche ich zu erklären, dass es für mich natürlich - und das meine ich mit One and a half: Die eine Hälfte von mir versteht, dass meine Mutter das einfach 70 Jahre ihres Lebens so gehört hat und nicht in Frage gestellt hat. Die andere Hälfte möchte irgendwie dieses Telefon an die Wand hauen. Das sind so Brüche, an die ich immer wieder, also das ist nichts, was aufhört, sondern ich glaube, das ist etwas, was mich mein Leben lang begleiten wird. Was auch immer die Frage, vielleicht ein anderer Kontext habe. Ich glaube schon, dass der Hintergrund des Kontextes derselbe ist, nämlich die Erwartungshaltung, von der du gerade sprachst, die Frage auch erübrigt: Wann sind sie denn angekommen hier bei uns in Deutschland? #00:22:10-6#

Doktor Claudia Globisch: Ja, vielleicht auch noch an dich: Die Frage nach der Sozialisation und den Brüchen mit deiner Herkunftsfamilie. Jetzt aus einer ganz anderen Perspektive wie Lena und mit einer ganz anderen Geschichte. #00:22:28-3#

Max Czollek: Ich hab ja eben aufgehört zu erzählen an dem Punkt, wo sozusagen mein Vater und meine Mutter sich in den 80er Jahren in der DDR gemeinsam mit Kindern kommunistischer, jüdischer Genoss/innen zusammengefunden haben in einer Gruppe, die hieß: Wir für uns. Und man muss sagen, dass die sowjetische Migration oder postsowjetische Migration nach Deutschland für mich und meinen Werdegang extrem wichtig war, weil damit die Gründung der allerersten jüdischen Schule, ganzzügigen jüdischen Schule, seit 1945 möglich wurde. Das bedeutet, ab 1993 gibt es in Berlin das erste Mal wieder seit 1945 eine jüdische Schule und ich gehe auf diese jüdische Schule ab 1993 für 13 Jahre. Und jüdische Schule bedeutet in diesem Fall Resozialisationsinstanz, sowohl für die Kinder als auch für die Eltern, weil die allermeisten, die da in die Schule gehen, sowohl die Kinder sowjetischer Eltern, als auch die, die aus dem Osten kommen und so, die haben keine Ahnung. Das heißt, du lernst eigentlich alles von Anfang an. Du lernst, wie geht ein Gebet, du lernst, wie sind die Feste, du lernst, du hast da frei, was ja auch ein Argument für ein Fest sein kann. Du lernst: kein Schweinefleisch auf Broten, kein Milch und kein Fleisch mischen, all diese Dinge plus Hebräisch, plus Bibellesen und so weiter. Also eine richtige Alphabetisierungsinstanz, wenn man so will. Vor allem mit Bezug auf Religion, in Bezug auf Kultur. Und das Judentum, was ich aber kennengelernt hatte, war eins, das war ein Partisanenjudentum und ein politisches Judentum. Und das, was ich natürlich auch irgendwie kennen lernte, war ein Judentum, in dem man sich so Hava Nagila tanzend im Kreis drehte. Also oft so Kulturkonfrontation, wenn man so will. Natürlich sind die eher politischen, kommunistischen Juden in die DDR gegangen. Dementsprechend sah das Judentum da aus. Mein Vater war Sänger, ich bin groß geworden mit, wirklich mit Partisanenliedern. Das waren meine Einschlaflieder. "Sage niemals, du bist nur in den letzten Weg." So kurz vom Schlafen vielleicht auch nicht so beruhigend. Aber man muss sagen, und das ist, glaube ich, der schwerste Bruch sicher auch, und einer, dem ich auch hinterherlaufe und dem auch mein Vater hintergelaufen ist: Mein Vater ist gestorben, da war ich zwölf und sein Vater ist gestorben, da war er dreizehn. Und das ist der einzige Strang Familie. Also sozusagen, alle anderen sind vernichtet worden. Es gibt sonst nichts. Und es gibt auch kein Wissen. Nicht mal über den Urgroßvater, dessen Namen ich trag: Max Czollek. Über den wissen wir nichts. Das heißt sozusagen, nicht nur der pejottragende Urgroßvater, sondern es ist tatsächlich so gut wie gar nichts da. Katja Petrowskaja hat vielleicht probiert, eine Geschichte zu erzählen. Wenn man keine Geschichten hat, also nur die Möglichkeit von Dingen. Und ich glaube, diese Frage, wie kommt man an eine Geschichte ran? Und an eine Identität und an ein Teil von einem, der vor allem auf der anderen Seite existiert? Und ich würde sagen, für mich ist Literatur oder Kunst ein Ort, an dem ich ins Gespräch treten kann mit dieser Seite. An dem ich in der Lage bin, in einen Dialog zu treten mit meinen Toten. Und ich glaube - um jetzt wieder auf die Gegenwart oder auf die Lebenden zu kommen -, diese Sozialisation mit der jüdischen Schule, später im Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk, die mir signalisiert hat, es gibt eine Möglichkeit jüdisch zu sein, selbst wenn du eine gebrochene Biografie hast. Du bist, du kannst Teil dieses Raumes sein, auch wenn du nicht, was weiß ich, weißt, wie du nicht den Minjan voll machst oder weißt, wie man in einer Synagoge zu jedem Tag irgendwie aufzutauchen hat. Dann dann war das für mich eine Ermöglichungsbedingung, überhaupt die Themen zu bearbeiten, die ich bearbeite. Erst kamen diese neuen Institutionen, dann kam "Desintegriert euch!". Also, ich glaube, sozusagen so herum funktioniert es. Und ich glaube, in diesem Sinne ist das auch Ausdruck dieser neuen Möglichkeiten, in diesem Land jüdisch zu sein, die ich als wirklich als eine Art Neuanfang oder als eine Art neue jüdische Lebendigkeit bezeichnen würde, die eben nicht ein Wiederaufnehmen des Alten ist, sondern etwas ganz Neues. #00:26:56-5#

Doktor Claudia Globisch: Ja, vielen Dank. Da gäbe es bestimmt noch einige Fragen, aber ich würde so ein bisschen übergehen auf die Analyse der Gegenwartsgesellschaft und vielleicht einstiegen mit, Max, deinem Buchtitel "Gegenwartsbewältigung". Die Frage auch an euch beide - vielleicht kannst du erst mal erzählen -, wie du zu dem Titel kamst und welches Publikum du vor Augen hast. Also welche anderen oder welche Wirs. Und dann würde mich auch interessieren, an dich, Lena, was du mit dem Titel oder dem Begriff "Gegenwartsbewältigung" verbindest? #00:27:39-0#

