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Daniel Schreiber, warum tun wir uns so schwer, mit trauenden Menschen zu sprechen?

Grazyna Wanat: Danke, mein Mikrofon an und dein Mikrofon auch an? Also ich muss sagen, ich freue mich auf diesen Abend seit Monaten, weil seit Monaten weiß ich schon, dass Daniel zu uns kommen wird und ich muss sagen, nach dem Festival Texttage, als wir uns kennengelernt haben, als Daniel bei uns zu Gast war, habe ich das Gefühl, zu einer ganz besonderen Familie zu gehören, von Daniel Fans, die gibt's auf jeden Fall in seinen Büchern. Nüchtern zu Hause, alleine, spricht er tabuisierte Themen an und so auf diese Weise, dass er sich selber ganz nah kommen lässt und sich auch verletzbar zeigt und dadurch uns den Lesenden auch die Möglichkeit gibt, Sachen zu reflektieren, über die wir vielleicht nicht nachdenken oder vorher nicht nachgedacht haben, und auch uns eigene Verwundbarkeiten bewusst zu machen. Aber, und das ist eine von seinen großen Talenten, er kann über diese schmerzhaften, schwierigen Themen so sprechen, dass man nach der Lektüre zwar schlauer und reflektierter wird, aber nicht unbedingt trauriger, und das finde ich schön. Und wenn Sie dann schon bei Interviews erlebt haben, dann freuen Sie sich wie ich auf sein ansteckendes Lächeln oder lachen ab und so hoffentlich auch, wenn das Thema gar nicht zum Lachen motiviert. Aufwärmfrage, die mich tatsächlich sehr bewegt. Wie schaffst du das, bei diesen riesengroßen Themen und bei deiner bestimmt umfangreichen Recherche am Ende doch auf relativ kleine Bücher zu kommen? Du schreibst nicht solche Bücher wie Olga Tokarczuk 800 Seiten hättest du bestimmt auch können, weil ich glaube, du hast bestimmt Material dafür, aber du musst streichen, reduzieren, reduzieren, reduzieren. Am Schluss kommt ein Buch. Wie schaffst du das? Diese Reduktion? #00:02:44-1#

Daniel Schreiber: Erst mal danke für die Einladung und danke, dass Sie heute Abend hier sind, und du hast das total gut beschrieben, also das Projekt dieser Bücher, über Themen zu sprechen, die, über die wir und also persönlich, aber auch als Gesellschaft nicht gerne sprechen, und aber auch über die das Sprechen wirklich lohnt. Und ich glaube, diese Bücher haben immer auch ein politisches Projekt in dem Sinne, dass ich glaube, die Gesellschaft verändert sich, wenn wir anfangen, über solche Themen zu sprechen, wenn wir die diese Idee von uns ein bisschen weghalten, dass man über bestimmte Sachen nicht spricht, über Dinge, die uns alle bewegen, die wir alle im Leben durchmachen, und jetzt auf deine Frage hin, tatsächlich wäre ich nicht in der Lage, ein 800 Seiten Buch zu schreiben, und ich bin immer schon froh, wenn ich auf die 140 komme. Das ist, und zwar natürlich, der erste Entwurf ist ja sehr viel länger als der erste Entwurf, ist ungefähr 100 Seiten länger meistens, und was dann anfängt, ist genau das, was du gesagt hast. Also ich gehe durch den Text durch und gucke, ich reduziere, ich schaue, was wirklich wichtig ist, welche Fragen tatsächlich den Text tragen, wie ich die Erzählstränge besser miteinander verbinden kann und die Erzähl- und Ideenstränge. Und ja, das ist letztlich ein ein langer Reduktionsprozess, ein langer Umschreibe- und Reduktionsprozess, und ich mache das ungefähr sechs Mal, und dann, und irgendwann sagt dann die Redaktorin: ,, jetzt, jetzt hören wir auf, weil, wenn wir noch eine Runde machen, haben wir noch 100 Seiten, und das geht, es geht ja nicht''. Und ja, und ich glaube aber also also, mein Ziel ist, dass die Lesenden beim Lesen sich wirklich diese schwierigen Fragen stellen und sich auch diesen schwierigen Themen stellen, den man sich nicht stellen möchte. Und ich glaube, dass es sinnvoll ist, ein ja trotz dieser schwierigen Themen etwas schönes, etwas, ja manchmal sogar leichtes zu schreiben, etwas, was man gut lesen und gut verstehen kann. Und ja und auch also ich, ich hätte Angst, zum Beispiel, wenn es ein 800 Seiten Bruch wäre, das, dass die Lesen den überfordert, weil

also ich lese auch manchmal 800 Seiten Bücher, aber im Zweifelsfall greife ich zu dem schmaleren. #00:05:42-6#

Grazyna Wanat: Bei Filmen gibt es sowas wie ,,making off'', da kann man die Szenen zeigen, die nicht in Film reingekommen sind. Könntest du bestimmt auch machen können bei deinen Büchern. #00:05:53-0#

Daniel Schreiber: Ja, und interessanterweise kommt dann viel von denen, was, was rauskommt, kommt dann so in den Interviews zur Sprache, und ich muss auch sagen, dass es, ich streich, auch viele Sachen raus, die so die Interpretation schon vorwegnehmen, weil ich also, es geht wirklich darum, dass Sie Lesenden beim Lesen etwas durcharbeiten, für sich, sich etwas fragen und alles, was so so ne Metaebene von intellektueller Interpretation ist oder so eine Ebene von, wenn es etwas Professorales bekommt, dann, das streiche ich aus, weil ich nicht, weil ich glaube, nicht glaube, dass das gut für diese Texte ist, und aber zum Beispiel in Interviews dann, wenn ich darüber spreche, dann dann sage ich solche Dinge schon. #00:06:47-4#

Grazyna Wanat: Mhm also, du möchtest anstupsen und nicht alles schon gleich erzählen. Wir haben vereinbart, dass du beginnen möchtest mit einem Ausschnitt aus dem Buch. #00:06:57-7#

Daniel Schreiber: Genau, ich hab zwei Stellen ausgesucht, zwei längere Stellen und dann noch eine kürzere. Die kommt aber ganz zum Schluss, und ja, und das ist meine, die zweite Etappe der Lesereise, und ich habe mir für diese Etappe neue Stellen ausgesucht und habe Sie noch nicht oft gelesen, und also vielleicht mache ich es nicht so gut, aber das, damit müssen Sie dann leben. #00:07:31-4#

Grazyna Wanat: Das machst du bestimmt gut, du machst die Hörbücher auch. #00:07:33-9#

Daniel Schreiber: Ja, ja, genau. Das ist aber super anstrengend. #00:07:37-0#

Grazyna Wanat: Es ist anstrengend, aber es ist so toll zuzuhören. #00:07:40-0#

Daniel Schreiber: Ja, Danke. Das sind immer dann die, die man hat, immer so wirklich sehr gute Redakteur*innen, und die dann erklären, wie man etwas betonen sollte und wie nicht. Das sanfte Geräusch der Wellen, die gegen die Mauer schlagen, entfernte Möwenschreie, Motorenlaute, die erst an und dann wieder abschwellen. Als ich zum ersten Mal die Augen öffne, ist das Licht, das durch das Fenster Feld noch gedämpft. Ich möchte weiterschlafen, noch einmal versinken in das Bett, dessen Geruch mich an das Waschmittel meiner Kindheit erinnert, noch einmal versinken in das Vergessen. Schon halb wach glaube ich nicht, dass mir das gelingen wird. Doch als ich die Augen erneut öffne, ist die Dämmerung bereits dem Licht des Tages gewichen. Die Laute des Wassers haben sich verstetigt, ebenso wie das Schreien der Möwen, die Geräusche der Vaporretos, der Wassertaxis und der Boote, die die Supermärkte beliefern oder den Müll abfahren. Vereinzelte Stimmen rufen sich etwas auf italienisch zu. Ich versuche, mich nicht zu bewegen, als könnte ich so noch kurz die Zeit anhalten. Mich überkommt das Gefühl einer gewissen Dankbarkeit. Ich muss mich nicht fragen, in welcher Stadt und in welchem Hotel ich mich befinde, und fühle mich ausgeruht. Die Nacht zuvor haben mich die Motorengeräusche der Boote wachgehalten, was mich nicht überrascht, denn in den bewegten anderthalb Jahren, die hinter mir liegen, ist mir auch der

