Jean-Francois Drozak, was haben Briefkastenschilder und Comics mit Erinnerungskultur zu tun?

Ansage: KontaktAufnahme. Der Podcast des Bildungszentrums Nürnberg. #00:00:10-9#
Cristina Gleich: Herzlich Willkommen zu einer neuen Folge des BZ Podcast. Mein Name ist Cristina Gleich und ich freue mich heute über meinen Gast Jean-Francois Drozak, Theaterpädagoge und Kulturdesigner. Begründer von Kunstdünger und der Nordkurve. Hallo. #00:00:41-7#
Jean-Francois Drozak: Hallo! #00:00:42-3#
Cristina Gleich: Sie sind in ganz unterschiedlichen kulturellen Arbeitsbereiche tätig. Deswegen habe ich überlegt, erstmal mit einem Ereignis anzufangen. Und zwar: Vor circa drei Jahren stand ein Mann vor ihrem Haus und er wollte sehen, wo seine Großeltern in Nürnberg gelebt haben. Da hat sich eine Tür geöffnet. Zu einer Reise in die Vergangenheit. Wer war dieser Mann und was hat diese Begegnung ausgelöst? #00:01:18-9#
Jean-Francois Drozak: Also der Mann heißt Dr. Allain Jesuran und er ist Bürger Belgiens, wie ich. Ich habe nämlich auch die belgische Staatsbürgerschaft und habe auch in der gleichen Stadt gelebt wie er. Und zwar in Brüssel. Und Allain Jesuran, ist Jude. Und wir haben vor etwa drei Jahren erfahren, dass das Haus, was meine Frau und ich gekauft haben, voraussichtlich, damals noch nicht klar, ...zu dem Zeitpunkt entweder nur unter Wert verkauft wurde, vor der Machtergreifung Hitlers oder aber sogar zwangs verkauft wurde. Wir wussten es nicht genau und für uns war das ein Schock, weil wir uns einfach auch die Frage stellen mussten, ob das Eigentum, welches wir erworben haben, zumindest ethisch nicht unsers ist. Also es war erstmal ein Schock. Wo wir dann bald gemerkt haben, dass es wichtig ist, der Geschichte nachzugehen. #00:02:31-0#
Cristina Gleich: Und wie sind Sie dieser Geschichte dann nachgegangen? #00:02:38-1#
Jean-Francois Drozak: Ja, also zunächst einmal. Ich habe eine Woche gebraucht, um es einzuordnen. An dem Tag, wo alle an Allain Jesuran bei uns vor der Tür stand, war ich als Kuratoriumsmitglied einer Stiftung in der Israelitischen Kultusgemeinde in Nürnberg, also zum gleichen Zeitpunkt, als er kam. Und da hat uns der Vorsitzende der Kultusgemeinde erzählt, dass die Geschichte zwar sehr gut aufgearbeitet ist nach der Machtergreifung des Nationalsozialismus, aber die Zwangsenteignung, die Repressalien vor der Machtergreifung nicht richtig aufgearbeitet ist. Aus seiner Sicht. Das heißt, mit diesem Eindruck bin ich nach Hause und plötzlich war das das Thema. Also die Geschichte Europas ist in unsere Privaträume eingestürmt, sozusagen. Zudem ist es so, dass zu dem Zeitpunkt. meine Frau da war. Sie hat ihn, Allain Jesuran, willkommen geheißen. Was mich auch zu diesem Zeitpunkt bewegt hat ist: Ist dass Allains Familie, also sein Großvater von Polen nach Nürnberg gezogen ist, während mein Großvater, der ebenfalls Pole ist, deswegen heiße ich auch Drozak, nach Brüssel ist und dann in dem Kohlebergbau von Charleroi in der Region gearbeitet hat. Während dann die Familie Jesuran von Nürnberg nach Belgien geflüchtet ist. Dort im Untergrund leben musste. Während mein Großvater ebenfalls in den Untergrund musste, da man als Polen damals von die Nazis, als diese in Belgien einmarschiert sind, genauso in Haft genommen wurden. Und diese Verstrickungen oder diese Ähnlichkeiten der Geschichten unserer Verwandten oder Vorfahren, hat das Ganze sehr persönlich gemacht. Da hätten wir uns natürlich Gedanken darüber machen können, ob wir ein Institut befragen, welches für uns Recherchen machen könnte. Sicherlich wäre der eine oder andere historisch Interessierte begeistert gewesen, anhand so einer Situation herauszufinden: Was ist denn da genau passiert? Aber wir haben uns dafür entschieden, dass wir Schülerinnen und Schüler aus dem Dürer Gymnasium einladen, ein Projekt-Seminar zu machen. Mit der Bitte so viel Informationen zusammenzufinden, zusammenzubringen, damit die Familie Jesuran die Situation einordnen kann, was damals tatsächlich passiert ist. Denn die Familie Jesuran hat zwar immer bruchstückhaft von der Verwandtschaft erfahren, was das hätte sein können und auch widersprüchliche Jahreszahlen der der Flucht, aber ich glaube, in so einer Situation war es das Wichtigste, dass die Familie einfach Fakten bekommt. Was ist denn wirklich passiert? Für uns war das auch wichtig, um zu wissen, welche Verantwortung wir als Familie gegenüber der Familie Jesuran haben. Also welche Verantwortung die Familie Drozak gegenüber der Familie Jesuran ran. Und wir haben uns für ein Gymnasium entschieden, weil wir das Gefühl hatten, dass gerade junge Menschen sich durch so ein Projekt auch der Vergangenheit annähern können. Dass es partizipativ ist und die jungen Menschen einfach ein Thema bekommen, wo ihr Ergebnis nicht für die pädagogische Mülltonne ist. Wo sie eine Art Mediation durch eine Recherche, bis hin zu einer gutachterlichen Stellungnahme für zwei Familien erarbeiten müssen. Und das haben sie auch sehr gut gemacht. #00:07:28-6#
Cristina Gleich: Und die Überlegung, jetzt so zu recherchieren, haben Sie zusammen mit der Familie Jesuran gehabt, oder? #00:07:41-4#
Jean-Francois Drozak: Ja, so ist es. War uns sehr wichtig. Das war mir und meiner Frau wichtig. Immer die Perspektive der Opferfamilie einzunehmen. Also, immer zu fragen: Was braucht ihr? Was wünscht ihr euch? Und in jedem der Schritte immer abzufragen oder im Gespräch zu bleiben, in welche Richtung die Familie Jesuran gehen möchte. Denn unsere Erinnerungskultur in Deutschland ist sehr stark geprägt von der Mehrheitsgesellschaft. Aber eigentlich ist das die Opferperspektive da sehr, sehr wichtig. Denn es ist ja nicht meine Geschichte. Es ist auch nicht die Geschichte der Stadt Nürnberg, sondern das ist Familiengeschichte der Familie Jesuran. Und wir wissen auch aufgrund der Erfahrung von anderen Holocaust Überlebenden, dass sich Traumatisierungen über Generationen hinweg weiter vererben. Also man sagt zum Beispiel, dass die erste Generation gar nicht sprechen konnte. Die zweite Generation ist die Generation der Therapie, die ganz viel spüren, was in der ersten Generation nicht mehr gespürt wurde. Sie müssen einen Weg finden, mit diesen Emotionen umzugehen, ohne es selbst erlebt zu haben. Die dritte Generation ist frei, darüber zu sprechen. Und die vierte Generation kann mehr oder weniger unabhängig davon was die Vorfahren erlebt haben, Entscheidungen treffen. Also wir reden davon, dass wir mit der Familie Jesuran die zweite Generation... Allain Jesuran , gehört zur zweiten Generation nach dem Holocaust. Seine Kinder sind die dritte Generation. Und es ist nicht nur ein politisches soziologisches Projekt gewesen, sondern auch ein psychologisches. Und da ist es ganz wichtig, die Menschen, die es betrifft, immer wieder zu fragen: Wie weit willst du gehen? Was willst du dir gern anschauen? Und dass diese Menschen die Kontrolle darüber haben, über einen Prozess und über die Erinnerungskultur. Wenn sie das beachtet und beachten will, dann ist es ganz wichtig, immer die Perspektive der Menschen im Auge zu haben und diese Perspektive einzunehmen. Deswegen haben wir immer wieder gefragt: Was wünschst du dir? Möchtest du lieber einen Professor oder könntest du dir vorstellen das mit jungen Menschen zu machen? Und er hat immer sehr stark gesteuert, in welche Richtung er gehen möchte. #00:10:48-2#