Lena Gorelik: Der Titel "Wer wir sind": Für mich ändert sich dieses Wir. Also nicht nur pro Kapitel und auch nicht nur pro Absatz, sondern wirklich pro Satz teilweise. Und die Frage, die dahinter liegt und die mich interessiert, ist: Wer bildet das Wir? Wer entscheidet darüber, wer zum Wir gehört? Wer entscheidet, wer zum Wir nicht gehört? Also was sind die Instanzen? Wo sind die Ausschlusskriterien? Wo ist der Versuch einer Inklusion? Wer entscheidet über diese Inklusion? Das spielt sozusagen mit dem Wir, was sich in jedem Satz quasi ändert. Also manchmal ist das Wir einfach ganz sehr privat, einfach meine Familie, manchmal ist das eine Generation, manchmal ist das eine Minderheiten-Wir, manchmal ist das Wir als Gegenwartsgesellschaft. Es ändert sich. Und es geht mir aber vor allem genau um diese Veränderung und darum, wie diese Kreise weiter und kleiner werden und wo es Schnittmengen gibt und wer dann eben über die Schnittmengen entscheidet. Weil ich glaube, dass Ausgrenzungsmechanismen - da wären wir jetzt bei "Gegenwartsbewältigung" - und auch eben diese Positionierung und die Frage, wer über die Positionierung entscheidet und wer sozusagen bestimmte Diskurse trägt und wer von bestimmten Diskursen ausschließt, oder vereinfacht gesagt, wer redet über wen und wer redet mit wem, glaube ich, das ist, was Gegenwartsbewältigung ausmacht oder auch teilweise unmöglich macht. Aber ich würde damit an dich übergeben. #00:29:50-0#

Max Czollek: Ich nehme es einfach von da weiter und sage genau das. Und ich glaube, eine der Thesen, die hinter diesem Begriff liegen - und das können Sie ja auch schon erahnen - in der sozusagen Kippbild-Vergangenheitsbewältigung, ist, dass wir, glaube ich, in einer Situation leben, die auf eine kuriose Weise in Spannung zu sich selbst geraten ist. Es gibt einerseits ein Selbstbild in Deutschland, was seit einigen Jahrzehnten zelebriert als Schlagwort, vielleicht Erinnerungsweltmeister. Jetzt haben wir so gut erinnert, jetzt dürfen wir bestimmte Dinge auch wieder tun. Sie kennen das vielleicht am eindrücklichsten von der WM 2006: Endlich dürfen wir mal wieder die Fahnen rausholen. Das war ja wirklich eine Rhetorik, die auch damit zu tun hatte, zu sagen, aber jetzt haben wir doch alles getan. Und mal unabhängig davon, ob Sie das richtig finden oder falsch finden - Dass hier Erinnerungsarbeit verknüpft wird mit dem Thema Normalisierung oder Stolzsein auf Deutschland oder so, das ist, glaube ich, nicht besonders strittig. Das liegt erst mal offen zu Tage. Und das ist ein Modell der Vergangenheitsbewältigung. Das ist eine Art zu denken, in der man sagt, man arbeitet durch die Vergangenheit, um in der Gegenwart bestimmte Dinge tun zu können. Und dagegen würde ich sagen, wenn wir auf diese Weise über die Gegenwart nachdenken, dann können wir gar nicht verstehen, was hier gerade passiert. Dann können wir gar nicht erklären, warum innerhalb kürzester Zeit ein Achtel der Bevölkerung dieses Landes eine völkische Partei wählt. Spätestens an diesem Punkt müsste man doch sagen: Mist, irgendwas haben wir verpasst! Und dass das nicht passiert ist, dass man einfach munter weiter Heimatministerien gründet und so, das finde ich doch erschütternd. Und das war tatsächlich kein Zufall, dass "Desintegriert euch!" ein Jahr nach der Bundestagswahl erscheint, nach der letzten, und dass "Gegenwartsbewältigung" im Prinzip ja zwei Jahre danach noch mal diese Sachen weiterentwickelt und eigentlich sagt: Nee, wir müssen diesen Blick ändern. Wir müssen eigentlich viel stärker danach fragen, auf welche Weise die Vergangenheit in der Gegenwart fortwirkt, weil wir nur dann verstehen können, was diese Gesellschaft, sozusagen, was die größte Bedrohung dieser Gesellschaft eigentlich ist. #00:32:27-2#

Doktor Claudia Globisch: Gibt es zu dem Begriff der Gegenwartsbewältigung ein Gelungen? Also als Konzept eine gelungene Gegenwartsbewältigung? Oder ist es eher als Analyse zu betrachten? #00:32:38-5#

Max Czollek: Nee, es gibt keine gelungene Gegenwartsbewältigung. Es ist ein Prozess. #00:32:42-0#

Doktor Claudia Globisch: Ich würde gerne bei der Gegenwartsbewältigung und einem Thema, dem der Solidarität, noch so ein bisschen nachfragen, weil das Buch ja damit startet. Und damit sind wir auch bei einem aktuellen Thema, nämlich der Pandemie und der Pandemiefolgen und Wir-Konstruktionen während der Pandemie. #00:33:03-2#

Max Czollek: Ich glaube, wenn Sie sich zurückerinnern, vor mehr als anderthalb Jahren, gab es ja so ein Moment, wo über 90 Prozent der Bevölkerung dieses Landes die Coronamaßnahmen gutgeheißen hat. Das ist jetzt kaum noch vorstellbar, aber es gab diesen Punkt. Es war wirklich eine hohe Zahl. Und einer der zentralen Begriffe, die damals benutzt wurden, war der der Solidarität. Nun wurden relativ bald die Brüche klar. Sowas, wie die Menschen in den Wurstfabriken und auf den Spargelfeldern, aber auch die Menschen außerhalb der Grenzen dieses Landes waren nicht gleichermaßen in diese Solidarität mit eingeschlossen als die Menschen hier. Aber wenn man noch einen Schritt weiterdenkt, dann kann man sagen, es gab auch in den letzten Jahren Bedrohungssituationen in diesem Land, die nicht auf die gleiche Weise zu Solidarität und zum Einsatz aller verfügbaren Ressourcen geführt haben wie die Krise, die jetzt gerade stattfindet und stattgefunden hat. Die Frage ist also, was meint und vor allem, wen meint diese Solidarität? Und da würde ich sagen, das Problem oder das Schwierige am Begriff der Solidarität ist, dass er Grenzen hat und das es ja durchaus eine völkische oder eine männliche Männersolidarität gibt, die eine ganz bestimmte Gruppe meint und andere Menschen ausschließt, und dass man, glaube ich, auch in Bezug auf die Corona Pandemie sagen kann, auch hier können wir beobachten, dass diese Grenzen hat. Und ich würde sogar soweit gehen, wenn man sich andere Gesundheitskrisen, wie zum Beispiel die Aids-Pandemie, anschaut, dass auch selbst dieser Gestus, wir schützen hier alle, eigentlich ganz bestimmte Menschen meint. Nehme ich Oma und Opa. Also Sie verstehen, was ich meine, weil sozusagen solange, wie es in einer Subkultur vor allem konstruiert stattfindet, wie die Aids-Pandemie, damals sprach der "Spiegel" von der sogenannten Schwulensolche. Also dann sagen wir, das Problem der anderen. An welchem Punkt wird ein Problem der anderen zu ein Problem von uns uns? Uns, da sind wir nämlich beim Wir. Wann ist dieses Uns, wer entscheidet das? Und welche Konturen kriegt dieses Un,s dadurch, dass wir sehen, für wen Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt werden und bei wem man sagt: Also, ehrlich gesagt, da kann der Staat jetzt auch nichts machen? Und es ist ja eine Sache, die wir in Bezug auf rechte Strukturen in Bundeswehr oder Feuerwehr oder so die ganze Zeit beobachten können. Und die Coronapandemie und die Maßnahmen dagegen, die unterstreichen schon nochmal, dass es nicht an den Mitteln gefehlt hat, sondern am politischen Willen. #00:35:37-4#