Schlaf abhanden gekommen, jener verlässliche Schlaf, den man als gegeben hinnimmt, bisher ausbleibt. Ich brauchte lange, um einzuschlafen, und wachte mitten in der Nacht auf. Selbst wenn es mir gelang, länger zu schlafen, begann ich den Tag mit dem Gefühl schwerer Müdigkeit. Ich überlege, wie lange es her ist, dass ich mich so entspannt gefühlt habe wie an diesem morgen, und erschrecke. Erst jetzt fällt mir ein, woran ich beim Aufwachen seit langem als erstes denke. Doch womöglich ist es ein gutes Zeichen, dass mich dieser Gedanke später als gewöhnlich findet. Während ich mich in der Foresteria, dem Gästezimmer, das Platz, so umschaue, stelle ich fest, wie bekannt sie mir schon vorkommt, obwohl ich erst seit ein paar Tagen hier wohne. Die karrierte Bettwäsche, die altmodischen Valence, das an einem Bullauge erinnernde ovale Fenster, der dunkle Schreibtisch mit seiner Turmalin, grünen murano Glaslampe, alles umgibt eine Aura von Verlässlichkeit. Vielleicht liegt es an den reinlichen Gerüchten des Zimmers, an den unverwechselbaren Geräuschen der Stadt, vielleicht daran, dass der Aufenthalt hier, wie ich hoffe, das Ende einer langen Zeit der Ruhelosigkeit einleitet. Wenn ich ein Grundgefühl für die zurückliegende Zeit benennen müsste, dann das des verloren Seins. Ich habe den Eindruck, in einer Welt zu leben, die mir bekannt vorkommt, die immer noch nach vielen der mir vertrauten Regeln funktioniert, aber dennoch durch eine andere, eine unheimliche Version ihrer selbst ersetzt wurde. Die Sprache entzieht sich mir, wenn ich darüber reden möchte. Sie ist nicht in Reichweite. Sie nickt mir erst aufmunternd zu, nur um sich dann traurig, den Kopf schüttelnd, wieder von mir zu verabschieden. Ich lausche weiter den Wellen, Boden und Möven der Stadt, den vereinzelten Stimmen, noch liegend, schaue ich durch das kleine Fenster auf das Wasser des Rio de Sau Paulo, die da ein paar Meter weiter in den Kanal Grande mündet und nicht einmal durch einen Weg vom Centro de Tesco im Palazzo Babarigo getrennt ist, wo ich mich für ein paar Tage aufhalte. Nicht nur der Geruch der Bettwäsche, sondern die Einrichtung und das kleine Gästezimmer selbst scheint aus einer anderen Zeit zu stammen. Ich greife nach dem Telefon und schalte den Alarm aus, der gleich klingeln wird, schließe noch einmal kurz die Augen. Ich bin mir nicht sicher, wann die Trauer, gegen die ich mich wäre und die ich dennoch immer spüre, begonnen hat. Ich könnte ihren Beginn an jenem Tag verorten, als ich im Begriff war, eine Bühne in Heidelberg zu betreten und meine Mutter anrief, die am Abend eigentlich nie anrief. Ich schaute auf das Telefon und auf die vielen Menschen, die in dem Saal versammelt waren, schaltet das Gerät aus Erklommen die Stufen zur Bühne, setzte mich auf den Stuhl neben der Moderatorin und entschied mich, die in mir aufkommende Panik zu unterdrücken und in den Saal zu lächeln. Ich wusste, was der Anruf bedeutete. Ein Teil von mir erwartete ihn seit Monaten. Mein Vater war schon lange krank gewesen, dennoch hatte ich auf irrationale Weise an der Idee festgehalten, dass dieser Moment nicht eintreten würde. Ich wollte nicht, dass man mir anmerkt, was geschehen war. Ich absolvierte die Veranstaltung, beantwortet die Fragen der Moderatoren und der Zuschauenden und signierte anschließend meine Bücher. Danach ging ich mit den Veranstaltenden etwas essen. Ich floh so lange vor der Nachricht, bis ich am späten Abend wieder im Hotel war. Ich packte schon meine Sachen, um mit dem frühesten Zug zu meiner Mutter an die mecklenburgische Seenplatte zu fahren, als ich sie zurückrief und von ihr hörte, dass mein Vater gestorben war. Die Trauer um ihn begleitet mich jeden Tag. Zugleich habe ich das Gefühl, so viel mehr verloren zu haben als mein Vater. Ich habe das Gefühl, dass ich seinen Tod an eine Vielzahl von kleinen und großen Tragödien einreiht, dass sich mein privater Verlust mit den vielen kollektiven Verlusten vermengt, die wir in den vergangenen Jahren erfahren haben, von ihnen potenziert wird. Manchmal bin ich mir nicht sicher, um wen oder um was ich trauere, ob ich das vermeintlich kleine und das vermeintlich große, meinen privaten Alltag und die Weltgeschichte noch trennen kann. Ein paar Tage vor meiner Reise unterhielt ich mich mit einer Freundin darüber. Gemeinsam überlegten wir, wann wir zum ersten Mal wirklich verstanden hatten, dass etwas ein Ende fand, dass etwas, von dem wir dachten, dass es lange so bleiben würde, tatsächlich verloren gegangen war. Wir haben dieses Gefühl des Verlusts beide als akut war. Sie hatte das eigentlich schon lange verstanden, sagte die Freundin. Sie wollte es nur nicht wahrhaben. Ich stimmte ihr zu, das Gespräch geht mir wieder durch den Kopf. Ich merke, dass ich noch nicht aufstehen möchte, doch was hatten wir konkret verloren? Handelt es sich um ein Gefühl der Sicherheit, um Gewissheiten, ein gemeinschaftliches Selbstverständnis? Vielleicht sind die Verluste, die selbst die zuversichtlichste unter uns spüren, zu ermorden und zu bedrohlich, um nicht schon ihre Benennung instinktiv auszuweichen? Wie lässt sich der Erosion gesellschaftlichen Zusammenhalts ins Auge blicken? Wie einer schwindenden Aussicht auf eine freundliche Zukunft? Selbst wenn wir versuchen, Worte dafür zu finden, stoßen wir auf einen inneren Widerstand, der uns davon abhält und tragweite unsere Verluste bewusst zu machen. Ich überfliege die Textnachrichten und E-Mails, die über Nacht hereingekommen sind, schaue ich mir die Meldungen der Zeitungen an, die ich abonniert habe. Ich könnte den Beginn meiner Verstörung auch auf ein Telefonat mit meinem Vater zurückdatieren, auf unser letztes Telefonat. Er hatte Geburtstag. Seit seiner Erkrankung hatten meine Eltern niemanden sehen wollen. Zu groß war ihre Angst vor dem Virus, dass die Welt in Atem hielt und das sein Leben im Falle einer Ansteckung weiter verkürzen würde. Wenn Sie sich darauf einließen, besuchen, unter bestimmten Bedingungen wie medizinischen Test zuzustimmen, sagten sie in letzter Minute ab. Sie hatten selbst das gemeinsame Weihnachtsfest abgesagt, von dem wir wussten, dass es das letzte meines Vaters sein würde. Sie kämpften um jeden weiteren Tag, um jede weitere Stunde. Ich konnte sie verstehen und zugleich auch nicht wollte, dass alles anders war. Ich war dazu übergegangen, mir jedes Mal, wenn ich mit meinem Vater sprach, in Erinnerung zu rufen, dass es unser letztes Gespräch sein könnte, was dafür sorgte, dass wir besonders innige Telefonate führten, bei denen ich an mich halten musste, um nicht in Tränen auszubrechen, was mir gerade zum Ende nicht immer gelang. Und mehr noch als unsere Gespräche waren es diese Momente, in denen ich meine Trainer unterdrückte und in denen ihm zum Abschied selbst die Worte im Hals stecken blieben, die das zum Ausdruck brachten, was ich ihm sagen wollte, aber nicht richtig sagen konnte, wie sehr ich ihn vermissen würde. Bei unserem letzten Telefonat sagte er unvermittelt, dass ich und meine beiden noch lebenden Geschwister ihn jetzt besuchen könnten. Ich spürte mit einer Art grauen, dass er es dieses Mal so meinte, dass er entgegen allen Befürchtungen wollte, dass wir ihn besuchten, dass er meine Mutter dieses Mal nicht im letzten Moment vorschicken würde, ihn um abzusagen. Ich wollte nicht wahrhaben, was er mir eigentlich mitteilte, dass er das Gefühl hatte, in der letzten Phase des Sterbens angekommen zu sein. Unser Gespräch endete auf die vertraute Weise im Hals feststeckende Trennen. Am Morgen von meiner Lesung in Heidelberg holte mich eine Freundin aus Darmstadt anstatt ab, um mir Schwetzingen, das dortige Schloss und dessen bekannte Gartenanlage zu zeigen. Tulpen, Rhabarber reihten sich aneinander, soweit das Auge reichte. Alles waren ein helles grün getaucht. Riesige Fliederbüsche warteten darauf, dass ihre Blütenknospen aufbrachen. Es war der Tag, an dem mir klar wurde, dass nun wirklich der Frühling begonnen hatte. Der letzte Frühling meines Vaters, und ein Gefühl unterschwelliger irrationaler Wut überkam mich auf die Welt, in der das geschah, aber vor allem auf mich, weil ich meinen letzten Besuch noch nicht angetreten hatte, weil ich fast drei Wochen hatte verstreichen lassen, ohne mich auf den Weg zu machen. Die Stunden, in denen ich begriff, dass es Frühling geworden war, waren die Stunden, in denen mein Vater starb. Auch jetzt geht mir unser letztes Telefonat durch den Kopf. Seither habe ich mit vielen Menschen über Trauer gesprochen, und sie alle haben ihre eigene Geschichte, gehen mit ihrer eigenen Version des Schmerzes durch den Alltag, versuchen sich in ihren eigenen Erklärungen, übersehen ihre eigenen blinden Flecke. Trotz unzähliger Bücher und Podcasts, trotz einschlägiger Forschungen und populär psychologischer Beiträge sind viele von uns nur schlecht in der Lage, sich ihre private Trauer einzugestehen, Sie anzunehmen, womöglich weil jede Trauer so individuell ist, dass sie sich auch hilfreichenKategorisierungsversuchen gegenüber als widerständliche weist. Womöglich war jede Trauer auf einem Paradox beruht darauf, dass wir etwas einsehen müssen, dass wir nicht einsehen können. Wir alle sind auf unsere eigene Art unfähig zu trauern. Trauer besteht vor allem im Umgang mit ihren Unwägbarkeiten, im Tanz mit der Verdrängung, in mancher Hinsicht gleich in diese Unwegbarkeiten, den Wellen des Meeres, das draußen vor der venezianischen Lagune liegt. Meistens kann man gut mit den Bewegungen des Wassers, den inneren auf und ab umgehen. Man lässt sich dorthin treiben, wohin die Wellen eintragen. Dennoch gibt es Tage, an denen der Wellengang so stark ist, dass man gegen das Notgerät und gegen das Untergehen kämpfen muss. Gegen Trauer kann man nur wenig ausrichten. Man kann nicht vor ihm weglaufen. Auch wenn man es versucht, gelingt es nie, sie ausreichend mit Essen, Sport, Medikamenten oder anderen Substanzen zu betäuben. Sie lässt sich auch nie komplett verdrängen, selbst wenn man unter dem Aufgebot aller Kräfte daran arbeitet. Trauer ist erschöpfend, egal ob man sich ihrem Schmerz stellt und versucht, ihn durchzuarbeiten, egal ob man ihn eisern von sich weißt, es kostet immer mehr Anstrengung, mehr Energie, sich auf offener See über Wasser zu halten, als man glaubt aufbringen zu können. #00:20:43-7#