Cristina Gleich: Das heißt, in diesem Projekt sind die Schüler einseits mehrmals in Kontakt mit der Familie gekommen und andererseits haben sie sich auch irgendwo anders Informationen geholt und recherchiert. Das war wirklich so eine Kombination. #00:11:09-1#
Jean-Francois Drozak: Also die Jugendlichen haben sich natürlich überlegt: Okay, liebe Familie Jesuran, Liebe Familie Drozak, ihr möchtet von uns eine gutachterliche Stellungnahme, wie man mit so einer Situation gut umgehen kann. Also haben sie, über 1 1/2 Jahre, einen Plan gemacht, wie sie zu dieser gutachterlichen Stellungnahme kommen können. Und dazu hat gehört, dass man Interviews mit der Familie Jesuran gemacht hat. Dass Begegnungen stattgefunden haben, sowohl hier in Nürnberg als auch in Belgien. Die Jugendlichen haben recherchiert. Sie sind in die Archive der Stadt Nürnberg und darüber hinaus gegangen. Es gab Internetrecherchen, und aus allen diesen Puzzleteilen haben sie versucht, die Geschichte der Familie zu rekonstruieren. #00:12:06-6#
Cristina Gleich: Und diese Geschichte ist zu einem Comic geworden. #00:12:13-6#
Jean-Francois Drozak: Ja, die Jugendlichen haben ab der dann Hälfte, also nach ungefähr acht, neun Monaten, angefangen sich Gedanken zu machen. Ja, was machen wir denn mit den Ergebnissen der Recherchen? Wie wollen wir das präsentieren? Und da haben wir gemerkt: Es gibt zwei Möglichkeiten. Ein Booklet, also ein Buch mit den Ergebnissen. Mit allen Dokumenten und Originaldokumenten. Natürlich fotokopiert, mit einer Zeitachse, auch mit der gutachterlichen Stellungnahme. Das ist auch geschehen. Das ist ein Buch von ungefähr 50 Seiten, das sie erarbeitet haben. Aber sie haben auch gemerkt, dass es ihnen nicht reicht. Sie haben verstanden, dass Ihre eigene Generation mit so einem Booklet nicht viel anfangen kann. Also es ist einfach nicht zeitgemäß und zu hochschwellich. Also haben sie sich überlegt, wie sie die Geschichte der Familie Jesuran auf eine Art und Weise präsentieren können, dass viele junge Menschen erfahren, dass es diese Familie gab, also dass sie Bürgerinnen und Bürger von Nürnberg waren und was ihnen geschehen ist, in der Zeit. Und ein Grund, warum sie sich auch für ein Comic entschieden haben, ist, dass Brüssel, die Kulturhauptstadt, Die Hauptstadt des Comics ist. Brüssel ist der Comic und da gilt der Comic als Hochkultur. Seit den 20er Jahren, schon 1920 hat Belgien Comics produziert und daher ist es auch für den Herrn Dr. Allain Jesuran ein sehr schönes Medium gewesen. Das heißt, nach der Recherche kommt die Form. Nach den Inhalten sucht man nach Formen. Und da ist auch das Thema Erinnerungskultur wichtig gewesen. Immer wieder die Familie Jesuran zu fragen: Wie stellt ihr euch das vor? Wie soll zum Beispiel ein Denkmal, ein inneres Erinnerungsdenkmal für euch ausschauen? Sollen wir eine Tafel in der Volprechtstraße an die Wand machen? Das machen ja viele: Hier hat Familie Jesuran gewohnt. Geflohen. So und so! Wer ist in Auschwitz gestorben? Oder auch die Stolpersteine sind ein Thema. Und da hat die Familie Jesuran ganz klar gesagt, dass sie sich so eine Art von Erinnerungskultur nicht vorstellen können. Also sie sind auch Gegner von Stolpersteinen. Sie haben das für sich, nicht als den Weg gesehen. Und das haben wir respektiert und haben nach anderen Wegen mit ihnen gesucht, wie sowas aussehen kann. Haben erstmal ein Graffiti als vorläufiges Denkmal, bei uns in der Volprechtstraße an die Wand gemacht. Und haben dann gemeinsam mit dem Menschenrechtsbüro der Stadt Nürnberg nach weiteren Wegen gesucht. Haben einen Künstler beauftragt, ein kleines Denkmal vor dem Haus zu setzen. Wir haben auch uns überlegt, wie eine Form der Erinnerungskultur zum Dialog einlädt. Und da kam dann die Idee der Briefkästen, also als die Opfer der Shoah, die hier fliehen mussten oder deportiert wurden. Da gibt es ja eine sehr gute Aufarbeitung der Stadt Nürnberg. Es gibt ein Gedenkbuch, da steht genau drauf, wer fliehen musste, wer gestorben ist, auch wo sie gewohnt haben, wenn man es weiß. Ihr letzter Wohnsitz in Nürnberg. Und wir haben uns überlegt, dass wir einfach aus diesem Gedenkbuch, die Namen rausschreiben. Dass wir Namensschilder machen und Bürgerinnen und Bürger aus Nürnberg einladen, dass sie in ihrem Wohnhaus auf ihrem Briefkasten irritierend diesen Namen drauf machen auf dem Briefkasten, um dann mit dem Haus ins Gespräch zu kommen. Und sowas Allain Jesuran sehr gefallen, weil es den Diskurs anregt. Und zwar auf eine Art und Weise, wie er sich das vorstellt. Also es wurde nicht im überstülpt oder seiner Familie, sondern es war sein Wunsch, sein Interesse das dann so zu gestalten. Natürlich im Dialog mit uns, weil wir immer Ideen entwickelt haben. Aber er hatte man das Vetorecht und hatte auch das Recht, auch Ideen einzubringen. #00:17:36-5#
Cristina Gleich: Von der Perspektive finde ich sehr interessant, weil wie kann man für andere dann sagen, was am besten wäre? Mit mit dem Schildern. Das heißt, dass jeder sich in Nürnberg, in allen Stadtteilen, dann melden kann und sagen ich würde gerne so ein Schild haben, obwohl in meinem Haus keine deportierten Juden gewohnt haben. #00:18:03-5#
Jean-Francois Drozak: Ja, genau. Wir haben das sehr offen gelassen, verspielt. Es ist nicht eine Form der Erinnerungskultur, die historisch sagt an dem Standort hat jemand gewohnt, sondern ich biete meinen Briefkasten an, dass dieser Mensch wieder symbolisch am Briefkasten steht. Es gab Momente, wo ich gemerkt habe: okay, jetzt berührt es mich oder jetzt frappiert es mich. Man kann natürlich Erinnerungskultur wissenschaftlich betreiben oder mit einer gewissen Distanz. Oder man kann auch Erinnerungskultur so gestalten, dass man sich auf den Weg macht, irgendwann mal an den Punkt zu kommen, wo es jetzt ums Eingemachte geht. Also wie schaffe ich das auf eine sanfte Art, Menschen und mich selbst, als jemand der ich mich in diesen Prozess begebe, auch in eine Situation zu geben, wo ich das Erschütternde von diesem Gräueln erlebe? Und bei mir war das gerade bei diesem Erinnerungswerk, die Erfahrung, dass sich beim 25sten, den ich abgeschrieben habe... also jeder Name musste abgeschrieben werden. Da musste ich im Internet das Namensschild bestellen. Also ich musste den Namen eingeben und bestellen, dass das kommt. Das ist eine Systematisierung und diese Systematisierung haben die Nationalsozialisten genauso gemacht. Sie haben auch angefangen, Leute nach Namen, Geschlecht, was hast du für einen Besitz gehabt einzuteilen. Bis zur Ermordung wurde alles archiviert. Wie ich, der ja eigentlich das