Lena Gorelik: Ich würde gerne, weil Max alles zur Pandemie gesagt hat, würde ich gerne grundsätzlich über das Konzept der Solidarität kurz nachdenken. Das erste, was mir immer einfällt, ist, dass Solidarität in meiner Wahrnehmung sehr schnell sich begrenzt auf Themen, die einen selbst betreffen. Also, um ein ganz plakatives Beispiel zu geben: Ich war ziemlich zufällig hineingeraten, aber auf eine Demonstration in Bayern, wo seit der UN Behindertenrechtskonvention, die vor mittlerweile elf Jahren eingeführt wurde, die Sache mit der Inklusion an Schulen sich verschlechtert hat - muss man erst mal hinbekommen, nachdem wir da sowieso schon ganz weit hinten als Deutschland waren und Bayern nochmal weiter hinten war -, sich nochmal innerhalb von elf Jahren zu verschlechtern, schon ein Ding! Und auf diese Demonstration für Inklusion war quasi außer mir niemand, der nicht sichtbar eine Behinderung hatte. Also offensichtlich hat es alle anderen Menschen nicht interessiert. Das heißt sozusagen, Solidarität - also Menschen mit Kindern sind immer sehr solidarisch, was Kinderrechte angeht -, dann ist Solidarität, finde ich, immer etwas, was einen auch so ein bisschen ausruhen lässt. Also, Politiker/innen zeigen sich immer sehr solidarisch bei rassistischen, und antisemitischen, und wir stellen uns hin, und dann sagen wir, in diesem Land gibt es keinen Raum für Antisemitismus, was Abstruses, weil wenn es den nicht gebe, müsste man sich ja nicht hinstellen. Und dann zeigt man sich solidarisch und das ist dann wie so etwas Abgehaktes auf der To-Do-Liste, weil dann muss man nichts weiter tun, weil man hat sich solidarisch gezeigt. Deswegen finde ich, Solidarität ist oft auch so ein bisschen so einen Ausweg, um Dinge nicht tun zu müssen und sich solidarisch zu zeigen. Da, wo es unbequem wird, geschieht, glaube ich, noch relativ häufig - und wenn Menschen das tun, dann wird ihnen ganz schnell Empfindlichkeit vorgeworfen. Und das sind so Punkte, die mir jetzt einfach spontan bei dem Begriff eingefallen sind. #00:37:59-5#

Doktor Claudia Globisch: Ja, finde ich auch sehr spannend, dass du eigentlich den Solidaritätsbegriff als ein Interesse beschreibst, also dass du ja jetzt auch Interessensgemeinschaften - also solidarisch ist man, wenn man ein gemeinsames Interesse hat. Und da hört im Prinzip dann auch die Solidarität auf, also in dem Sinne, was recht exklusiv ist. #00:38:19-7#

Lena Gorelik: Ja, und dann vielleicht noch ein letzter Punkt ist, dass, wenn man sich solidarisch meint zu zeigen oder auch zeigt, dass das einen oft von der Frage entbindet, wofür man denn mitverantwortlich sein könnte. Also, wenn ich mich solidarisch, ich mach's wieder ganz plakativ, wenn ich nach dem Mord an George Floyd mich auf eine Demo gegen Rassismus in den USA bewege, dann muss ich mich nicht fragen, was an Rassismus eigentlich in Deutschland stattfindet. #00:38:56-4#

Max Czollek: Genau. Oder ich muss mich selbst in den USA nicht fragen, ob ich da Teil dran hatte, weil ich bin ja gerade auf dieser Demo. Also das, finde ich, ist ein schöner Gedanke. Also ich glaube, ich lege den Finger da rein. Aber ich glaube, es geht nicht nur um geteiltes Interesse, es geht schon auch um eine bestimmte ideologische Fantasie davon, wer mein Problem ist, und wer nicht. Also, wenn ich im Sinne einer völkisch rassistischen Perspektive sage, der deutsche Arbeiter, der muss unterstützt werden, dann muss ich dafür kein deutscher Arbeiter sein. Aber ich habe eine Fantasie davon, wer Teil meines Raumes ist und wer nicht. Und wenn ich sage, die Rumänen, die in NRW - hat Laschet damals gesagt -, in NRW waren Erntehelfer aus Rumänien, die haben auf sehr engem Raum miteinander gewohnt und dann haben sie Corona bekommen und dann hat Laschet dazu gesagt, die Rumänen, die feiern halt gerne. Oder noch ein Beispiel: Neukölln, ein Bezirk in Berlin, hatte die höchste Inzidenz in Deutschland und es hieß natürlich sofort klar: Klans und Jugendliche, die sich nicht benehmen können, was man halt so weiß man oder denkt zu wissen, wenn man Neukölln hört. Und einen Tag später war der Spitzenreiter Berchtesgaden und es war genau null Erklärung da, warum. Und das ist doch erstaunlich, weil Berchtesgaden, was weiß ich, da wohnen ältere, reiche Menschen. Ja, die haben wahrscheinlich kein Verantwortungsgefühl und fahren die ganze Zeit weg. Also so. Wenn schon Stigmatisierung, dann in alle Richtungen. Und das passiert nicht. Und daran sieht man, glaube ich auch, dass selbst medial bestimmte sozusagen Automatismen existieren, die eben nicht gleichermaßen austeilen, sondern den einen Verantwortung zuteilen, während die anderen unsichtbar bleiben. #00:40:43-7#

Doktor Claudia Globisch: Heimatministerium, genau, fällt mir auch gleich ein. Gerade in Bayern, aber auch "Eure Heimat ist unser Alptraum", der Titel eine Sammelbandes, in dem Max Czollek, du, ja auch publiziert hast. In Lenas Buch spielt jetzt Heimat als Begriff keine Rolle. Aber Fragen von sich wandelnden Selbstverortungen. Und nachdem ich die Bücher und eure Texte kenne, weiß ich, dass euer Verhältnis zum Begriff der Heimat ein kritischer und dekonstruktiver ist. Aber welche Alternativbegriffe würdet ihr für Selbstverortungen wählen? Beziehungsweise, was sagt ihr, wenn etwas zu Hause ist? #00:41:35-1#

Lena Gorelik: Ja, wenn etwas zu Hause ist, dann sage ich zu Hause. Exakt so. Also über den Begriff Heimat lässt sich in meinen Augen nichts Positives sagen. Ich muss den, glaube ich, auch nicht noch mal dekonstruieren. Wir haben einen Heimatminister, also ich bin mir sicher, dass seine und meine Definition, egal welche Themen es angeht, sich nicht überschneiden. Wir müssen ja gar nicht diskutieren. Ich finde, der Begriff Heimat, der ja entwendet wurde von einem von einem rechts oder konservativ orientierten Diskurs, der zum Beispiel nicht zulässt, dass man das Wort Heimat ins Plural übersetzt und von Heimaten spricht. Es ist aber auch nochmal eine Frage, die ähnlich wie das Jüdische, finde ich, für mich eine Frage ist, die eben von außen mit Erwartungen gesetzt besetzt ist. Also ich merke zum Beispiel bei Lesungen, wenn ich gefragt werde, wo meine Heimat ist, dann schon die Hoffnung im Raum steht, also je nachdem, wo ich bin - das unterscheidet sich von Region zu Region, und auch Großstadt und Land ist anders -, aber in bestimmten Regionen habe ich das Gefühl, wird gehofft, dass ich sage, meine Heimat ist Deutschland. Es ist eine Frage, die mit einer bestimmten Erwartungshaltung an bestimmte Menschen gestellt wird und andere eben nicht. Und es ist eine Frage, die ich ich mir zum Beispiel nicht stelle. Also auch sozusagen nach Begriffen. Es gibt dann ja auch immer vielleicht, dass Heimat und Zuhause etwas anderes ist. Ich muss das für mich nicht feststellen. Ich muss Zuhause weder festhalten, was Jüdischsein bedeutet, in irgendwie bestimmte Schubladen und Definitionen aller Wörterbuch gepresst. Noch muss ich feststellen, bis da und da geht zu Hause, hier fängt Heimat an. Das hat sich aber 1997 geändert. Das sind Fragen, die mit einer Erwartungshaltung von außen gestellt werden. #00:43:48-4#