Grazyna Wanat: Das ist der Anfang des Buches, und wenn Sie kein Buch von Daniel Schreiber noch gelesen haben, dann erkennen Sie vielleicht jetzt die Methode, wo man von Klein auf das Große kommen kann, vom privaten auf das politische. Und da schon am Anfang des Buches legst du ein paar Spuren, und die verfolgst du dann weiter in dem Buch. Und eben ein paar von diesen Spuren würde ich da gerne sprechen, Vielleicht komme ich sofort mit einer ganz großen Frage. Warum meinst du, können wir so schlecht mit der Trauer und dem Verlust und mit der Trauer umgehen? Warum so viel Verdrängung? Sind dafür eher unsere eigenen Abwehrmechanismen verantwortlich, also Angst oder die Umgebung, die an uns bestimmte Erwartungen stellt? #00:21:48-7#

Daniel Schreiber: Mhm, das ist so eine gute Frage, weil sie gleich beide Sachen in den Blick nimmt: das innere und die Welt, der wir leben. Das Interessante ist, dass sowohl die, das wir selbst, als auch die Gesellschaft, in der wir leben, Trauer verdrängen. Und zwar ist es so, dass die Verdrängung die instinktive Reaktion auf Trauer ist. Das ist das, was wir instinktiv machen, wenn wir zu große Verluste erleiden, und das halt auch einen gewissen Sinn. Denn wenn wir wirklich verstehen, wenn wir wirklich die Tragweite oder die Reichweite dieser Verluste verstehen würden, dann werden wir wahrscheinlich nicht in der Lage, durch den Alltag zu gehen. Das heißt, diese Verdrängung, die hat auch eine wichtige Funktion, und die ist nicht nur negativ zu verstehen, sondern die vieles genau, also die Psycho, beschützt uns eine Weile lang. Das Problem ist nur, dass, wenn wir zu lange verdrängen und wenn wir uns der Arbeit, der Arbeit der Trauer zu lange verweigern, dass das Verdrängte dann irgendwo anders wiederkommt und meistens an Stellen, an denen wir es nicht erwarten, an Stellen, die vielleicht für mehr Schmerz sorgen, als wir wir denken würden. Und das ist sowohl ein privater als auch ein kollektiver Prozess tatasächlich. So, als Gesellschaft machen wir das ganz genauso, und ich glaube, die, dieses wirklich durchdringende Gefühl von Verlust, dass so viele von uns haben, seit einigen Jahren, zeigt genau das also, wir. Die Verluste sind so groß, dass wir gar nicht wirklich in Worte fassen können, was wir genau dort verlieren, wo genau diese Bedrohungen liegen, oder was passieren kann, wenn diese Verluste weitergehen. Und, ähm, ja, und also, man fängt dann eher an, die weniger Nachrichten zu schauen, als sich der Arbeit zu stellen. Man nimmt sich immer mehr, man schafft sich immer mehr Räume der ja der Weltflucht, und das ist auch sehr verständlich und auch sehr wichtig und erfüllt auch eine Funktion. Aber ich glaube, irgendwann müssen wir uns diesen kollektiven Verlusten stellen, und zwar aus dem einfachen Grund, dass, wenn wir das nicht tun, werden wir nicht in der Lage sein, die Zukunft, die immer noch ungeschrieben ist, wirklich mitzuschreiben. #00:24:36-4#

Grazyna Wanat: Mhm, über Kollektive oder politische Ebene möchte ich dann auch gleich sprechen, aber wenn wir noch mal ein bisschen bei diesen privaten bleiben und bei den bei den eigenen Abwehrmechanismen zu einem, wir schützen uns, aber inwieweit tun wir das auch, weil um uns herum erwartet wird, dass wir ganz schnell wieder funktionieren? #00:24:57-3#

Daniel Schreiber: Mhm, ja, ich bin mir nicht sicher, ob diese Erwartung, die es gibt, tatsächlich die, die für die Verdrängung verantwortlich ist. Also, ich glaube, das ist ein anderes Themenfeld, und tatsächlich ist es so, dass die meisten Menschen können weder mit ihrer eigenen noch mit Trauer von anderen Menschen umgehen. Das heißt, ich glaube, jede Person, die schon mal einen Trauerfall hatte, kennt die Situation, dass man nicht in der Lage ist, darüber zu reden, dass viele Freundinnen, Freunde, dass viele Angehörige nicht darüber reden können, nicht darüber reden wollen, dass sie tatsächlich eher auf Abstand gehen als ihre Hilfe anzubieten, auf welche Weise auch immer. Ähm, man kennt die Situation, dass man vielleicht dann im Arbeitsumfeld irgendwie vielleicht so ein, zwei Wochen so eine Schonzeit bekommt, aber dann ist auch gut, und dann sollte man wieder genau der oder die Alte sein. Und und ich glaube aber nicht, dass das der Verdrängung zuträglich ist, sondern ist es etwas, mit dem man als trauernde Person umgehen lernen muss, und ich glaube, das Interessante ist also für mich, der Punkt des Buches ist auch der, dass Trauer geht für uns alle mit einer ganz grundsätzlichen, fehlenden psychischen Intaktheit einher. Das heißt, wir, wir sind nicht in Kontrolle, wir sind beschädigt für die Zeit der Trauer, und zwar eine ganz grundlegende Weise. Wir haben, wir sind dabei, uns ein neues inneres Leben aufzubauen, und das genau und das. Wir sind nicht intakt, und ich glaube, damit umzugehen und das zu sehen für die Außenwelt also so gut wie unmöglich. Also, wir, wir brauchen im Alltag diese Fiktion des psychischen Taktseins, um miteinander zu kommunizieren. #00:27:17-8#