andere will, benutze genauso die gleiche Form der Systematisierung, der Objektivierung dieser Opfer. Zwar um ihnen zu gedenken...und in diesem Moment hat es mich so erschüttert, dass ich genauso angefangen habe, diese Menschen systematisch zu behandeln. Und ich glaube, dass Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert das immer wieder durchbrechen muss. Diesen Moment, wo man diese Systematisierung beginnt, die Objektivierung eines subjektiven Leides. Diesen Zustand immer aufrechtzuerhalten, soweit möglich, dass wir wissen, das sind Subjekte gewesen, und es ist kein Objekt, keine Systematisierung. Und bei mir war das dann bei, ich glaube...ich sage es jetzt einfach mal ganz krass... Nummer 25. Wo ich dann das Foto gesehen habe von einem Mädchen, das so alt war wie meine Tochter und ich dann gemerkt habe, das könnte meine Tochter gewesen sein. Und dann habe ich geweint. Und plötzlich hat ist das alles aufgebrochen. Und dann ist mir klar geworden, was ich da systematisierte. Danach habe ich trotzdem die Namen eingegeben, aber mit einer anderen Haltung. Es geht um die Haltung, warum ich etwas mache und nicht nur, dass ich das mache. Und das war ein sehr bewegender Moment. Wo ich für mich gemerkt habe, es reicht nicht, einfach zu erinnern. Ich muss mich dem aussetzen. Und wie mache ich das, damit es nicht gezwungen ist? Aber wo ein Zugang trotzdem für jeden möglich ist, so dass aus einer Objektivierung trotzdem eine Subjektivierung wird. Und das war dann die Erkenntnis, eigentlich braucht jede Familie ein Erinnerungswerk. Jede Familie. Aber wie willst du das machen, bei Millionen von Opfern? Es ist nicht so einfach. Jede Familie bräuchte eine Möglichkeit und eine Begleitung, wenn sie sich das wünscht, dass für sie ein Erinnerungswerk, für ihre Vorfahren, gestaltet wird, und zwar von der Gesellschaft. Aber im Tempo und mit mit der Möglichkeit der Einflussnahme jeder einzelnen Familie. Für die Bewerbung zur Kulturhauptstadt haben wir das dann als Konzept übertragen. Also das, was wir mit der Familie Jesuran über 1 1/2 Jahre erlebt haben und das dann für weitere 100 Opferfamilien aus der Region nochmal zu wiederholen. Das war ein Ansatz der Erinnerungskultur, die das Individuelle in den Mittelpunkt stellt und nicht eine Erinnerungskultur, die symbolisch für Tausende und Millionen Menschen steht, weil die Zeitzeugen sterben. Es gibt diese subjektive Erfahrung bald nicht mehr. Also solange es die Zeitzeugen gab, ist es okay gewesen, Mahnmale zu machen. Aber wie sieht es denn im 21. Jahrhundert aus, wenn wir die Zeitzeugen nicht mehr haben. Wo gibt es dann noch den Moment, in dem ich sehe: Da bist du. Da bin ich oder da warst du und ich darf noch sein. Oder: Jetzt kann ich ein bisschen verstehen, was du für ein Leid erfahren hast und was es für Konsequenzen für dich in der Zukunft hatte. In deiner eigenen Biographie. Also da sind wir einfach an einem Wendepunkt. Also wie kann Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert ausschauen, ohne zu systematisieren? #00:24:36-6#
Cristina Gleich: Ja, im Bewerbungsprozess: Nürnberg, als Kulturhauptstadt Europas 2025. Was natürlich ein Schwerpunkt ist und bei so einer Stadt wie Nürnberg extrem wichtig. Jetzt haben Sie dieses Projekt erwähnt...da haben wir leider den Titel nicht. Welche Prozesse würden jetzt in Gang gesetzt werden oder geht das weiter? Ist das möglich? Hat vielleicht der Bewerbungsprozess an sich schon was gebracht? #00:25:13-3#
Jean-Francois Drozak: Also ich bin der Meinung, dass die Frau Dr. Lehner und der Herr Dr. Hans Joachim Wagner nicht verantwortlich dafür sind, ob ich Kultur machen kann oder nicht. Also diese Vorstellung, die Stadt hat mir jetzt was zu bieten, finde ich weltfremd. Natürlich muss die Stadt Kulturarbeit finanzieren und fördern, aber immer aus der Perspektive von 500.000 Bürgerinnen und Bürgern. Das heißt, eine Frau, Dr. Lehner, kann sich nicht hinstellen und sagen: Ich bin der Meinung, dass wir alle kleinen Künstlern und Kulturschaffenden fördern, damit sie einen guten Unterhalt haben. Es geht um den Output, es geht darum, was bietet Nürnberg seinen Bürgerinnen und Bürgern? Und die Vorstellung, dass dann dieser Bewerbungsprozess mir als Kultur für mich als Kulturschaffender gemacht wurde, finde ich absurd. Also es geht nicht um mich. Es geht auch nicht um uns Künstlerinnen oder Künstler. Es geht um die Stadt. Und wenn ich etwas anbieten kann, wo andere, die einen einen Überblick davon haben, dass das, was ich mache, für diese Stadt eine Bereicherung ist. Super. Aber als Kulturschaffender kann ich mir überlegen, für was übernehme ich die Verantwortung? Wie möchte ich die Stadt Nürnberg bespielen? Und dann übernehme ich auch die Verantwortung und dann übernehme ich auch die Finanzierung, suche die Finanzierung und alles was dazu gehört. Das Projekt Jesuran hat uns in den 1 1/2 Jahren 50.000 € gekostet und da kannst du nicht zur Stadt gehen. Ich verpflichte euch, weil das jetzt wichtig ist, sondern ich übernehme die Verantwortung, diese Gelder zusammenzubringen oder diese Gelder dann privat irgendwo zusammenzukriegen. Daher ist die Bewerbung... Es ist schade für die Stadt Nürnberg, aber wer das mit der Haltung angeht, dass jeder eine gewisse Eigenverantwortung hat, was hier an Kulturpolitik, Kulturarbeit realistisch realisierbar ist. Dann war das für mich eigentlich nicht ausschlaggebend, ob die Stadt Nürnberg diesen diesen Titel bekommt oder nicht. Es ist ein Diskurs gewesen und dieser Diskurs war wichtig. Also die Stadt Nürnberg macht alle 25 Jahre einen Identitätsfindungsprozess durch. Und der war jetzt dran. Das letzte Mal war vor 25 Jahren. Da ging es um eine große Jubiläumsfeier von Nürnberg. In der Zeit ist auch die blaue Nacht entstanden und viele andere Kulturideen. Kulturelle Ideen. Aber jetzt war das dieser Bewerbungsprozess. Da ging es um die Frage: Was macht uns als Stadt Nürnberg aus und wohin wollen wir gehen? Und dieser Prozess ist unabhängig davon, ob man dann den Titel bekommt oder nicht. Und sich als Kulturschaffender hinzustellen und zu glauben, dass die Stadt Nürnberg dann darauf hin uns alle fördert, ist wie gesagt weltfremd. Also mussten wir uns überlegen: Wie kriegen wir dieses Projekt? Wie wollen wir mit den Ergebnissen umgehen? Schließen wir das ab oder wollen wir eine zweite Etappe angehen und haben das recht früh entschieden, dass wir den Comic in so vielen Sprachen wie möglich übersetzen lassen wollen, und zwar von Ehrenamtlichen, weil Sprachcommunities in der Region sehr relevant sind. Wir haben um einen 40% bis 45 % Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund, hier in Nürnberg. Und ich bin selber Brasilianer, Belgier und Deutscher. Und ich weiß einfach, dass es was ganz anderes ist, wenn ich auf Portugiesisch was lese über die Stadt Nürnberg, als wenn ich es auf Deutsch lese, weil es einfach meine Muttersprache ist. Es geht anders ins Herz und ich glaube, dass es für viele andere Menschen aus anderen