Max Czollek: Ja, auch da wieder nur Ergänzung. Ich glaube, ich bin jetzt den dritten Tag in Folge in Bayern unterwegs. Erst war ich in Regensburg, dann war ich in Bamberg und heute bin ich hier in Nürnberg. Und ich habe schon das Gefühl, dass es vielleicht auch eine Art Kommunikationsproblem zwischen einem Berliner wie mir und bei einem bayerischen Publikum gibt. Weil in Berlin ist Heimat wirklich kein Begriff, den man so nebenbei benutzt. Man sagt nicht, meine Heimat ist die Dönerbude. Oder vielleicht sagt man nur, meine Heimat ist die Dönerbude, weil in jedem anderen Zusammenhang wäre es völlig unangemessen. Berlin ist nicht meine Heimat. So würde man es nicht sagen, glaube ich. Und deswegen scheint es auch so eigenartig, wenn dann Leute plötzlich anfangen, von Heimat zu sprechen, weil man fühlt sich so aufgeschreckt und hat das Gefühl, jetzt passiert hier irgendwas politisch. Nur um dieses, sagen wir mal, Übersetzungsproblem zwischen Bayern und Preußen zu thematisieren. Dementsprechend glaube ich, dass sozusagen, wie Sie privat über Dinge reden, wo Sie herkommen oder so, das finde ich ehrlich gesagt, zweitrangig. Interessant ist die Frage, was das auf politischer Ebene bedeutet. Der politische Heimatbegriff ist der, der mich überhaupt nur interessieren kann. Und da muss ich sagen, ich finde es schon bemerkenswert, dass Leute direkt mit der Wahl der AfD ins Parlament 2017 angefangen haben, in allen Parteien sich selber als Heimatparteien zu bezeichnen. Das ist kein gutes Zeichen für den Heimatbegriff. Und interessant finde ich auch, dass Heimat dann häufig begründet wurde, unter anderem von Robert Habeck, als ein Begriff, der fühlt sich halt gut an. Wo ich sage: Ey, wir haben in diesem Land schon echt viele Dinge getan, die sich gut angefühlt haben, aber nicht gut waren. Gutes Anfühlen ist überhaupt kein Argument, sondern man muss die Dinge auch tun. Und ich glaube, wenn du den Heimatbegriff benutzen willst, dann zeig mir, wie du es machen willst, ohne dass er problematisch ist. Und dieses, die Praxis wird es entscheiden, da habe ich das Gefühl, das fällt immerhin runter. Es gilt auch für Erinnerungskultur. Ja, du willst, dass die Dinge wieder gut werden? Ja, dann gibt doch mal Dinge zurück! Dann zahl doch mal das Geld, was du den Leuten weggenommen hast! Dann gib die verdammten Kunstwerke an die Menschen zurück, von denen es geklaut wurde, und so! Alles Dinge, die nicht passieren. Das ist fast so, als wäre die symbolische Handlung eine Ersatzhandlung. Man baut das Holocaust-Mahnmahl, damit Opa nicht ins Gefängnis muss, weil er Juden erschossen hat. So sieht die Rechtsprechung aus. Dass die Leute nämlich am Ende nicht in den Knast gekommen sind. Und dann von Erinnerungskultur zu sprechen -ich schweife ab -, aber dann von Erinnerungskultur zu sprechen, ist schon erstaunlich, weil das ist eine Ersatzhandlung gewesen. Der Kniefall ist eine Ersatzhandlung, um was anderes nicht tun zu müssen. Von einem Menschen, der selber überhaupt nicht nötig hätte, auf die Knie zu fallen. Sie sehen, wir kommen von einem ins andere. Ich glaube, interessant am Heimatbegriff ist, dass er am Ende, glaube ich, immer eine Harmonisierung bedeutet. Heimat ist ein harmonisierender Begriff, der eigentlich alle Dinge, die problematisch sind, ausschließt. Was ist denn mit rechtem Terror? Ja, das meine ich ja nicht, wenn ich Heimat sage. Ja, aber wir leben hier Post 45 in Deutschland. Deine Kindheit hat doch nicht stattgefunden in der Klappermühle am rauschenden Bach, sondern hier. Und hier in Bayern war Wehrsportgruppe Hoffmann. Hier war NSU in diesem Land. Das ist Heimat. Wenn Sie Heimat sagen wollen, müssen Sie das mit meinen. Und dann ist die Frage, ob wir das noch gerne als Heimatbegriff benutzen. #00:47:34-7#

Doktor Claudia Globisch: Ja, ich finde den Hinweis auch nochmal gut, dass der von verschiedenen Parteien in Wert gesetzt wurde, also nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich. Beispielsweise waren gerade die Grünen dabei, also in den Wahlkampagnen, den Heimatbegriff auszuwerten. Eben mit Bildern von Bergwelten und der Verbindung. Es war eine politische Strategie, also Wahlstrategie auch. #00:48:11-8#

Doktor Claudia Globisch: Vielfalt, beziehungsweise radikale Vielfalt. #00:48:11-9#

Max Czollek: Ich würde mal anfangen, einfach nur, weil es ein konkretes Konzept ist und dann, glaube ich, können wir über Vielfaltskonzeptt reden. Weil das ist ein Modell, was im Institut für Social Justice und Radical Diversity entwickelt wurde - unter anderem von meiner Tante Lea Czollek und ich bin jetzt mittlerweile auch Teil von diesem Institut - und viele von den Konzepten, die in "Desintegriert euch!" und in "Gegenwartsbewältigung" auftauchen, sind irgendwie verbunden mit diesem Institut und mit diesen Ideen. Und da geht es jetzt erst mal um eine Antidiskriminierungskonzept, wo es darum geht, die verschiedenen Diskriminierungsformen zusammenzudenken und auch ein Modell von, nicht Solidarität, verbündet sein, aber ein Modell von gemeinsamem Handeln in Anerkennung unserer Differenzen zu denken. Und der Begriff der radikalen Vielfalt, der hieß früher eigentlich Vielfalt, aber dann wurde dieser Begriff ab den Nullerjahren immer stärker von so Managementdiskursen übernommen und von quasi Rethoriken, die sagen: Vielfalt, die uns bereichert. Karneval- oder kulturenmäßig. Und radikale Vielfalt will sich davon abgrenzen und einen Punkt markieren, an dem Vielfalt immer auch die Kritik von Hierarchie und Diskriminierung und das Hinarbeiten auf eine Gesellschaft zu denken, die gerechter ist und in der man ohne Angst verschieden sein kann. Und das unterscheidet sich von den Sonntagsreden, das Vielfalt, die uns Bereich hat, sondern das meint wirklich im Zweifelsfall Umverteilung und es meint eine gleich gleiche Form von Anerkennung für Menschen und die Möglichkeit für Menschen - und das ist vielleicht angesichts der Diskussion diesen Jahres auch noch mal wichtig - sich selbst zu definieren und nicht von außen die ganze Zeit definiert zu werden. Das sind alles Dinge, die Teil eines Konzeptes der radikaeln Vielfalt sind. #00:50:12-3#