Grazyna Wanat: Mhm, aber das alles aus der Perspektive gesehen. Ich habe ein Verlust. Ich muss damit umgehen und erwarte, dass meine Umgebung mich gut behandelt. Dementsprechend gut behandelt, fehlen uns aber nicht die Verhaltensmuster. Wir sind auch auf der anderen Seite. Wir haben mit jemandem zu tun, der ein Verlust erlitten hat, und wir wissen selber auch nicht, wie wir uns verhalten können. Aber auch aus dieser Perspektive kommen wir damit nicht zurecht. Selbst als Leitende oder aber auch als die Umgebung. Fehlt uns dann die Empathie oder die Verhaltensmuster, oder wird eben zu wenig drüber gesprochen? #00:27:54-6#

Daniel Schreiber: Also, ich glaube, dass wir halt diese Fiktion des psychischen Intakten brauchen, das heißt, etwas hält uns davon ab, über Trauer zu reden, und und ich merke das auch an den Abenden, an denen ich öffentlich darüber rede, ich habe jedes Mal das Gefühl, eigentlich möchte ich das gar nicht. Eigentlich, also ich möchte natürlich hier sein, das Buch vorstellen und Sie kennenlernen, aber ich. #00:28:28-0#

Grazyna Wanat: Jedes mal eine Grenze überschreiten, jedes Mal aufs Neue! #00:28:31-2#

Daniel Schreiber: Genau das ist genau so. Ich muss jedes Mal diese Grenze überschreiten und ich weiß nicht, es kann sein, dass du darauf hinaus willst, dass wir uns als Gesellschaft besser auf Trauer einstellen müssen, dass wir auf die Trauernden, und ich persönlich glaube, dass das nicht geht, und ich habe auch also in meiner Erfahrung, was mir in den Trauerfällen meines Lebens immer am meisten geholfen hat, war, wenn, wenn Leute tatsächlich auf die Floskeln zurückgreifen, die es gibt, wie mein Beileid. Es tut mir leid, ich bin für dich da, Ruf an alles das und es ist klar, dass man nicht anrufen wird, und, dass man auch diese angebotene Hilfe gar nicht in Anspruch nehmen kann, weil diese Person eben auch nicht helfen kann. Also die Person kann auch nicht helfen und aber in dem Moment, indem man auf Trauer dazugeht und ihnen klar und ihnen irgendwie zu verstehen gibt. Ich sehe dich, und ich sehe deine fehlende psychische Intaktheit, und ich habe keine Worte dafür, und ich kann auch nichts dagegen ausrichten. Aber ich sehe dich, und ich glaube, das ist schon die Hilfe, dass man eben in dem Moment, in dem man dann tatsächlich allein ist, eben Gefühl dafür bekommt. Nein, ich bin zumindest in dem Sinne nicht allein, dass ich, dass mich Menschen sehen, dass andere Menschen zumindest nachvollziehen können oder versuchen nachzuvollziehen, was ich gerade durchmache. #00:30:08-4#

Grazyna Wanat: Mhm, ja, ich habe einen guten Freund, der gerade was ganz schreckliches erlebt hat, und er hat auch sowas gesagt, trifft auch auf Leute, die so tun, als ob nichts passiert wäre, und mit denen will er nichts zu tun haben. So verletzend, das für ihn ist, finde ich auch eine eigentlich spannende Beobachtung, und ich habe mir auch aus deinem Buch einen Satz aus, und es ist so einfach, einem Trauen Menschen etwas richtiges zu sagen, und das ist so ein unheimlicher Satz, weil einerseits stimmt und andererseits eigentlich nicht ist. Es fällt uns allen wahnsinnig schwer. #00:30:49-5#

Daniel Schreiber: Ja, aber der der Satz geht weiter, weil man eben nichts richtiges sagen kann, also weil es eben nichts gibt, was man sagt, sagen kann. In dem Moment, weil es nichts passendes gibt, was man sagen kann, ist es eben einfach, auf diese Floskeln zurückzugreifen. Und ja, ich habe natürlich auch erlebt, dass einige Freundinnen und Freunde sich ein paar Monate nicht gemeldet haben und eben auch so tun, als wäre nichts passiert. In meiner Beobachtung zufolge ist das meistens so, dass Menschen so reagieren, die Verluste selbst noch nicht erlebt haben, die selbst noch nicht erfahren haben, wie sich sowas anfühlt, was das mit einem macht, und die aber auch eine Angst davor haben. #00:31:40-8#

Grazyna Wanat: Mhm. #00:31:41-4#

Daniel Schreiber: Also, im Grunde sind diese Leute eher zu bemitleiden, als also für mich steckt.. #00:31:50-5#

Grazyna Wanat: Der böse Wille steckt nicht dahinter. #00:31:50-9#

Grazyna Wanat: Ja, und ich fand das dann natürlich auch befremdlich, und, ähm, aber ich war tatsächlich niemanden böse deswegen. Deswegen also, ich muss mal einmal an eine Freundin denken und hat dann so versucht, sich so groß dafür zu entschuldigen, und dann meine ich wirklich das, ,,lass'', weil das ist viel eher die, ja die Sache der anderen Personen, die das nicht macht, als deine Sache, weil ich also ich wusste so, Sie hätte mir ohnehin nicht helfen können. Also und ja! #00:32:26-6#

Grazyna Wanat: Und diese Idee des intakt seins, ist das so? Dass nach so einem großen Verlust, nach einer Trauerphase kommen wir wieder zu sich, also sind wir wieder wie vorher repariert? #00:32:41-8#

Daniel Schreiber: Nein, eben nicht. Genau das ist, das ist so interessant, weil im Anschluss Sigmund Freuds Unterscheidung von Trauer, Melancholie war die Psychologie sehr lange damit beschäftigt zu definieren, was eine richtige Trauer ist und was eine krankhafte Trauer ist und vor allem, wie lange eine richtige Trauer sein darf und wann die Trauer zu welchem Zeitpunkt sie in eine Depression oder, wie Freud das genannt hat, Melancholie umkippt, und das ist so, und es gab auch zwischenzeitlich, gab es so eine Richtlinie von einem Jahr, dann war es nur ein halbes Jahr, und inzwischen weiß man, dass all das ziemlicher Unsinn ist, weil Trauer nicht in dem Sinne zu Ende geht. Trauer heißt nicht, dass man etwas, einen großen Verlust erfährt, dass man ein Jahr lang traurig ist und dann am Tag 366 wieder die alte Person ist, die man mal war, sondern Trauer heißt, dass man einen Verlust integriert, dass man akzeptiert, dass man zu einer anderen Person wird, und zwar zu der Person, die diesen Verlust erfahren hat, dass man sich ein, wieder ein Leben aufbaut. Man kehrt nichts zu dem alten Leben zurück, weil uns zu der alten Welt, weil diese Welt und dieses Leben gibt es nicht mehr, weil eben diese Welt und dieses Leben einen großen Verlust erfahren haben. Deswegen muss man sich eine neue Welt aufbauen, ein neues Leben, und das braucht Zeit. Also dieser Integrationsprozess braucht Zeit, und in diesem Sinne endet Trauer auch nicht. #00:34:31-3#