Kulturen, wenn sie den Comic Jesuran lesen, wenn er in ihrer Sprache gemacht wurde, ein Ausdruck der Wertschätzung ist gegenüber der eigenen Sprache und Community. Und das die Geschichte ganz anders in das Herz der Menschen hineingeht, als wenn ich es in meiner Zweitsprache, der deutschen Sprache lese. Andererseits ist es so, dass die Sprachcommunitys ja einen Beitrag leisten können gegen Antisemitismus. Das heißt, ich kann jetzt einen türkischen Mitbürger bitten, den Comic Jesuran, ehrenamtlich in seine Sprache zu übersetzen. Wir brauchen nur eine Finanzierung. Das einfach der Druck für diese Übersetzung da ist und dass der Grafiker bezahlt wird, um die Sprechblasen entsprechend umzugestalten. Dass das Buch dann in einer Fremdsprache, in der Fremdsprache oder in der Sprache dieser Sprachcommunity dann auch verteilt werden kann. Und wir haben jetzt den Comic in drei für die Metropolregion relevante Dialekte übersetzt. Ins Mittelfränkische, ins Oberfränkische und ins Oberpfälzische. Das war auch sehr spannend, dieser Diskurs. Viele fanden das auch befremdlich. Warum sollte man das, ins Oberpfälzische übersetzen? Verarscht man da nicht die jüdischen Mitbürger oder Bürger? Wo ich dann gesagt habe: Wisst ihr, unsere jüdischen Mitbürger von damals. Wenn die hier gewohnt haben, haben sie auch Dialekt gesprochen. Also der Dialekt gehört nicht den Deutschen, also den Ariern. Und wenn man die Filme sich anschaut über die Nationalsozialismus, dann werden Juden oftmals in Hochdeutsch oder in Jiddisch mit deren Klamotten und Kleidern präsentiert, entweder als Hochintellektuelle oder jüdisch orthodox. Und die Die Nationalsozialisten sprechen entweder bayrisch oder auch sehr eloquent. Aber ich möchte gern mal einen Film sehen zu der Zeit aus dem Nationalsozialismus, wo ein Jude bayerisch gesprochen hat. Da wird getrennt. Ja, und diese Trennung heißt: Du gehörst nicht zu uns. Und wenn wir jetzt den Comic aber ins Bayerische übersetzen. Ins Oberbayerische oder ins Mittelfränkische. Sagen wir damit: Die haben unter uns gelebt, Oder besser gesagt, ihr habt unter ihnen gelebt. Und dass das Menschen waren, die hier genauso Dialekt gesprochen haben. Und das gleiche gilt auch für das Türkische oder Chinesische. Insgesamt haben wir den Comic von Ehrenamtlichen in zehn Sprachen übersetzt oder übersetzen lassen. Und jedes Jahr sollen es weitere werden. Also es sollen immer mehr werden. Das heißt, die Idee ist jetzt nicht nochmal einen neuen Comic zu produzieren, sondern eben dafür zu sorgen, dass einfach im Laufe der nächsten Jahren dieser Comic für ganz viele Sprachcommunities zur Verfügung steht und sie dort als Wanderbücher zu verteilen. Dass jemand ein Buch liest und es dann weitergibt und weitergibt und weitergibt. Und wir haben den Comic auch der bayerischen Staatsregierung geschenkt, also dem bayerischen Staat. Und die Landeszentrale für politische Bildungsarbeit wird den Comic jetzt nochmal auflegen, so dass alle Schulen in Bayern den sehr, sehr, sehr, sehr günstig erhalten können für den Unterricht. Und die haben auch hierfür didaktisches Material entwickelt, damit Lehrkräfte den Comic im Unterricht tatsächlich nutzen können. Welche Fragen, welche Übungen kann man rund um diesen Comic machen? Das ist das Schöne an unsere Stadt und auch an diesem Bewerbungsprozess, aber auch an der Arbeit von Martina Mittenhuber und dem Menschenrechtsbüro. Dass wir immer das Gefühl hatten, dass wir zwar als Familie jetzt in einem ganz großen Dilemma stehen, eine identische Frage zu antworten. Aber wir waren nie allein. Und die Stadt Nürnberg hat das Recht, aus meiner Sicht, sich als die Stadt der Menschenrechte zu sehen. Denn das ist kein Luxus, sondern es ist eine gelebte Kultur. Und wir wurden von vielen, vielen Seiten unterstützt. Ein Beispiel: Die Denkmalbehörde. Die wird jetzt im Moment ganz schön durch den Kakao gezogen, wegen der Geschichte auf dem Reichsparteitagsgelände. Ja, aufgrund von Denkmalschutz und so müsste man das alles wegwischen usw. Ich will mich da jetzt nicht groß in diese Diskussion einmischen, denn das ist viel zu frisch. Aber die Denkmalbehörde hat von sich aus, als wir illegal ein Graffiti an einer Denkmal Fassade in Gostenhof aufgesprüht haben, eine Argumentation entwickelt, warum diese Graffiti an dieser Denkmalfassade sein darf. Nämlich aus historischen Gründen, weil es ein historischer Kontext ist. Und das ist eine gute Art und Weise ist, Erinnerung und Erinnerungskultur an einer Denkmalfassade zu vermitteln. Sie sind damit nach München gegangen und haben dort das okay bekommen. Und als wir dann ganz vorsichtig nachgefragt haben: Ich glaube, wir haben da etwas an ihnen vorbei gemacht und eigentlich hätten wir ja mit ihnen sprechen können. Wie kann es in der Zukunft aussehen? Hatten wir schon das Ergebnis. Die Denkmalbehörde hat gesagt: Wir haben das genehmigt, unabhängig von Ihnen. Hier ist das Papier, das Ihnen erlaubt, dass Sie dieses Denkmal, dieses Graffiti, ob das jetzt dann vielleicht nach einer Sanierung weiter oben oder links ist, ist egal, Sie können machen, was Sie wollen, Sie können diesen Graffiti da lassen, Sie können es auch nochmal umgestalten, wenn Sie wollen... Die Denkmalbehörde hat das genau verwalterisch begründet, warum das so sein darf. Und zwar auf eine Art und Weise, dass es wiederum kein Referenzfall ist für weitere Comics in Gostenhof. Es ist ein Liebesbrief einer Behörde. Wenn man Verwaltungsbriefe lesen kann, versteht man, dass sich da viele Leute echt ernsthaft Gedanken gemacht haben. Ich muss aber so einen Brief lesen können. Ich muss verstehen, was da drin steht. Es liest sich trocken, aber was ich da drinnen sehe, was die Nürnberger Denkmalbehörde gemacht hat, ist, dass sie uns einfach damit unterstützt haben. Sie haben uns, die Gleise gelegt, wie wir das für die Zukunft an der Fassade gestalten können. Und das ist das, was die Stadt der Menschenrechte ausmacht. Egal, wo wir waren. Ob wir in Archiven waren. Ob wir mit ihr gesprochen haben, weil wir mussten die die Beete mussten wir entsprechend umgestalten. Als wir mit ihrem zweiten Bürgermeister Christian Vogel, im Gespräch waren. Egal wo, wir wurden unterstützt. Und aus der Erfahrung heraus verstehe ich auch das, was im Reichstag, auf dem Reichsparteitagsgelände gerade passiert und wie's diskutiert wird, nicht ganz, denn ich kenne die Stadt einfach anders. Die, wenn man kooperieren will, wenn man anfragt, wenn man Anliegen hat, gerade zu dem Thema: Die Stadt, ganz, ganz offen ist. #00:38:55-4#
Cristina Gleich: Aber heißt das dann wirklich, dass so diese Interventionen, diese diese Aktionen als Diskussionsanstoß immer eine Rücksprache brauchen mit der Stadt? Soll das einfach frei passieren? Ist alles erlaubt, was nicht erlaubt ist? #00:39:19-5#