Doktor Claudia Globisch: Ist es eher ein individualistisch gedachtes oder vielleicht auch ein kollektives? Und ist es eher eine Analyse von jetzt bestehenden Dynamiken oder eine Utopie? #00:50:25-6#

Max Czollek: Dann antworte ich jetzt noch mal kurz. Sorry. Ich glaube, das Interessante ist, und das spielt dann wieder in der "Gegenwartsbewältigung" eine Rolle, dass wir in einer Situation sind, die man vielleicht mit Marx als eine klassischen Basisüberbaukonflikt bezeichnen könnte. Die Gesellschaft ist eine andere geworden. Und darum können wir sie heute schon anders denken. Und gleichzeitig kommen die politischen Konzepte noch nicht hinterher. Wir operieren in der Gegenwart mit politischen Modellen wie dem der Integration, die aus einer ganz anderen Zeit stammen und die Phantasien davon formulieren und transportieren, wie eine gute Gesellschaft eingerichtet sein muss, damit sie funktioniert. Nämlich hierarchisch geordnet, relativ homogen und irgendwie mit einer bestimmten Kultur. Und da muss man einfach sagen, die Gesellschaft heute ist einfach so nicht mehr. Die sieht so nicht mehr aus. Es gibt keinen Punkt mehr, an dem man sagen könnte: Alle, die hier herkommen, die werden jetzt Deutsch. Sondern den Blick muss man eigentlich umdrehen und sagen, das, was wir deutsche Gegenwart nennen, ist bereits das Ergebnis des Einflusses radikal unterschiedlicher Perspektiven. Und vielleicht, wenn wir uns die Geschichte anschauen, ist es auch in der Geschichte so. Juden sind doch nicht darum interessant, weil sie irgendwann Deutsche wurden. Das Integrationsdenken würde so argumentieren. Juden haben einen wichtigen Beitrag zur deutschen Kultur geleistet, weil sie Teil der deutschen Kultur wurden. Nein, nein. Juden haben vielleicht einen Beitrag zu dieser Kultur geleistet, weil sie Juden blieben. Das ist eine andere Art zu denken. Und ich glaube, darum geht es. Auch mit dem Konzept der radikalen Vielfalt in der pluralen Demokratie, nämlich zu überlegen, wie können wir eigentlich Unterschiedlichkeit so denken, dass sie nicht permanent als zentrales Problem gedacht wird wie im Integrationsmodell, sondern als die Grundlage dieser Gesellschaft? Das ist am Ende das, worauf Radical Diversity zielt. #00:52:27-4#

Doktor Claudia Globisch: Also, was sind aus deiner Sicht auch die Fallstricke der radikalen oder auch der Vielfalt oder Hemmnisse? Und leidet die Vielfalt in der Krise? #00:52:39-2#

Lena Gorelik: Ob die Vielfalt in der Krise leidet, ja, definitiv. Ich glaube, ich kann hier auch nur ergänzen, mein Problem mit dem Gedanken der Vielfalt ist ein ähnliches wie das Problem der Solidarität, weil ich glaube, dass sehr, sehr, sehr viele Menschen sich theoretisch zur Vielfalt jederzeit bekennen, erst recht, wenn sie bei einem Straßenfest in Form von Essen aus unterschiedlichen Ländern stattfindet. Da haben wir alle nichts dagegen, also vielleicht die AfD nicht, aber die meisten Menschen. Und was nicht dabei geschieht, ist, dass man sich die Strukturen dahinter anschaut und die Strukturen der Verteilung von Ressourcen, diskriminierende Strukturen. Die schaut man sich nicht an, weil, wenn man die sich anschauen würde, dann würde man feststellen, dass es eben nicht reicht, Essen aus verschiedenen Ländern bei Straßenfesten zu verkaufen. Und deswegen habe ich ein Problem mit diesem Begriff der Vielfalt, der Diversity, weil sich dazu Bekennen relativ einfach ist und weil das auch oft abgetan ist über so eine Repräsentation von oben. Also, in unserem Gremium haben wir Diversity vertreten. Das hat an den Strukturen im alltäglichen Leben, an Bildungsinstitutionen, etc. noch lange nichts geändert. Und auch da kommt es mir eben vor wie so ein Häkchen auf der To-Do-Liste. Und das ist, glaube ich, das Problem an dem Begriff Vielfalt, der sehr viel verspricht und dem zuzustimmen einfach sehr einfach ist. #00:54:25-7#

Max Czollek: Und ich hab gerade mit einer Kollegin einen Artikel geschrieben über den Punkt, und ich glaube, das können wir ganz gut auch beobachten, dass Vielfalt ja zwar abgefeiert wird, aber an einem gewissen Punkt zum Problem auch wird. Und wir kennen das aus unterschiedlichen Kontexten. Zum Beispiel in der Kopftuchdebatte. Solange wie die Reinigungskraft das Kopftuch trägt, ist das kein Problem. Wenn es jetzt die Lehrerin trägt, haben wir eine Debatte. In Bezug auf die Frage feministischer Perspektiven in der Wissenschaft. Solange die quasi einfach eine Bereicherung sind, ist es okay. Aber wenn die tatsächlich sagen, dieses Gedicht auf dieser Fassade an der Alice Salomon Hochschule ist nicht okay, haben wir eine Debatte, weil Leute sagen, so weit geht's, jetzt geht's aber zu weit. Also jedes Mal, wenn eine Vielfalt reale Konsequenzen hätte dafür, wie wir diese Gesellschaft denken und wie sie eingerichtet ist, sagt man, ne, ne, jetzt geht es mir uns hier aber ein bisschen zu weit. Darauf würde ich mal achten, weil ich glaube, das ist der Punkt, wo sich eine Rhetorik der Vielfalt unterscheidet von einem realen Versuch, die Gesellschaft so einzurichten, dass sie Raum lässt für diese Vielfalt. Das wäre, glaube ich, der interessante Punkt, wo es quasi nicht nur Essen ist aus verschiedenen Ländern, sondern tatsächlich sich die Küche verändert. #00:55:40-6#

Doktor Claudia Globisch: Ihr habt schon angesprochen, dass Vielfalt auch Konflikte - also die Akzeptanz von Vielfalt geht bis zu einem gewissen Punkt und es lassen sich aber auch Konflikte beobachten. Und da würde ich gerne jetzt nochmal auf das Wort oder auf das Konzept und auf die Formen und Prozesse von Erinnerung und auch vielfältiger Erinnerungen und sich vielleicht auch miteinander in Konflikt tretende Erinnerungsformen zu sprechen kommen. Ich denke dabei vor allen Dingen auch an die Debatte, die auch in der Wissenschaft als multidirektionale Erinnerung diskutiert wurde und eigentlich meint, also tatsächlich immer fragt, welchen Stellenwert hat der Holocaust? Ist der etwas singuläres? Also im Verhältnis zu anderen kolonialen Genoziden. Und da würde mich aus eurer Sicht interessieren: Wie nehmt ihr beide die Debatte wahr? Seht ihr euch auch hier positioniert? Ist es auch etwas Vielfältiges, also jetzt nicht im Sinne von Bereicherndes? Oder inwiefern seht ihr Konflikte in diesen unterschiedlichen Ansprüchen, unterschiedlichen Erinnerungsansprüchen, sag ich jetzt mal. #00:57:03-2#