Grazyna Wanat: Also, verändert? #00:34:34-6#

Daniel Schreiber: Ja, genau sie endet nicht, aber sie verändert ein, und natürlich ist es nicht so, dass also diese Zeit der fehlenden psychischen Intaktheit. Die geht tatsächlich zu Ende. Irgendwann hat man wieder das Gefühl, man ist wieder psychischen in Takt, aber ja, aber natürlich. Die Trauer kehrt trotzdem in bestimmten Formen wieder, und ich glaube, es ist auch eine ganz wichtige Erfahrung, letztlich eine ganz grundsätzliche menschliche Erfahrung, die ja die, die wir brauchen, um so viele Dinge zu lernen, die wir brauchen, um zu lernen, selbst zu altern, die wir brauchen, um selbst mit Erfahrung von Krankheit umzugehen, die wir irgendwann auch brauchen, um mit der Erfahrung des Sterbens umzugehen. #00:35:26-4#

Grazyna Wanat: Mhm, ja, es geht mir jetzt ein Satz ich von einer polnischen Autorin. Die hat gesagt: ,,Wir wissen über uns nur so viel, indem wir uns getestet haben, in dem wir uns ausprobiert haben''. Also es ist eine sehr freie Übersetzung. Aber der Sinn ist eben erst die Erfahrung. Durch die Erfahrung erfahren wir über sich selber auch. Wie wir agieren würden, kann man vorher nie vorhersagen. #00:36:00-3#

Daniel Schreiber: Ja, und das ist ein wichtiger und auch schöner Gedanke, letztlich dann also, wir alle wissen, dass wir völlig andere Personen sind, also mit 20, jetzt so Mitte 30, Mitte 40 und usw. Und ja, und gerade was den Tod von Eltern betrifft, das ist in der Regel für die meisten Menschen, der erste schwere Todesfall, den Sie erleben und ich habe auch, als mein Vater krank war, ich habe auch gemerkt, dass dabei noch etwas anderes passiert und zwar, dass er mir zeigt, wie man krank sein kann, dass er mir zeigt, wie man stirbt. Wir lernen so viel von unseren Eltern, so viel, von denen wir gar nicht wissen, dass wir es von ihnen lernen, also mit der Welt umgehen, wie wir Beziehung sehen, wie wir uns selbst sehen, wie wir mit allen möglichen Elementen der Welt interagieren, das werden wir alles von von unseren Eltern und eben nicht bewusst, sondern eben auch unbewusst, und ich glaube, dass das ja, dass das Sterben oder das Sterben lernen etwas ist oder das ist zu den Aufgaben des Elternseins gehört, dass man seinen Kindern auch zeigen muss, so wird es auch für dich irgendwann sein, ja! #00:37:26-3#

Grazyna Wanat: Zur Bewältigung gehören auch bestimmte Rituale, und auch unter anderem darüber handelt auch dieses zweite Buchausschnitt vorlesen wolltest, #00:37:40-4#

Daniel Schreiber: Ja #00:37:42-0#

Grazyna Wanat: Und auch über viele andere Themen, die sich wieder eröffnen, unter anderem Venedig. Wir haben da auch ein Bild aus Venedig im Hintergrund. #00:37:53-0#