Jean-Francois Drozak: Ich denke, das ist ein gesellschaftlicher Diskurs, der jetzt gerade stattfindet. Da möchte ich mich jetzt nicht rauswagen mit irgendwelchen Beurteilungen, weil ich glaube, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt alle nicht genau wissen, was passiert ist und warum die Stadt eine Anzeige gemacht hat und wer wie was? Vielleicht haben sie auch einen Fehler gemacht usw und so fort. Es ist sechs sieben Tage her, da ist die Stadt letztendlich einfach überrumpelt. Aber eins fehlt mir in der Diskussion: Die Perspektive der Opfer des Faschismus. Was halten die von dieser Malerei auf dem Reichsparteitagsgelände? Wer ist gerade dabei zu diskutieren? Ist es die Mehrheitsgesellschaft? Wir diskutieren. Die einen sagen: Das ist doof mit der Anzeige, und die anderen sagen: Vielleicht ist es berechtigt mit der Anzeige. Und die anderen sagen: Na ja, da sieht man, wie Nürnberg mit Kunst und Kultur Prozesse umgeht. Es wären so viele Sachen gerade diskutiert, die sicherlich ihre Relevanz haben. Aber das ist die Falle. Wir reden gerade über den Nationalsozialismus. Wir reden darüber, dass da Menschen gestorben sind. Für viele ist das ein abstrakter Diskurs. Aber es gibt Menschen, die haben ihre Vorfahren nicht kennenlernen dürfen, weil sie umgebracht wurden. Was denken die denn dazu? Wie wollen sie denn in der Situation damit umgehen? Also angefangen von der Stadt, die vielleicht sich gefragt hat: Bevor wir es wegwischen, fragen wir mal die israelitische Kultusgemeinde, was sie davon hält, wie wir damit umgehen sollen. Oder die Leute, die sich jetzt äußern, auch im Stadtrat und und und. Da das Wort ergreifen für die hohe Kunst der Partizipation und der des Kommunikationsguerillas. Was denken sie denn? Was denken andere, nämlich die Opfer zu dieser Geschichte, die jetzt da passiert? Und ich glaube, das ist der Unterschied zwischen dem, wie wir damit umgegangen sind mit der Familie Jesuran an und wie Mehrheitsgesellschaft immer wieder in die Falle tappt. Nämlich: Es fehlt der Perspektivwechsel zu den Opfern. Und die miteinzubeziehen ist bei so ein Thema ganz, ganz wichtig. #00:42:11-3#
Cristina Gleich: Und so ist die Zukunft der Erinnerungskultur, indem man immer wieder zu der Rolle der Opfer geht und im Gespräch ist. #00:42:23-1#
Jean-Francois Drozak: Und mit der nächsten Generation nach den Zeitzeugen. Wir hätten auch irgendwelche hochkarätigen Leute fragen können: Wie gehen wir damit um? Aber wir haben uns die Frage gestellt: Was sagt denn jetzt die vierte Generation nach der Shoah dazu? Also ich gehöre zur dritten Generation, also die jungen Menschen, jetzt 14, 15, 16 Jahre alt. Was sagen die denn dazu? Wie stellen Sie sich Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert vor? Und wie stellen sich die Opfer des Nationalsozialismus das vor? Und noch toller wäre es: Wie stellen Sie sich die vierte Generation der Nachfahren der Holocaustopfer Erinnerungskultur vor? Das wäre noch die Krönung. Weil sie nämlich beides in sich haben: Die Offenheit für die Zukunft. Mit dem Wissen, dass das, was da passiert ist, ihre eigene Familiengeschichte geprägt hat. #00:43:28-8#
Cristina Gleich: Auf der anderen Seite mussten sich in diesem Projekt, welches die Schüler gemacht haben, sich die Schüler mit diesem Thema beschäftigen. Die Jugendlichen müssen sich selber gefragt haben: Was hat meine Familie in der Zeit gemacht? Was haben meine Vorfahren gemacht? Denn das wird sofort zu meinem Thema, in dem ich mich damit beschäftige. #00:43:55-7#
Jean-Francois Drozak: Genau. Ich muss mich dann damit auseinandersetzen. Ich muss ja irgendwann eine Position finden: Bin ich Schuld? Bin ich nicht Schuld? Diese Frage lässt sich auch ganz klar klären. Wenn ein Herr Doktor Allain Jesuran dasteht und den Jugendlichen sagt: Ihr seid nicht verantwortlich für das, was eure Vorfahren gemacht haben oder nicht. Das ist das Schöne in diesen Begegnungen, dass die Antworten dann auch von einem Herrn Jesuran kommen und die Jugendlichen dadurch einen Orientierungsrahmen haben, der ihnen hilft, Entscheidungen für ihre Zukunft zu treffen. Und diese Begegnungsarbeit, haben wir an bayerischen Schulen zu diesem Thema sehr gepflegt. Also Zeitzeugen Gespräche sind Teil des Lehrplans in Bayern und das ist auch gut so! #00:44:58-4#
Cristina Gleich: Was ich auch sehr interessant finde ist: Dieses Übersetzen in andere Sprachen ist sehr wichtig, da es ist natürlich die Sichtbarkeit, diese Familien, diese Geschichten aufzeigt. Auf der anderen Seite, mache ich, wenn ich das dann in anderen Sprachen mache, auch diese Communities, diese Menschen, die eine andere internationale Hintergrund haben, sichtbar. #00:45:27-4#
Jean-Francois Drozak: Es gibt auch Syrier. Es gibt Türken. Es gibt Spanier. Es gibt Russen, die sich gegen Antisemitismus engagieren. Und was ist das? Es ist doch das Beste, wenn ich deren Kompetenzen anfrage. Es gibt einen Pfarrer, Herrn Bischof Boom, der ist bekannt geworden, weil er im Rahmen einer Veranstaltung der NPD seine Kirchenglocken hat läuten lassen. Und deswegen konnte die Veranstaltung nicht stattfinden, weil die Glocken lauter waren als die Lautsprecher von der NPD und das ist durch die Medien gegangen. Und was ist das Attraktive daran? Der Bischof hat das genutzt, was er gegen den Faschismus, gegen den Antisemitismus hat. Und was mache ich denn mit einer Sprach Community? Wie kann ich sie anregen, dass sie ihre Kompetenzen einsetzen gegen Antisemitismus? Es gibt nichts naheliegender als Ihre Sprachkompetenz. Und da wird natürlich ein türkischer Mitbürger sagen: Cool, Endlich ist meine Sprache hier relevant! Oder der chinesisch Sprechende oder der vietnamesisch Sprechende. Und das hat eine Wirkung auf seine Community. Weil nicht die Mehrheitsgesellschaft sagt, wie etwas stattfindet, auch Prävention stattfindet. Sondern es kommt aus den Communities heraus. Und dann identifiziere ich mich doch viel, viel mehr mit unserer Stadtgesellschaft, als wenn einfach ein paar Menschen Programme aufstellen und sagen: So hat es zu sein und überall muss das so umgesetzt werden. #00:47:37-4#
Cristina Gleich: Ich würde gerne jetzt das Thema wechseln. Und zwar machen Sie Theaterprojekte in Schulen. Welche Themen werden da behandelt? Wie funktioniert das? #00:47:52-8#
Jean-Francois Drozak: Also ich werde beauftragt von Unternehmen oder Ministerien wichtige gesellschaftliche Themen mit der Form des Theaters an Schule zu vermitteln. Mit den Schulen also nicht von außen, sondern mit Schülerinnen und Schülern innerhalb der Schule. Und dazu gehört: Das Thema Depression im Jugendalter, Rechtsextremismus, die Energiewende, der Fachkräftenachwuchs für soziale Berufe und pflegerische Berufe, das Thema Kinderarmut, wie gehen wir mit Marken um, in unserer Gesellschaft? Wie ist Teilhabe möglich unter Jugendlichen? Also eigentlich alle gesellschaftlichen Themen, die Familien und gerade Kinder und Jugendliche betreffen. Die bespiele ich über das Theater an Schulen. #00:48:53-7#
Cristina Gleich: Und die die Themen werden dann zusammen mit der Schule entschieden oder welche Kriterien gibt es? #00:49:01-3#