Max Czollek: Ich glaube, das alles sind riesige Debattenkontexte, die wir jetzt, glaube ich, wirklich nicht rekonstruieren können. Debattenkontexte, die reichen bis zurück in die 50er Jahre und die Frage der Singularität und an welchem Punkt die eigentlich auftaucht als eine Behauptung in Bezug oft oder eine Feststellung in Bezug auf Jaure. Ich muss sagen, ich habe das Gefühl, das Gespräch wird einfach falsch geführt. Ich finde, wenn man sagt, das ist eine Diskussion, die entweder Holocaust oder entweder Jaure oder Kolonialismus ist, ja, dann kann man ja nur verlieren. Was soll man denn dazu sagen? Wie soll man denn dazu antworten? Ich glaube, das Interessante ist doch viel mehr, und so würde ich es anordnen, dass wir eine dritte Position immer vergessen, nämlich die, die diese Art von Erinnerungsaufmerksamkeit zuteilt. Und die verbindet damit bestimmte Erwartungen. Und diese bestimmten Erwartungen nach Entlastung, nach Wiedergutwerdung und so weiter, die regulieren den Zugang zum Erinnerungsgeschehen. Es ist also überhaupt nicht ausgeschlossen, dass auch eine postkoloniale Kritik Teil dieser Art von Gedächtnistheater wird. Und wir werden nichts gewonnen haben, wenn es so ist. Das heißt, die Frage ist: Wie können wir die Räume öffnen eigentlich dafür, dass nicht nur Versöhnlichkeit permanent auf dem Programm steht, sondern auch die Untröstlichkeit, dass die Geschichte so passiert ist, wie sie nun mal passiert ist. Und ich glaube, das wäre ein echter Bruch. Und ich glaube, da gibt es kein Problem. Ich habe kürzlich mit Mohamed Amjahid ein Podcast aufgenommen. Es ist genug Trauer für alle da, haben wir gesagt. Es gibt kein Problem damit, Räume für Trauer zu öffnen. #00:58:50-7#

Lena Gorelik: Es ist nicht nur eine verschobene Frage, finde ich. Es ist auch tatsächlich, ich habe das empfunden oder empfinde das als eine Diskussion über die Erinnerung hinweg. Also es ist auch so ein Ausspielen von Gruppen gegeneinander. Es ist eine abgehobene, verschobene Debatte, die geführt wird, wo auch versucht wird, Gruppen gegeneinander zu instrumentalisieren. Wo ich einfach gerne sagen würde, das lassen wir nicht zu. Weil du auch vorhin von Verbündeten sprachst: Also das wird ja auch im Zusammenhang mit Antisemitismus, Rassismus, wird ja auch oft gegeneinander ausgespielt. So, über Antisemitismus haben wir genug geredet, jetzt reden wir mal über Rassismus. Beides passiert zur gleichen Zeit. Jetzt gerade wird irgendwo antisemitisch oder rassistisch agiert, in diesem Land, wahrscheinlich auch in dieser Stadt. Und das muss man nicht gegeneinander ausspielen. #00:59:55-1#

Doktor Claudia Globisch: Vielleicht, um auch so langsam zum Ende zu kommen, ich habe gerade auf die Uhr geguckt, und auch die Menschen, die hier sind, noch zu Wort kommen zu lassen. Wer jetzt auch noch Fragen hat, also, ich hätte noch zwei kleine Punkte. Also eine Sache zu den ästhetischen Formen: Ihr schreibt ja in unterschiedlichen Formaten. Welches Publikum habt ihr da im Auge? #01:00:22-2#

Lena Gorelik: Also mich interessiert die Frage nach der Form und nicht die Frage nach dem Publikum. Also, ich suche die Form ausgehend davon, was mich inhaltlich interessiert und dann scheint eine Form immer passend. Also das ist dann schon immer klar, was ich als Roman verarbeite und was als Essay und was man auf die Bühne übersetzen kann. Und da steht das Publikum erst mal im Hintergrund, sondern es ist die Frage, wie kann ich es künstlerisch übersetzen? #01:00:57-1#

Max Czollek: Ja, das ist vielleicht wirklich ein Unterschied. Ich glaube, für mich ist die Frage, in welchen Raum spreche ich hinein, total wichtig, und das merkt man, glaube ich, auch an den Essays, dass ich permanent Ansprachen formuliere. Das sind aber Fake-Ansprachen, also, es geht genau um dieses Spiel von Nähe und Distanz mit dem Publikum. Und es entsteht erst in dem Moment, wo das Buch gelesen wird, oder in dem Moment, wo ich in einem Raum bin und eine Theaterarbeit mache. "Desintegriert euch!" funktioniert nur, wenn auf der anderen Seite Leute stehen, deren Erwartungen enttäuscht werden. Und ich glaube, diese Art von von Spiel zwischen "Das ist doch das, was ihr sehen wollt" oder "Aber das zeigen wir euch nicht, weil wir..." und so weiter. Das braucht ja eine Analyse davon, was ist überhaupt die Erwartung im Raum? Eine Analyse davon, was ist das Problem davon? Wie überschreiten wir das? Und wie bauen wir hier was neues zusammen? Also, ich glaube, sozusagen, diese Interaktion mit dem Publikum finde ich total reizvoll, sag ich mal. Und ich muss auch sagen, bei meinen Lesungen: Das ist der Punkt der Anarchie. Lesung selber ist langweilig. Ich habe das Buch ja selber geschrieben und jetzt schon 100 mal vorgelesen, aber Publikum ist krass! Publikum kommt auf die verrücktesten Ideen. Also, ich finde Publikum irgendwie das, was es auch interessant hält. Ich bin ein großer Fan von Publikum, auch wenn es manchmal nicht so cool ist. Aber das ist trotzdem irgendwie der Unterschied zu: Ich lese, ich bin zu Hause. So vielleicht. Also so Publikum und Form, ehrlich gesagt, ich finde diese Klaviatur in Form von Theater über Lyrik über Essay bis hin zu Ausstellung, die ich jetzt gerade mache. Und Promotion ist ja auch eine Form - ein sehr langes, langweiliges Gedicht, würde ich sagen, ist eine Promotion. Es gibt ein Set von Regeln und die muss man so gut wie möglich durchziehen auf 400 Seiten. Ich habe mich manchmal gelangweilt beim Promovieren. Auf jeden Fall, ich glaube, das Interessante ist, dass diese verschiedenen Formen unterschiedliche Dinge möglich machen. Und auch jetzt hier, wo wir hier sitzen, macht was anderes möglich, als wenn wir per Zoom miteinander zu tun hätten oder als wenn Sie alleine zu Hause sitzen und ein Buch lesen. Und das, glaube ich, finde ich irgendwie interessant, über die Möglichkeiten und Grenzen und so nachzudenken, die diese Form bieten. #01:03:24-7#