Daniel Schreiber: Ähm, also vielleicht muss man vorweg sagen, dass das Buch in einem Tag spielt, und Sie haben die Stelle gehört, dann der ich aufwache, ähm, ich, die anderen drei Essays, nüchtern zu Hause und alleine spielen, ungefähr im Laufe eines Jahres plus minus ein paar Monate. Und als ich angefangen habe, an diesem Buch zu schreiben, ist mir klar geworden, dass das in diesem Fall nicht geht, weil ich kein Jahr habe, indem ich mich entwickle, weil ich keine innere Entwicklung aufzeigen kann, keine innere Auseinandersetzung mit Fragen, weil ich eben nur diese fehlende psychische Intaktheit habe. Und mir ist dann klargeworden, dass die Zeiteinheit der Trauer ja die des Tages ist. Wir müssen jeden Tag aufs Neue die Trauer akzeptieren, wir müssen jeden Tag aufs Neue durch die Trauer gehen, und deswegen wollte ich ja einen Tag zeigen. In diesem und irgendwann im Laufe dieses Tages in Venedig fahre ich auf die, die Friedhofinsel San Michele, und das erkläre ich auch nochmal kurz, vielleicht. Also vielleicht wissen Sie das ohnehin, und also viele von Ihnen werden in Venedig gewesen sein. Also Venedig liegt in einer Lagune, und wenn wir an Venedig denken, sind es eigentlich drei Inseln, an die wir denken, aber zu dem ganzen Gebiet gehören verschiedene Inseln. Es gibt eine Gemüseinsel Sant’Erasmo, es gibt San Michele, es gibt wo das Glas hergestellt wird, es gibt Sant' Elena, und es gibt eine Friedhofinsel namens San Michele, und die wurde Mitte des neunzehnten Jahrhunderts errichtet und wurde aus zwei Inseln, San Michele und San Christoforo zusammengesetzt. Das heißt, weil der Platz in Venedig zum begraben der Toten so knapp wurde, hat man einen Zentralfriedhof auf einer besonderen Insel errichtet und dafür diese Insel geschaffen. Ich trete durch das Friedhofstor, lege mir den Mantel über den Arm und nehme mir einen Übersichtsplan aus einem Plexiglaskasten. Zunächst suche ich den Weg in die Kirche. Ein einziges Kammerkloster, finde das Eingangstor, aber verschlossen vor. Ich schaue auf meinen Plan und entscheide mich dafür, mir die in den vergangenen Jahren von David Chipperfield errichtete Erweiterung des Friedhofs anzusehen. Ich mag seine Bauten. Mein Weg dahin führt an unzähligen Kolumbarien vorbei, die die Häuserreihen wirken. Wie kleine toten Wohnungen stapeln sich hier die Kompartimente aufeinander, in denen sich menschliche Überreste befinden. Auf den Steinen und Marmorplatten dieser Wohnungen stehen nicht nur die Namen, die Geburts- und Sterbedaten der Toten, in der Regel sind auch kleine imagiert Plaketten mit Fotos von ihnen angebracht. Da der Platz auf der nicht einmal 20 Hektar großen Insel begrenzt ist, werden die Toten zunächst auf den großen Campi, den zentral gelegenen Begräbnisfeldern beigesetzt. Einige Jahre später jedoch werden sie exomiert und finden in den Kolumbarien ihren letzten Ruheort. Fast alle Kompatimente sind mit künstlichen Blumen geschmückt: bunte Tulpen, Gerbera, Rosen und Posandene. Ich schaue mir einige von ihnen genauer an und stelle überrascht fest, dass mir prosaischer Schmuck gefällt. Die Chipperfield Erweiterung besteht ebenfalls aus solchen Kolumbarien. Nur erinnern Sie an moderne Wohnblöcke, die da schlicht, mit der Schlichtheit, simple Formen und Abstufungen in Grau und Besch ich schaue mir einige der Marten Fotos hier genau genauer an. Viele von ihnen sind in Farbe und stammen aus den achtziger und 90er-Jahren. Fast alle wurden im höheren Lebensalter der Toten aufgenommen, doch keines von ihnen zeigt den körperlichen Verfall, der mit Krankheit und Tod einhergeht. In Verbindung mit den Namen und den Geburts- und Sterbedaten erzählen sie Geschichten, die sich nicht erschließen lassen, aber dennoch einen seltsamen ,,Sog.'' auf mich ausüben. Ich reiße mich von den Kolumbarien los, gehe weiter und komme zu den großen Grasflächen, den Campi, auf denen die Toten Venedigs zuerst begraben werden. Sie hat eine fast rechteckige Form. Seine Anlage gleicht einem griechischen Kreuz mit gleichlangen Seiten. Die Wege zwischen den Begräbnisfeldern sind von riesigen Pressen gesäumt, die noch aus der Zeit standen, als die Friedhofsinsel angelegt wurde. Auf den Campi selbst reihen sich Stein und Marmorplatten mit Kreuzen dicht aneinander. Ich gehe zu einem der großen Tore, durch deren Eisengitter man auf das Wasser und die Stadt gegenüber schauen kann. In ihrem Buch mit dem toten Leben erklärt die französische Rabbinerin Delphine Horvilleur die, worin für uns oft der eigentliche Skandal des Todes besteht, er sei schon immer da. Meint Sie, dringen unsere Lebensräume ein, suche unsere Wohnorte auf, Schleiche sich in unsere Familien und unsere Gedankenwelt ein. Ohne dass wir uns dessen bewusst sind, halten sich Leben und Tod beständig die Hände und tanzen miteinander, schreibt Sie. Darauf reagieren wir, indem wir versuchen, leben und Tod voneinander zu trennen. Unter allen Umständen möchten wir den Glauben aufrechterhalten, dass die Grenze zwischen ihnen undurchlässig sei, dass wir den Toten nicht begegnen müssen. Die Errichtung von Zentralfriedhöfen wie San Michele ist eine direkte Folge dieses Bestrebens. Sie sind die Architektur gewordene Metapher für die Verdrängung des Sterbens aus unserem Alltag, für den vergeblichen Versuch, unser Leben frei vom Tod und von der im folgenden Trauer zu halten. Als ich an das massive Tor trete und mich am Gitter festhalte, frage ich mich, ob es ein deutlicheres Symbol für unsere Haltung gegenüber dem Tod geben kann als diese Insel, auf die die Toten und die Trauer um sie verbannt werden. Gewaltige Wassermassen zwischen ihnen und dem Leben. Das blaugraue Wasser der Lagune sieht unschuldig aus, eher wie ein großer, ruhiger See als eine meeres Mündung, die den Gesetzen der Gezeiten folgt. Die einzigen Wellen werden von den vorbeifahrenden Vaporetto und Motorbooten verursacht. Ich kann es nicht in meinen Kopf bringen, wie groß die Zerstörungskraft dieses Wassers ist, wenn es während des Winters ansteigt, Teile des Friedhofs flutet und in der Stadt gegenüber auch vom schlammigen Inselgrund her durch die alten Fundamente tritt und alles in ein beängstigendes Hochwassergebiet verwandelt. Ich kann es mir unter anderem deshalb nicht vorstellen, weil dieser Winter erst der zweite ist, in dem die Stadt nicht mit einem Aquaalter kämpfen musste. Grund dafür ist ein Sturmflutsperrwerk mit dem sprechenden Namen Mose, ein Akronym. Seiner alttestamentarischen Bezeichnung getreu hat es die Aufgabe, das Meer zu teilen. An den drei direkten Verbindungsstellen von Adria und venezianischer Lagune wurden zahlreiche Meeresboden verankerte Fluttore errichtet, die sich per Knopfdruck mit Pressluft füllen und aufrichten können. Die Idee des Sperrwerk, dessen Entwicklung und der Richtung 50 Jahre dauerte und dessen Unterhaltung bis heute unvorstellbare Summen verschlingt, klang lange futuristisch. Erst die apokalyptischen Züge des letzten großen Hochwassers konnten genug Energie und finanzielle Mittel mobilisieren, um uns fertig zu stellen. Auch diesen Winter peitschten sechs Meter hohe Wellen über die Adria und ließen den Meeresspiegel vor der Lagune um mehr als anderthalb Meter ansteigen, der dritthöchste Wert, der je gemessen wurde. Normalerweise hätte das eine total Katastrophe für die Stadt bedeutet und Schäden in unermesslicher Höhe verursacht, doch das Sturmflut Sperrwerk hielt das Meer auf. In gewisser Hinsicht ist es ein Sinnbild für die Techno Utopien und das Engeneering, auf die viele Menschen im Kampf gegen den Klimawandel hoffen, für die technologischen Errungenschaften, die dessen Symptome, aber nicht seine Ursachen bekämpfen. Wie die meisten dieser Erungenschaft hat Mose desaströs Nebenwirkungen. Es ist auch ein Sinnbild für technokratische Hybris und ökologisches Kurzzeitdenken. Ursprünglich ging man davon aus, dass das Sperrwerk ungefähr fünf Mal im Jahr hochgefahren werden muss. In den vergangenen beiden Jahren musste es zehnmal so oft in Betrieb genommen werden. Verschiedene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler waren davor, dass innerhalb der nächsten fünf Jahrzehnte der Meeresspiegel so hoch sein wird, dass die Flutore ihre Funktion nicht mehr erfüllen können. Schon in den nächsten Jahren werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit semipermanent in Benutzung bleiben müssen. Der Wasseraustausch zwischen Lagune und Meer würde dadurch dauerhaft und verbunden und die Lagune verschlammen. Man geht davon aus, dass man sich irgendwann zwischen der Existenz der Lagune und der Existenz Venedigs entscheiden werden muss. Für die nächsten Jahre ist Venedig gerettet. Die Katastrophe ist abgewendet, möchte man meinen. Und weißt du gleich, dass Sie vor allem verschoben worden ist? Ich reiße mich vom Anblick des Wassers los, schaue auf meinen Plan und schlage den Weg zu dem griechisch orthodoxen und dem evangelischen Teil des Friedhofs ein. An der zentralen Wegkreuzung der Begräbnis Felder stehen vier große Familiengräber. Die viktorianisch anmutenden Häuschen aus Backstein und Sandstein mit Rundbogenportalen und schweren Eisentüren wirken prachtvoll und bescheiden zugleich. Irgendetwas an ihnen weckt Erinnerungen an Lektüren von Henry, James, Edith Worten und Thomas Mann in mir. Ihre Ästhetik ruft das lange 19. Jahrhundert Fach, das sich zwischen den napoleonischen Kriegen und dem ersten Weltkrieg erstreckte, den menschengemachten Katastrophen jener Zeit. Ihr Anblick sorgt dafür, dass ich kurz etwas in mir zusammenzieht. Die stolze, selbstverständliche Trauer, die diese Familiengräber ausstrahlen, setzt mir zu. Das dynastische Selbstbewusstsein, dass sie repräsentieren, erfüllt mich mit einer unterschwelligen Panik. Schneller als zuvor setze ich meinen Weg fort. Mein Vater wurde anonym beerdigt. Seine Asche liegt auf der großen Wiese eines Friedhofs in einer kleinen Stadt nahe dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Sein letzten Ruheort zieht kein Kreuz, kein Stein, kein Name, keine Fotoplakette. Die einzige Möglichkeit, die Blumen zu bringen, besteht darin, se an einem großen Findling niederzulegen, dem symbolischen Grabmal für alle auf dieser Wiese ruhenden Toten. Mein Vater, meine Mutter fassten den Entschluss, sich so beisetzen zu lassen, als sie in den letzten Monaten des Lebens meines Vaters Abschied voneinander nahmen. Die Gewissheit, dass sie dies ausführlich tun konnten, ist die einzige Form, wirklich ein Trost, die ich spüre, wenn ich an die Krankheit und den Tod meines Vaters denke. Meine Eltern hatten sich darauf geeinigt, dass sie erst die Hilfe einer Pflegekraft in Anspruch nehmen würden, wenn das unvermeidlich wäre, und dass sie auch auf einen Platz in einem Hospiz verzichten und die Krankenhausaufenthalte auf ein Minimum reduzieren wollten. All das war für beide mit kaum vorstellbaren Anstrengungen verbunden: für meine Mutter mit denen der Pflege und für meinen Vater mit denen des Sterbens. Doch sie verteidigten die Zeit, die ihnen blieb, mit aller Kraft gegen die Außenwelt. Ich glaube, dass sie die Besuche durch meine Geschwister und mich nicht nur wegen der Gefahren der pandemischen Situation so selten zu ließen, auch wenn darin sicherlich der Hauptgrund für ihre Vorsicht lag. Ich hatte auch den Eindruck, dass wir uns nicht zeigen wollten, wie schwer dieser Alltag der Pflege und des Sterbens war, von welchen Herausforderungen und welchen Schmerz er geprägt ist. Sie wollten nicht, dass wir diese Seite ihres Lebens sahen. Vor allem aber hatte ich das Gefühl, dass Sie ihre Zeit miteinander nicht mehr mit anderen Menschen teilen wollten, nicht einmal mit ihren Kindern. Ihre Zeit miteinander war so unendlich wertvoll geworden. Sie wollten jede Minute davon ausschöpfen. Meine Mutter erzählte mir von den anonymen Beerdigungsplänen erst bei jedem Telefonat in Heidelberg, als mein Vater starb. Erst war ich schockiert. Als ich sie fragte, warum Sie diesen Entschluss gefasst hätten, sagte sie nur, dass er schon lange feststand und das Sie mir doch bereits davon erzählt hätten. Sie hatten es nicht getan. Ich versuchte sie davon zu überzeugen, diese Entscheidung zu ändern, doch sie ließ sich nicht umstimmen. Die evangelischen und griechisch-orthodoxen Friedhöfe in San Michele sind trotz der Ausschilderung schwer zu finden. Ich stelle fest, dass ich meine Traurigkeit zu einem harten Knoten verfestigt hat. Erst nach einigen Minuten gelange ich zu meinem Ziel. Zunächst betrete ich den orthodoxen Friedhof, den eine hohe Backsteinmauer umgibt, vor der sich prächtige Grabmale aneinander reihen. Einige von ihnen werden gepflegt, andere sind im Verfall begriffen. Die großen Platten auf den Gräbern von Igor und Vera sind mit kleinen Muscheln und einigen Welken, Rosen geschmückt. Vor das Jugendstil Grabmal von Sergej dem Gründer von Belarus, hat jemand Plastiktöpfchen mit Alpen und Usambaraveilchen gestellt. Auf den Podest des Grabsteins stapeln sich Paare seidig glänzender Spitzenschuhe. An dem Tag, als wir zusammen die anonyme Begräbnis Wiese auf dem Friedhof in Mecklenburg besuchten, trafen wir uns zunächst in der Wohnung meiner Eltern, in der man die Präsenz meines Vaters noch spüren konnte. Meine meine Schwester, ihr Mann, ihr Sohn und dessen Freundin waren gekommen, genauso wie mein Bruder mit seinem Sohn und seinem Mann, und die Tochter meines verstorbenen Bruders und ihr Mann, meine Mutter wirkte zunächst gefasst. Zusammen fuhren wir in verschiedenen Autos in die Kleinstadt, legten den letzten Weg zum Friedhof zu Fuß zurück und verfielen ersten ins Schweigen, als wir an der Wiese ankamen. Nacheinander traten wir an den großen Gemeinschaftsfindling und legten still unsere Blumen ab. Wir mussten alle weinen. Ich ließ meine Tränen nicht lange zu, versuchte mich zusammenzureißen, weil ich nicht wusste, was mit mir passieren würde. Ich ließ meine Tränen nicht lange zu, versuchte mich zusammenzureißen, weil ich nicht wusste, was mit mir passieren würde, wenn ich es nicht täte, wenn ich eigentlich mit niemanden über meine Gefühle reden wollte. Es gibt wenig menschliche Regungen als die Traurigkeit der Trauer, doch Sie zuzulassen, sie zu akzeptieren und sie zum Ausdruck zu bringen, erfordert an jedem Tag mehr Mut als ich aufbringen konnte. Ich gehe hinüber zum evangelischen Friedhof. Der Maler Friedrich Nerly, der für seine Mondschein Bilder vom Markusplatz bekannt war, und Joseph Brodsky, dessen Venedig Buch ich in meiner Tasche trage, liegen hier begraben. Der Friedhof ist in einem schlechten Zustand. Viele Grabmäler sind verfallen. Einige der Kreuzer, umgestürzt, durch das Grün von Palmen und Lorbeerbäumen, nimmt der Szene ihre gespenstische Qualität. Nerly's Grabmal erstrahlt weiß in ausladender Pracht. Brodsky's Grab finde ich erst nach längerem suchen. Ein schlichter grauer Mamorstein markiert es mit seinem Namen in kyrillischen und lateinischen Buchstaben. Die Grabfläche selbst ist mit glänzendem Bewachsen. Ich frage mich plötzlich, warum ich an diesem Grab stehe, da innere Knoten meiner Traurigkeit ist unauflösbar geworden. Ich bin ruhelos. Ich weiß, dass ich hier etwas gesucht, aber nicht gefunden habe, dass ich es auch nicht finden werde. Es ist wieder kühler geworden. Ich ziehe mir meinen Mantel über und mache mich auf den Weg zurück zum Ausgang. #00:55:49-0#