Jean-Francois Drozak: Also ich suche mir immer die Themen aus. Ich schaue mir an, was ist gerade gesellschaftlich relevant ist und gebe mir dann für das Thema ungefähr drei Jahre Zeit, um daraus ein Projekt zu entwickeln, das dann an zahlreichen Schulen in Projektwochen durchführbar ist. Dazu gehört es, das Thema aufzuarbeiten, didaktisch und künstlerisch,es als Inszenierungsprozess anzulegen mit den Schülerinnen und Schülern an der Schule. Es muss ein sehr, sehr hohes Niveau auf der Bühne sein, und gleichzeitig ist aber auch die Förderung zu finden, dass diese Projekte umgesetzt werden können. Und zwar so, dass man pro Projekt mindestens 100 Schulen in 3-5 Jahren bedienen kann. #00:49:52-9#
Cristina Gleich: Und was sind aktuell die Themen für dieses Jahr? #00:49:58-5#
Jean-Francois Drozak: Also für dieses Jahr: Womit ich mich sehr intensiv beschäftigt, eigentlich schon seit zwei Jahren,drei Jahren, ist, die Zusammenlegung von drei pflegerischen Berufen zu einem nämlich die Generalistik, also die neue Pflegeausbildung. Früher gab es die Kinderkrankenpflege, die erwachsenen Krankenpflege und die Altenpflege. drei in sich abgeschlossene Berufe. Und die wurden seit Januar 2020 zu einem Beruf zusammengelegt. Und meine Arbeit besteht darin, für das bayerische Gesundheitsministerium und Pflege Ministerium diese neuen Berufe. Dieser neue Beruf, an Schulen zu kommunizieren, aber auch den neuen Studiengang, der des examinierten Pflegefachmenschen. Es gibt auch jetzt einen Studiengang, der reizvoll sein kann anstatt Medizin. Und mein Job besteht darin, das über das Theater zu kommunizieren. #00:51:03-6#
Cristina Gleich: Also junge Menschen, die Idee bringen: Leute, interessiert euch für diese Berufe. #00:51:12-4#
Jean-Francois Drozak: Die Fragestellung ist: Was könnte euch denn an diesem Studium interessieren? Oder was könnte euch an der Pflege interessieren? Das heißt, ich gehe mit den Jugendlichen auf eine Recherche, auf ein Rechercheabenteuer, eine Woche lang. Wir haben Gespräche mit Ex Pflege Expertinnen und Experten. Aber letztendlich ist es so, dass die Jugendlichen sich dann für sich, über die Szenenarbeit, das Thema journalistisch erarbeiten und das dann an ihren Mitschülerinnen und Mitschülern präsentieren. Und auch da ist die Haltung: Es geht nicht darum, dass ich irgendwo hingehe und den Kindern und Jugendlichen sage, was sie zu denken haben, sondern ich arbeite das mit ihnen aus, moderierend, was sie an dem Beruf interessant, aber auch nicht interessant finden könnten. #00:52:07-4#
Cristina Gleich: Und wie kann man sich das jetzt konkret vorstellen? Was passiert da? Sie kommen in eine Schule und sagen: Ja, also wer hat Lust, sich mit dem Thema zu beschäftigen, wer jat Lust Theater zu spielen? #00:52:20-2#
Jean-Francois Drozak: Wir machen vorher ein Casting. Die Jugendlichen ,die Interesse haben, werden eine Woche vom Unterricht befreit und in dieser Woche ist es wie ein Inszenierungsprozess. Man beginnt am Montag mit den Proben. Donnerstag haben wir normalerweise eine Abendaufführung, eine Premiere. Und Freitag Vormittag Schulaufführung, wo sich bis zu 500 Schülerinnen und Schüler dann das Ergebnis der acht köpfigen Jugendensemble Gruppe anschauen. #00:52:51-1#
Cristina Gleich: Und das wird dann am Ende für alle aufgeführt? #00:52:57-4#
Jean-Francois Drozak: Genau. #00:52:58-0#
Cristina Gleich: Und wie kommt das an? Wie wirkt das jetzt gerade mit dem Thema Pflege? #00:53:05-9#
Jean-Francois Drozak: Also ich habe die Erfahrung gemacht... Ich habe früher für ein pädagogisches Theater gearbeitet oder mein Praktikum bei solchen pädagogischen Theatern gemacht. Also unsere Tradition vom pädagogischen Theater ist groß in Deutschland. Da tun sich drei, vier Schauspielerinnen und Schauspieler zusammen, gründen ein Ensemble, machen ein Theaterstück, eben auch zu den gleichen Themen wie Rassismus, Depression usw. Dieses Stück ist aber von Erwachsenen. Von Erwachsenen produziert. Und die gehen dann an Schulen. Das gibt es auch zum Thema Englisch und Französisch. Dann sind Theaterstücke in Fremdsprachen. Und die kommen, bauen am Vormittag um 8:00 ihre Bühne auf und um 11:00 ist Aufführung und um 13:00 ist fertig. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Schülerinnen und Schüler eigentlich oft gar kein Interesse an dem haben, was die Erwachsenen da mal wieder für sie vorbereitet haben. #00:54:19-3#
Cristina Gleich: Es ist fremd. Es kommt von außen. #00:54:20-7#
Jean-Francois Drozak: Es ist fremd, es ist kurz und es kommt von außen. Sie kommen dahin für zwei Stunden. Und meine Arbeit, als ich damals ein Praktikum gemacht habe, war, die Technik und dafür zu sorgen, dass die Jugendlichen ruhig sind. Ja, und ich habe dann gemerkt, irgendwas stimmt hier nicht. Und auch das Ensemble, wo ich gearbeitet haben, immer wenn sie hier raus sind aus so einem Projekt, also immer wenn sie aus dem Zimmer gegangen sind, wirklich immer, haben sie über das Schulsystem gelästert. Sie haben gesagt: Was sind das für scheiß Lehrer! was sind das für Schüler! und so. Und ich habe mich gefragt: Warum macht ihr das dann? Wieso macht ihr das, wenn ihr Schule nicht liebt, wenn ihr so schulkritisch seid. Das kommt aus den 60er Jahren, sie ist selbst in den 90er Jahren, 2020ern, als Allüre noch da. Die außerschulische Bildung fühlt sich echt besser als die schulische Bildung. Das ist eine Allüre, die auch in diesen pädagogischen Theatern noch drin war. Und ich habe mir gedacht: Wenn ich merken würde, dass Schülerinnen und Schüler sich nicht für das interessieren, was ich mache, dann ist es doch mein Job, dafür zu sorgen, dass ich ein Angebot mache, das sie interessiert. Ich kann doch nicht die Schülerinnen und Schüler dafür verantwortlich machen, dass meine Leistung, die ich abliefere, sie nicht interessiert. Also muss ich doch an mir arbeiten. Und diese pädagogischen Theater sind ja auch richtig teuer. Du kannst da schon mal schön 3.000-4.000 € für so ein Projekt verlangen. Vier fünf Schauspieler, Technik und Hotel für zwei Stunden. Für zwei Stunden! Und es wird über das Publikum, über den Preis von pro Schüler wird es abgerechnet. Wir haben 500 Leute erreicht, haben 5.000 € bekommen, Eintrittskarte 10 € pro Schüler. Ja, rechnet sich. Kann man auch erklären. Und das müssen wir anders machen. Ich arbeite fünf Tage an einer Schule, und zwar mit den Schülern selbst. Und am Ende präsentieren Schülerinnen und Schüler das vor ihrer eigenen Schulfamilie. Und plötzlich sitzt da die Lisa und merkt, dass der Rudi auf der Bühne ist. Und es interessiert die Lisa, was der da macht, weil sie kennt den Rudi. Und der Gelaunt ist mit seinem Wohnwagen im Pausenhof. Und vorher hat es ein Casting gegeben. Das heißt, die Schule spürt, dass da was passiert. Über die ganze Wochen und sogar auch schon vier Wochen vorher, durch dieses Casting. Die wissen das, denn warum schläft der da? Warum können wir nicht in die Turnhalle? und, und, und. Das heißt, ich werde ein Teil der Kultur. Ich integriere mich in die Schule. Und das Tollste an meiner Arbeit ist, wenn