Doktor Claudia Globisch: Meine letzte Frage für heute: Wer hat euch inspiriert? Was sind eure Vorbilder, Heldinnen? #01:03:33-5#

Lena Gorelik: Die Liste ist einfach wahnsinnig lang. Also jetzt vor diesem Roman habe ich mich viel mit Literatur auseinandergesetzt, in denen Menschen, deren Geschichten häufig nicht erzählt worden sind oder auf eine bestimmte Art und Weise erzählt worden sind, die sich, man möchte fast sagen, getraut haben, diese Geschichte authentisch zu erzählen. Auch mit Schmerz zu erzählen. Gerade, wenn es um Migrationsgeschichten geht, abseits zu erzählen von dem Narrativ "Mir ging es ganz schlecht in dem anderen Land. Dann kam ich nach Deutschland und alles wurde gut" oder in die USA oder wohin auch immer, die Form gefunden haben, die vielleicht über Genregrenzen gearbeitet haben. Das hat mich sehr bewegt und inspiriert, vor oder im Schreibprozess. Aber es gibt auch 1000 andere Arbeiten, wie "Desintegriert euch!". Die Liste wäre sehr lang. #01:04:43-8#

Max Czollek: Same. #01:04:47-8#

Doktor Claudia Globisch: Gut. Ja, danke euch. Wir sind mit vielen Begriffen und Themen irgendwie durch. Und ich würde einfach ins Plenum übergeben, wenn sich noch verschiedene Fragen angehäuft haben. #01:05:05-2#

Publikumsfrage: Ja, also, ich möchte noch mal auf das Thema Antisemitismus eingehen. Das sollte ja auch der Schwerpunkt sein, Antisemitismus, Rassismus heute Abend. Und gerade auch viele von den Moslems, sie sind ja geprägt in ihrem Land und kommen dann hier rüber. Was denkt ihr zu dem importierten Antisemitismus? Könnt ihr was dazu sagen? Das ist meine erste Frage. Die zweite Frage ist die: Also, ich kenne ja auch Judentum, aber nur, also meine Auffassung vom dem ist das Religiöse. Die Feste sind ja biblisch, und ich praktiziere ja auch die biblischen Feste, nimmt da dran teil, weil ich kenne ja auch Juden, die diese feiern, ich gehe ja auch in die Synangoge mit. Und könnt ihr mir nochmal ganz kurz erklären: Was ist eigentlich ein Judentum ohne diesen religiösen Aspekt? Ohne diese religiösen Feste. Wie kann man sich das vorstellen? Ohne den Zionismus, wie Herzl. Ganz abgekoppelt vom Staat Israel. Wie kann man sich da ein Judentum vorstellen? #01:06:12-7#

Doktor Claudia Globisch: Wollt ihr? Also, es war recht viel. #01:06:17-0#

Lena Gorelik: Ich würde mal den Anfang übernehmen und dir mal das Zweite überlassen. Also, ich tue mich unglaublich schwer mit dem Begriff des importierten Antisemitismus, weil es immer diese Tendenz gibt, den Antisemitismus überall sonst zu verorten, außer bei sich selbst. Es gab ganz lange den rechten Antisemitismus. Dann gab es den linken Antisemitismus. Jetzt ist es der importierte Antisemitismus. Ich bin gespannt, was als nächstes kommt. Es gibt nie den Antisemitismus aus der Mitte. Also, es gibt ihn in Studien, es gibt ihn nachgewiesen in jeder Befragung, aber es gibt ihn nie in den Debatten, weil es immer die anderen sind. Also, wenn ich mir Sorgen mache, dann mache ich mir Sorgen um den Antisemitismus und nicht um den einer bestimmten Gruppe, auf die sich jetzt gerade sehr einfach zeigen lässt. #01:07:06-4#

Max Czollek: Ja, dann übernehme ich die andere Frage. Die nach einem Judentum jenseits der religiösen Praxis. Ich glaube, das ist schon ein bisschen vielleicht auch eine Sache, die sich aus einer christlichen Perspektive ergibt, dass man glaubt, Jüdischkeit, das ist vor allem etwas Religiöses, weil man Christlichkeit als eine Religion versteht. Und man tendiert ja dazu, die Dinge, die man für sich selber kennt, auch für das andere zu denken und zu sagen: Also, wenn Christentum ein Format eines Glaubensbekenntnisses, einer bestimmten religiösen Praxis, die Heil oder Verdammung bedeutet, dann muss es im Judentum genauso sein. Das Jugendtum funktioniert nicht so oder nicht nur so. Das Judentum ist mindestens stereo in dem Sinne, dass es auch eine quote and quote ethnische Gemeinschaft ist. Es ist möglich, ein atheistischer Jude zu sein. Es ist eigentlich nicht möglich, ein atheistischer Christ zu sein. Dann hast du dein Heil verwirkt. Und das sozusagen ist ein großer Unterschied. Aber das ist jetzt schon historisch gesprochen, das gilt schon immer. Und jetzt kann man aber sagen, in der Gegenwart kommen noch andere Dinge hinzu. Und die haben was mit den Pluralisierungseffekten von Bevölkerung oder Gegenwart im Allgemeinen und natürlich auch im Judentum zu tun, dass zum Beispiel innerhalb des Judentums, des religiösen Judentums, bestimmte Praxen, bestimmte Begehrensformen mit dem Tode bestraft werden. Das sind Dinge, die sind verboten einfach. Im Christentum ja auch. Und was machen jetzt also Menschen, die diese verbotenen Praxen dennoch ausüben? Und da, glaube ich, öffnet sich einfach ein Raum von Zugehörigkeit, der vielleicht sozialer ist, der was mit einer Zugehörigkeit zu einer Familiengeschichte oder insgesamt der Geschichte zu tun hat, der die Frage von ethnischer Zugehörigkeit oder religiöser Zugehörigkeit nochmal anders anordnet und sagt: Jüdisch sein, das ist auch Kultur, das ist auch eine Geschichte. Und eine Geschichte, die wir auch über eine bestimmte Literatur, über bestimmte Musik und so weiter von unseren Familienmitgliedern und Älteren vermittelt bekommen können. Und es ist, glaube ich, in Deutschland nicht zuletzt auch eine Geschichte der Zerstörung. Und auch das ist wichtig. Es gab mal einen Film, der hieß "Ein ganz gewöhnlicher Jude", wo Ben Becker einen Juden spielt. Ich mochte den Film ganz gerne, auch wenn er so ein bisschen plakativer - also die ganze Story: Er wird eingeladen, um in einer Schulklasse als Jude zum Anfassen zu sprechen und wehrt sich die ganze Zeit. Es ist eigentlich ein einziger Wutanfall dieser Film. Ist sehr schön. Und irgendwann zieht er ein Familienbild raus und sagt: "Wisst ihr, was der Unterschied ist zwischen uns und euch? Ihr guckt auf euer Familienbild und ihr seht Krebs, Herzschlag und Altersschwäche. Wir gucken auf unser Familienbild und wir sehen Treblinka, Dachau und Buchenwald." Das ist ein Unterschied. Und ich glaube, auch das ist natürlich eine Art, ob man will oder nicht, wie Jüdischkeit auch konstruiert ist. Über diese Art von Zerstörung, von Abwesenheit. Also, ich glaube sozusagen, es gibt viele Dinge, die Jüdischkeit mitbedingen, die nicht nur eine religiöse Praxis sind. #01:10:37-1#