Grazyna Wanat: Joseph Brodzky steht auf meiner privaten Liste der Verluste, nachdem er sich so dekonstruiert hat von seinem Rebellen, Mythos, nachdem er diesen Antiukrainischen komplett voller Hass geschrieben hat. Und ich habe das in Erinnerung, als wir uns in Polen, wo ich aufgewachsen bin, seine verbotene Schriften gelesen haben und diese Aufzeichnung von sein von dem Verhör, als er auf die Frage, wer erlaubt dir, Dichter zu sein? Antwortet er: ,,Gott''. Das fand ich irgendwie nicht unbedingt diese Antwort auf Gott, aber diese trotzdem geistige Freiheit und dann so was? Aber das nur am Rande. #00:56:47-7#

Daniel Schreiber: Ist aber so, dass du das sagst, weil es natürlich genau viele solche alten heterosexuelle Männer gibt, die irgendwann so tolle Sachen geschrieben haben, und ja, also ich habe also gegen Ende des Lebens ihr ganzes Werk in Frage stellen. Und wie ging es genauso? Man muss natürlich dazu sagen, dieses, dieses antiukrainische Pampflet ist, glaube ich, nie veröffentlicht worden, also von ihm nicht veröffentlicht worden, sondern es wurde später, nach seinem Tod, von russischer Seite veröffentlicht, die ihn dann wieder entdeckt haben, nachdem sie ihn... #00:57:21-1#

Grazyna Wanat: Vereinnahmen konnte, aber, nachdem sie ihn ausgewiesen haben #00:57:25-0#

Daniel Schreiber: Und aber, und es ist auch interessant, weil dieses Venedig Buch von ihm, das ist tatsächlich ein ein ganz wunderbares und aber auch ein ganz schreckliches Buch. Also, weil, zum einen gibt es so, es gibt eine unfassbare Hybris in diesem Buch, eine unfassbare patriarchale Selbstverständlichkeit, eine Selbstverständlichkeit, mit der er sich als eine kulturelle Elite, als eine patriarchale kulturelle, erst dann als Teil des Vierte verstand. Und dann gibt's aber auch wieder wirklich beeindruckende Beschreibung der Stadt, die so genau sind und so berührend und so klug und so wunderbar beobachtet, dass es ein ja, also sprachlos macht. Und dann gibt es so viele poetische Momente und auch Momente, in denen seine ganze Verletzlichkeit deutlich wird und seine ganze, ja völlig dramatisch schlimme Lebensgeschichte. #00:58:27-6#

Grazyna Wanat: Hm, Venedig, wusstest du von Anfang an, dass das die beste für dieses Thema sein kann, oder hat sich dann so ergeben? #00:58:36-5#

Daniel Schreiber: Nee also also, ich wusste, dass ich schon lange länger, dass ich dieses Buch an einem Tag, dass ihr das Buch an einem Tag, dass dieses Buch einen Tag beschreibt, und, ähm, und ich wusste aber nicht, wo dieser Tag stattfindet, und ich hab da mir Notizen gemacht für einige Tage in Berlin, wo ich wohne, und das hat sich aber keiner dieser Tage hat sich richtig angefühlt, und ich habe damals viel Zeit in Bamberg verbracht, wo ich ein Stipendium hatte, und hab dann da auch ein paar Tage beobachtet und mir Notizen gemacht: Ach dann dann aber festgestellt, das geht noch viel weniger, weil ja dieses, diese große katholische Atmosphäre dort alles einnimmt und alles in dem anderen einen anderen Dreh gibt. Und und in Venedig wollte ich nicht spielen lassen. Also ich wusste, das ich dahin fahren werde, und war auch froh, und ich war schon oft in Venedig in meinem Leben, war aber noch nie im Winter in Venedig und dachte ja, das ist so, die Stadt ist so besetzt mit mit Ideen und mit ästhetischen Ideen von Untergang und Tod, mit einer Ästhetisierung des die bieten, dass es überhaupt nicht passt, und und ich muss dazu sagen, ich finde diese Ästhetisierung völlig befremdlich, und ich schreibe auch in einer Hersteller, in diesem Buch, dass diese Art von Ästhetisierung darauf beruht, dass man im sicheren, im warmen ist. Wir nehmen dich jetzt, eine Stadt, die schon seit dem 19 Jahrhundert Touristen und Touristinnen aus ganz Europa fahren, um es noch ein letztes Mal zu sehen, bevor es untergeht, und und die sind aber eben aus sicheren Orten dorthin gefahren, um sich diese untergehende Stadt noch einmal so richtig gute Gemüte zu führen. Und und das war das fand ich dann so ein, als ich das verstanden habe, habe ich gedacht, ah, okay, vielleicht, vielleicht ist es doch der richtige Ort. Denn, eben seit zweihundert Jahren leben Menschen in dieser Stadt mit der Idee eines Untergangs im Kopf. Wir haben es heute mit globalen, politischen und klimatischen Entwicklungen zu tun, also akut zu tun, die in Venedig schon seit Jahrzehnten akut sind. Und und trotzdem baut man sich dort ein Leben auf. Trotzdem baut man sich ein Leben auf mit Genuss, Schönheit, Leichtigkeit und daran etwas, was man lernen kann und was wir, glaube ich, lernen müssen oder was ich lernen musste, und und das war der eigentliche Grund, warum es Venedig gespielt hat und man muss, und dann, was auch noch eine Rolle gespielt ist, natürlich der Nebel, der eine wichtige Rolle in dem Buch bespielt und das schon mal im Winter in Venedig war, weiß, dass dieser Nebel wirklich, also eine ganz absurde Qualität hat, weil wirklich so dicht ist, dass man nicht sehen kann, und man löst sich in dieser Stadt von diesem Nebel auf, und und, und ich fand das so ne gute Metapher vertraue, weil man eben nicht nach vorne gucken kann. Man kann sich nicht vorstellen, wie es vor einem aussieht, und irgendwann löst sich der Nebel aber auf, und irgendwann kann man wieder nach vorne gucken, und das wollte ich einfangen. #01:02:18-8#