ich am Ende gar nicht mehr relevant bin. Wenn die Schule nicht mehr sagt: Boah, der Herr Drozak hat was Tolles gemacht, sondern wir haben das gemacht, wir als Schule. Wir sind stolz, dass wir das gemacht haben. Wir sind stolz, dass wir zum Thema Pflege was so Tolles auf die Bühne gebracht haben und vermitteln konnten. Uns selbst vermitteln konnten, wie toll der Pflegeberuf sein kann. Und das ist der Unterschied zwischen: Ich komme von außen irgendwo rein oder ich integriere mich. Klar, ich bin ein belgobrasilianischer Bayer. Ich habe mich in drei Ländern integrieren können und auch müssen. Das heißt, ich kann das. Ich kriege das hin. Ich weiß, wie ich mich in ein System eingliedern kann, damit ich nicht als Fremdkörper wahrgenommen werde. Und ich glaube, dass das in der außerschulischen Bildung ganz wichtig ist. Schule nicht als das Feindbild zu sehen, nicht als etwas, was jetzt wieder mal vom Neuen reformiert werden muss, sondern dass Schule ein hoch komplexer Organismus ist, in dem sich ganz viele gesellschaftliche Fragen treffen und Fragen diskutiert werden. Schule ist faszinierend. Es ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Und entweder ich liebe Schule, dann kann ich da arbeiten oder ich habe da nichts zu suchen. #00:59:19-3#
Cristina Gleich: Ja, es ist ein sehr interessanter Ansatz und dieser verbindet sich auch, mit dem was wir vorher beim Thema Erinnerungskultur hatten, dieses partizipative. Das hat auch mit Augusto Boal und seiner Theaterpädagogik zu tun, wo es nicht immer diese festen Grenzen gibt. Hier sind die Schauspieler, hier ist das Publikum. Sondern dass man wirklich auch die Möglichkeit hat, sofort zu kommen, zu spielen, selber die eigene Situation, die eigenen Sorgen oder was auch immer, auf die Bühne zu bringen. #00:59:59-8#
Jean-Francois Drozak: Also der Augusto Boal hat konsequent, die Theatertheorie in der Moderne zu Ende gedacht . Also es gibt keinen, der das so konsequent durchgezogen hat. Wir haben früher ein griechisches Theaterstück gehabt. Es gab,Rudolf Stanislawski. Ich habe den gelesen. Die wenigsten haben ihn wirklich gelesen. Alle reden von Stanislawski. Ich habe ihn exerziert, weil ich das sehr wichtig fand. Aber das naturalistische Theater geht davon aus, die Bühne ist ein Aquarium, und das Publikum hat die Möglichkeit, da rein zu schauen. Die Leistung des Schauspielers oder der Schauspielerin besteht darin, sich in einer Art Biotop so in die Fantasie hineinzudenken und es dann auch ausdrücken zu können, dass das, was da passiert, real wird. Was hat Bertolt Brecht gemacht, der das als absurd hingestellt und hat gesagt: Nein, der Schauspieler ist immer Schauspieler. Wir müssen keine Traumwelt auf der Bühne produzieren. Es gibt das Publikum, das Publikum muss erkennen, dass es noch Publikum ist. Und die Schauspieler müssen immer aus der Rolle heraus nachvollziehbar machen, dass sie nicht nur die Rolle sind, sondern dass sie auch Schauspielerinnen und Schauspieler sind. Und dann vielleicht auch Brüche inszenieren, damit es immer wieder klar ist, dass wir nicht in eine irreale Fantasie abdriften, sondern dass am Ende dieser Selbstreflexionsprozess einfach in Gang kommt. Und was hat Augusto Boal gemacht? Der hat gesagt: Es gibt kein Publikum mehr, es gibt keine Bühne mehr, es gibt keinen Schauspieler mehr. Wir sind alle eins und wir machen alle Theater. Und viele Leute denken, dass er das Theater in Seminare, in den Seminarraum, reingeholt hat. Ja, klar, es gibt viele Leute, die Workshops machen. Aber das Spannende an Augusto Boal ist, dass er diese Frage Publikum, Bühne, Geschichte, Schauspieler auflöst. Aber nicht in Psychotherapie, sondern in einem soziologischen Theater, in der Soziologie, in der Politik. In dem man von der Frage: Was sagt uns das als Gesellschaft? Nicht für eine Selbstreflexion hin zu: Was ist meine Biographie? Das interessiert die nicht, das interessiert nicht. Der will nichts wissen, der will nicht trauern, der will auch nichts aufarbeiten. Der will eine Reflexion hin zu der Frage: Was unterdrückt uns denn als Gesellschaft? Dein Schmerz ist mein Schmerz und mein Schmerz ist der Schmerz von meinen Nachbarn. Wir haben alle diese Schmerzen und wenn wir alle diese Schmerzen haben, sagt es gar nichts über uns als Person aus, sondern als Gesellschaft. Und das hat mich so fasziniert. Das Theater eine Form ist, des Diskurs, des gesellschaftlichen Diskurses. Und ich glaube, viele Leute haben das missverstanden und denken: Das ist sowas wie ein cooler Psychotherapeut. Ist er überhaupt nicht. Und diese Auflösung vom Theaterraum macht ihn so faszinierend. Und es spornt mich ganz arg an, an Schulen zu arbeiten. Aber nicht, um therapeutisch zu arbeiten, sondern den Diskurs zu eröffnen. Und dass dieses Lehrmaterial, was die Lehrkräfte ihren Schülerinnen und Schülern vermitteln, dass es Momente gibt, in dem sie aufploppen als Erlebnis, als gemeinsames Erlebnis, als Schulfamilie. Dass sie sich mit dem Thema beschäftigen, aber nicht abstrakt, nicht objektiv, sondern subjektiv. Aber nie, um dann in eine Therapie zu gehen, sondern um zu merken das, dass was ich jetzt gerade erlebt habe, ganz, ganz viel über unsere Gesellschaft aussagt und veränderbar ist. #01:04:27-2#
Cristina Gleich: Das zeigt ein bisschen die Macht, die jeder hat, um Sachen zu verändern. Sie sind sehr viel unterwegs, jede Woche praktisch woanders, mit dem Projekt, mit den Projekten, mit den Schulen. Wo sind Sie zu Hause? #01:04:47-5#
Jean-Francois Drozak: Ich wohne in Gostenhof und ich habe einen Wohnwagen, einen Tourwagen als mein Büro und alles dabei. Und wenn ich in Bayern auf Tour bin, dann übernachte ich in Schulen, in diesem Wohnwagen. Also eigentlich wie so ein Zirkus. So kann man sich das vorstellen. Als die ganze Bühnentechnik habe ich in meinem großen Auto und aber auch den Tourwagen. #01:05:11-3#
Cristina Gleich: Also teilweise fest in Gostenhof, teilweise sehr mobil mit einem mobilen Zuhause #01:05:18-4#
Jean-Francois Drozak: Ja. #01:05:19-2#
Cristina Gleich: Hat es vielleicht auch mit dem, wie sie gesagt haben belgobrasilianischen Feier zu tun? Da haben wir zumindest zwei Dinge gemeinsam. Hat das vielleicht auch damit zu tun? #01:05:30-9#