Publikumsfrage: Es sind eigentlich zwei fragen. Woher kommt denn dieser Antisemitismus? Kein Mensch wird als Antisemit geboren. Und dann die Frage, was kann man gegen den Antisemitismus machen? #01:10:51-7#

Lena Gorelik: Also die Frage, gerichtet an jüdische Menschen, was kann man tun gegen Antisemitismus, und die Frage an Menschen of color gerichtet, was kann man tun gegen Rassismus, ist so ein bisschen, als würde man ein Kind, das von anderen zusammengeschlagen worden ist, fragen: Was kann man tun, damit die dich nicht mehr zusammenschlagen? Oder als würde man Frauen fragen: Was kann man tun, damit die nicht mehr sexuell belästigt werden? Die Frage richtet sich an die Falschen. #01:11:25-3#

Doktor Claudia Globisch: Ja, vielen, vielen dank. Ich sehe aber hier noch eine Frage. Bitte. #01:11:34-4#

Publikumsfrage: Hallo, vielen Dank, dass ich noch die Möglichkeit bekommen habe. In Nürnberg wird gerade diskutiert, dass das Reichsparteitagsgelände umfunktioniert wird zum neuen Opernhaus. Wie würden Sie das denn bewerten vor dem Hintergrund des Gedächtnistheaters? #01:11:52-9#

Max Czollek: Ich war heute im Kongresshaus. Ich bin heute sehr früh aufgestanden in Bamberg, um ins Kongresshaus zu gehen, weil wir da mit dem Schauspiel Nürnberg, aber im Mai, eine Reihe von künstlerischen Interventionen machen werden. Aber ich meine, wenn man so ein Ding hier in der Stadt stehen hat, ich wüsste auch nicht, was ich machen würde. Ich meine, allein dieses Kongresshaus sieht ja aus wie das Olympiastadion auf speed. Es ist ja total krass. Und ich muss auch sagen, ich glaube, die beste Zwischennutzung wäre, einen riesigen Technoclub da rein. Oder einen großen Schwulen-Technoclub oder so. Ja, aber ich meine, also, es ist wirklich, überall Darkrooms rein. Das sozusagen rekrutiert doch diese Nazi-Nummer irgendwie effektiv. Und, also ich finde, im Uebel & Gefährlich in Hamburg haben sie es ja auch gemacht. Ich finde das die charmanteste Art, ein Nazi-Gebäude umzufunktionieren, inden man da einfach nicht eine richtig harte Rave-Szene reinlegt, so vielleicht. #01:12:58-4#

Doktor Claudia Globisch: Ja, danke für die Nachfrage, das hätte mich auch noch interessiert, die Frage Kongresshalle, aber auch Umgang mit der Zeppelin-Bühne und dem Reichsparteitagsgelände. Es ist schon eine wirklich Jahrzehnte lange Debatte und es gibt viele künstlerische Konzepte dazu und auch diese künstlerische Aktion des Regenbogenpräludium, die er sehr umstritten war. Also deswegen danke ich auch für die Antwort, jetzt zumindest in Bezug auf die Kongresshalle und deren mögliche Umnutzung oder Zwischennutzung. #01:13:33-3#

Grazyna Wanat: Sie hörten den Audiomitschnitt vom Publikumsgespräch mit lena Gorelik und Max Czollek. Wenn Sie mehr über die Moderatorin erfahren wollen, Frau Dr. Claudia Globisch, Soziologin, Antisemitismusexpertin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, wo sie zum Teilhaberchancengesetz und den sozialen Folgen der Covid Pandemie forscht, empfehle ich Ihnen die dreizehnte Folge unseres Podcasts vom zehnten September 2020. Und wenn Sie uns loben wollen oder einen Verbesserungstipp für uns haben oder aus einem anderen Grund Kontakt aufnehmen wollen, schreiben Sie bitte an bz.podcast@stadt.nuernberg.de. wie heißen sie ja nicht umsonst? Kontaktaufnahme, und freuen uns auf ihre Nachricht. #01:14:32-6#

Mitschnitt des Podiumsgesprächs zum Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“.

Die Folge besteht aus dem Audio-Mitschnitt des Live-Gesprächs mit Lena Gorelik und Max Czollek, das im November 2021 im Bildungszentrum Nürnberg stattgefunden hat. 

Wer redet über wen, wer spricht mit wem – und wer behält die Oberhand im gesellschaftlichen Diskurs? Wie muss sich die Gesellschaft wandeln, damit Menschen gleichermaßen Solidarität erfahren? Wer gehört zum »Gemeinsam gegen Corona«? Welche Automatismen und Projektionen werden aktiviert, wenn in Deutschland mit – und über - Jüdinnen und Juden gesprochen wird? Welche Assoziationen weckt das Wort Heimat? Und welchen Vorschlag hätte Max Czollek für den Umgang mit den Nazi-Bauten (Kongresshalle)?

Lena Gorelik ist Publizistin und Schriftstellerin, Autorin von mehreren Romanen („Meine weißen Nächte“, „Die Listensammlerin“). Ihre Eltern emigrierten 1992 mit ihr – der damals 11-jährigen – als sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge aus Russland nach Deutschland. Lena Goreliks aktuelles, autobiografisches Buch heißt WER WIR SIND und erzählt eben diese Geschichte: Ein Mädchen reist mit den Eltern, der Großmutter und ihrem Bruder nach Deutschland aus, in die Freiheit. Was sie dafür zurücklässt, sind ihre geliebte Hündin und letztendlich ihre ganze Kindheit. Im Westen merkt sie, dass sie jetzt eine andere und «die Fremde» ist. 
Auch Max Czollek, Publizist und Lyriker, beschäftigt sich viel mit den Fragen der Herkunft und der Identität – und damit, wie sie Menschen in der Gesellschaft positionieren. Damit, wie mit Zuschreibungen von außen die Identitäten konstruiert werden – was zum Beispiel bedeute, dass von einer Jüdin, einem Juden in Deutschland ein besonderes Verhalten erwartet wird. Czollek bezeichnet diese Mechanismen als „Integrationstheater“ und beschreibt in seinem Buch DESINTEGRIERT EUCH Strategien, das Theater zu beenden. Sein aktuelles Buch, GEGENWARTSBEWÄLTIGUNG ist ein Manifest für die plurale Gesellschaft.
Mitten im Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ entbrannte in den deutschen Feuilletons eine heftige Debatte über jüdische Identität – die sich leider sehr persönlich um Max Czollek drehte, nachdem Maxim Biller in seiner ZEIT Kolumne schrieb, Czollek sei kein Jude im Sinne der Halacha, da seine Mutter keine Jüdin ist. Auch diese Debatte wurde in unserem Gespräch thematisiert. 
Moderiert wurde das Gespräch von Dr. Claudia Globisch, Soziologin und Antisemitismusexpertin. 
Die Besucher der texttage.nuernberg hatten bereits im letzten Jahr die Gelegenheit, Lena Gorelik live bei uns zu erleben, als sie ihr Buch WER WIR SIND vorgestellt hat. 

Mehr über das Literaturfestival texttage.nuernberg.

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Aufgenommen am: Samstag, den 25. November 2021 
Veröffentlicht am: Donnerstag, den 27. Januar 2022
Moderation: Dr. Claudia Globisch
Im Gespräch: Lena Gorelik und Max Czollek

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