Jean-Francois Drozak: Ja, also meine Mutter ist Physikerin und sie hat ein Stipendium in Brüssel bekommen. Und von Brüssel ist sie dann ans Max Planck nach München. Und ich hab mal gezählt, ich glaube bis zum meinem 16. Lebensjahr war ich an über 11 Schulen. Das heißt, ich habe mich immer wieder verabschieden müssen, bevor ich angekommen bin. Und es gibt eine soziologische Studie zu Menschen wie mir. Man nennt solchen Menschen: Global Nomads. Das heißt, die innerhalb ihrer Sozialisierung nicht verortet sind. Das sind Militärangehörige, Missionare, Botschaftskinder, Kinder von Unternehmensmitarbeiterinnen, die für große Unternehmen immer wieder woanders eingesetzt werden. Und die haben eine Sozialisation erlebt, die anders ist als jemand, der auf dem Land bis zum 18. Lebensjahr in einem Ort in einer Familie gelebt haben. Es gibt immer eine übergeordnete Idee, die uns immer wieder dazu bringt, weiterzuziehen, weiterziehen zu müssen. Meine Eltern mussten mir immer wieder erklären, dass da irgendwas von außen auf uns einwirkt, das der brasilianische Staat, uns erlaubt, uns dazu bringt, dass wir immer weiterziehen müssen. Für eine große, tolle Idee. Das heißt, bis zu meinem 16. Lebensjahr, habe ich das sozialisiert. Es gibt irgendwo eine tolle Idee. Bei Militärsangehörigen ist es was anderes. Und für Missionare ist es halt der Jesus. Wir müssen die frohe Botschaft weitergeben. Aber vom Prinzip her egal was es ist, es gibt immer etwas von außen, das uns dazu führt, dass wir weiterziehen. Die zweite. Sache, die mich ausmacht, ist, Ich kann sehr schnell Kontakt zu jemand bekommen. Ich möchte mit dem Menschen, alles, sofort erleben, weil es sein kann, dass man sich übermorgen wieder voneinander verabschieden muss. Das heißt, die Erfahrung, die ich gemacht habe, hat nicht dazu geführt, dass ich einen Abstand bekommen habe, sondern dass ich schnell alles mit einem Menschen erleben sollte, bevor man sich wieder voneinander verabschieden muss. Also ein intensives Leben zu führen. Das ist ein Teil davon. Aber auch, dass ich nicht lang an einem Ort sein zu kann. Und ich habe eine Frau geheiratet, diehier auf dem Land gelebt hat. In Hetzlitz. Bis zu ihrem 18. Lebensjahr. Die eine komplett andere Sozialisation hat und es für Menschen. Für mich ist es ganz schwierig, eine Partnerin oder einen Partner zu finden, der ähnlich tickt, also der mit mir auf Reisen geht. Es ist gar nicht so einfach. Und ich musste mir lange überlegen, ob ich vielleicht pathologisch bin. Bis ich es für mich verstanden habe. Bis ich diese Global Nomads oder manche nennen es auch The Third Culture Kids verstanden habe. Third Culture Kids ist die moderne Variante. Also das ist eine andere, eine dritte Kultur. Also nicht ich bin Brasilianer und zugleich Deutscher und Türke oder wie auch immer. Das sind unsere Migrationstheorien, die wir haben. Sondern es gibt Menschen für mich, die katapultieren sich raus aus den einzelnen Kulturen. Es gibt eine internationale Kultur. Eine Kultur der Diplomaten. Eine Kultur, in dem man ganz anders sein Leben organisiert. Mit anderen Wertematrixen. Wenn meine Frau zum Beispiel sagt: Sie schaut einen Menschen an und dann tut sie drei Jahre lang diesen Menschen beobachten und dann darf der sich ihr nähern. Bei mir ist innerhalb von kurzer Zeit. Da habe ich den Kontakt. Ich habe dadurch Enttäuschungen, weil man dann dadurch verletzt werden kann, wenn man Menschen zu nah an sich ranlässt. Ich langweile mich auch oft nach einem halben Jahr, weil ich mit dem Menschen schon alles erlebt habe. Während Johanna Verletzungen erlebt, weil sie in der Zeit, bis sie diese Menschen kennengelernt hat, diese Menschen wieder gegangen sind oder die Erwartungen nie erfüllt wurden, die man sich im Laufe der Zeit aufgebaut hat. Und wir haben sehr viel gerungen, wie wir denn miteinander leben können. Und dasWandern, welches ich zu meinem Beruf, zu einem Wanderberuf gemacht habe. Und das wir trotzdem irgendwo daheim sind. Das bereichert sich gegenseitig. Und das ist echt ein Glück, weil ich einfach als Mensch, der anders sozialisiert ist und ich will nicht sagen als Brasilianer oder Belgier, sondern als jemand, der innerhalb seiner Sozialisation einfach einen anderen Orientierungsrahmen hat, was Glück bedeutet. Einfach so einen tollen Menschen kennengelernt habe wie meine Frau Johanna, die in diesem Spannungsfeld für sich entdeckt, wie bereichernd so ein Typ ist. Und ich auch in ihr sehe, wie bereichernd es sein kann, einen solchen Menschen an meiner Seite zu haben. Aber es war ein langer Weg. #01:11:43-8#
Cristina Gleich: Kann ich mich vorstellen. Aber manchmal sind diese Unterschiede n einer gewissen Weise, komplementär. Wir müssen uns leider verabschieden. Ich bedanke mich ganz herzlich für diese tolle Gespräch. #01:11:59-0#
Jean-Francois Drozak: Ebenfalls. #01:11:59-9#
Cristina Gleich: Und wünsche weiterhin wirklich ganz viel Erfolg in Ihrer tolle Arbeit. Ciao. #01:12:10-7#
Jean-Francois Drozak: Ciao! #01:12:11-3#
Dieses Projekt/Diese Maßnahme/Initiative leistet einen wichtigen Beitrag, Nürnberg schrittweise inklusiver zu gestalten. Es/Sie ist Teil des Nürnberger Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Den Ersten Aktionsplan hat der Nürnberger Stadtrat im Dezember 2021 einstimmig beschlossen. Um die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit und ohne Behinderung in Nürnberg zu verwirklichen, wurden und werden umfangreiche Maßnahmen entwickelt und umgesetzt. Weitere Informationen finden Sie unter www.inklusion.nuernberg.de.

Die Perspektive der Opfer fokussieren - dafür plädiert Jean-Francois Drozak. Ein Gespräch über Perspektivenwechsel der Erinnerungskultur und der Theaterpädagogik
Ein unerwarteter Besuch hat der Theaterpädagoge und Kulturdesigner Jean-Francois Drozak 2017 bekommen, als der belgische Arzt Allain Jesuran an seiner Haustür klingelte. Da begann für beide Familien sowie einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern des Dürer-Gymnasiums eine Spurensuche, um die Geschichte der jüdischen Familie Jesuran zu rekonstruieren. In Form eines Comicbuches, das mittlerweile in unterschiedlichen Sprachen und Dialekten übersetzt wurde, wird diese Familiengeschichte dargestellt.
Drozak schildert im Gespräch, wie unterschiedlich Generationen mit der Schoah umgehen und wie wesentlich es bei der Erinnerungskultur ist, immer die Perspektive der Opfer im Auge zu behalten. Die Herausforderungen und Gefahren der Erinnerungskultur in einer Zeit, in der es kaum mehr Zeitzeugen gibt, werden von Drozak auf den Punkt gebracht.
Der Perspektivenwechsel ist ebenfalls zentraler Ansatz seiner pädagogischen Theaterarbeit mit Schülerinnen und Schülern. Drozak bearbeitet gesellschaftlich relevante Themen mit Theaterproduktionen in Schulen, die er für hochkomplexe Organismen hält, wo sich viele gesellschaftliche Fragen treffen und diskutiert werden. Schule ist für ihn ein "faszinierendes Spiegelbild der Gesellschaft" und Theater eine Form des gesellschaftlichen Diskurses, wo - wie beim Thema Erinnerungskultur - das Subjekt im Mittelpunkt stehen soll.
Weitere Informationen:
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Aufgenommen am: Dienstag, 3. November 2020
Veröffentlicht am: Donnerstag, 12. November 2020
Moderation: Cristina Gleich
Im Gespräch: Jean-Francois Drozak
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Alle weiteren Folgen von KontaktAufnahme – der Podcast des Bildungszentrums Nürnberg finden Sie hier. Jede Woche, immer donnerstags, veröffentlichen wir ein neues Gespräch.
Wen sollen wir noch befragen - haben Sie Ideen und Anregungen? Oder möchten Sie Ihre eigenen „Glücksmomente“ (manchmal am Ende des Interviews zu hören) an uns schicken? Schreiben Sie uns an!
Foto: Jean-Francois Drozak