Grazyna Wanat: Mhm, ja, und diese Insel der Toten, das ist auch etwas wahnsinnig spannendes, besonderes passendes zu diesem Thema. Wie weit die Verdrängung gehen kann, auch wirklich in baulichen, architektonischen Sinne auch. Aber trotzdem finde ich das auch als das. Das dient den Ritualen, auch wenn sie verdrängt werden. Aber die sind da. Aber das, was du beschreibst, diese Entscheidung von deinem Vater, finde ich noch radikaler, dass man das eben komplett auf diese Rituale verzichten möchte oder die den Menschen die Bleiben ein bisschen aus der Hand nimmt. Oder ist es anders? Oder ich hatte und noch nur noch zweite Teil, ob die Rituale dann im Ende am Ende hilfreich sind oder uns doch hemmen, weil wir uns dann eben in Rituale verfallen und flüchten von der eigentlichen Verarbeitung. #01:03:16-4#

Daniel Schreiber: Also, Rituale sind wahnsinnig wichtig, und in allen Kulturen gab es historische Trauer und also nicht nur Begräbnis, Rituale, sondern auch Trauerrituale, und wir haben ja vor allem in den vergangenen 100 Jahren einen großen Niedergang dieser Trauerrituale erlebt, und das ist dann auch regional unterschiedlich. Also ich weiß, dass in Süddeutschland und vor allem im Westen von Süddeutschland ist eine völlig andere Ritualisierung von Trauer noch gibt als in Norddeutschland und vor allem im Osten von Norddeutschland, und die zum Beispiel, sich anonym beerdigen zu lassen, ist in den vergangenen 20 Jahren zu einer der Hauptbegräbnisformen geworden für also heute, ich glaube heute wir 25 Prozent, oder ich bin mir nicht ganz so, ich habe die Zahl nicht mehr im Kopf, aber eine sehr überraschend hohe Zahl aller Beerdigungen in Deutschland werden heute anonym gemacht, und man muss dazu sagen, dass die Rituale nur funktionieren, dass sie nur eine Wichtigkeit haben, dass Sie uns nur unterstützen können, wenn wir auch kollektiv an diesen Ritualen glauben, wenn, wenn diese Rituale glaubwürdig sind, wenn sie etwas für uns bedeuten, und in dem Moment, wo Sie es nicht mehr tun werden es dinge, die, die also, die zunächst leer werden, aber dann irgendwann auch störend werden, und und mein Vater und meine Mutter, die ihr Leben lang sehr überzeugte Artistinnen waren und die also, als als Sie 18 wurden, aus der Kirche ausgetreten sind, und ja also für die jetzt eine Bedeutung hatte, dass sie nicht glaubten, dass Sie die Religion und die Institution der dortigen protestantischen Kirche ablehnten, hätte sich, da hab ich so falsch angefühlt, auf solche Rituale zurückgreifen und ich brauchte aber lange, um das zu verstehen, weil ich für mich natürlich viel besser gefunden hätte, ein genau ein Begräbnis mit allen Ritualen zu haben, einen ja einen Grabstein zu haben wie Brodsky und so weiter hatten. #01:06:00-4#

Grazyna Wanat: Ja, aber jetzt kannst du damit mit der Zeit besser leben, mit dieser Entscheidung. #01:06:06-6#

Daniel Schreiber: Klingt ja absolut nee. Also ich finde es wichtig, dass man selbst die Entscheidung trifft, wie man begraben werden möchte. Das ist, glaube ich, ein Recht, und das, und die Angehörigen haben glauben, dass sie ein Recht haben darauf, dass sie entscheiden, aber letztlich ist das nicht die Entscheidung der Angehörigen. #01:06:29-7#

Grazyna Wanat: Das Stimmt finde ich sehr spannend, weil ich habe sehr stark in Erinnerung, die Beerdigung von meinem Vater, der nie in die Kirche auch gegangen ist, meine Mutter auch nicht, aber sie haben sich nicht getraut, das abzulehnen. Eher eigentlich hätten Sie es so ähnlich machen müssen, haben sie aber nicht. Zumindest mein Vater hat nicht entschieden, und dann hat ein Priester gesprochen, Sachen, die überhaupt uns als Familie nicht angesprochen, hat mit uns nichts zu tun, und das war so eine Vereinnahmung eigentlich, wenn man sich so freiwillig gibt. #01:07:02-0#

Daniel Schreiber: Ja, und ich glaube, dass halt also viele Menschen genau solche Erfahrungen machen und genau dieses befremdliche Gefühl haben. Und natürlich geht auch diese anonyme Beerdigung mit Ritualen einher, also dieses kleine Ritual, was ich beschrieben habe, das war eine. Ja, das war etwas, woran ich mich mein ganzes Leben lang erinnern werde an diesem Tag und an die Menschen, die wir waren an diesem Tag, und die wollen an diesem ja furchtbar ein Findling eingefunden haben, und und es war ja trotzdem wahnsinnig berührend, und das, und es hat sich authentisch angefühlt. #01:07:48-0#

Grazyna Wanat: Hm ja, wobei ich schon hier in Deutschland an einigen Beerdigungen teilgenommen habe, und dann sehe ich schon den Unterschied, dass man das, diese Rituale privater gestaltet, als es in Polen der Fall ist, wo es wirklich sehr ritualisiert ist und sehr eigentlich fern von der eigentlichen Person. Ja, aber wir nehmen uns auch, glaube ich, dem Thema des großen und des politischen. Das wollten wir unbedingt auch noch mal ansprechen, und schon alleine der Titel, die Zeit der Verluste ist die Zeit in der wir leben, so besonders von Verlusten geprägt. #01:08:30-7#

Daniel Schreiber: Ja. #01:08:31-2#

Grazyna Wanat: Hm! #01:08:31-5#

Daniel Schreiber: Empfinde ich, das empfinde ich so, und ich. Ich mache in dem Buch aber auch deutlich, dass das eine Erfahrung ist, die zyklisch wiederkehrt, dass viele Generationen vor uns genau dieses das Gefühl hatten, und ich beschreibe die die Erfahrung meiner Eltern, und das ist, in den Stellen, die ich vorgelesen habe, kam das nicht vor. Aber ein Strang dieses Buches ist tatsächlich das Leben meines Vaters und ist auch ein etwas politisches, weil ich ja, ich wollte das, ich wollte das Leben meines Vaters aufzeigen, also weil mein Vater ist, weil er mir sehr viel bedeutet, aber auch, weil ich finde, dass wir in unserem Land Menschen wie ihm, also Menschen aus der Arbeit, der Klasse, daneben lang bauen, Menschen aus dieser Region des Landes, Menschen mit geringem Wohlstand, dass diese Menschen keine Stimme haben oder keine, keine große Stimme haben, und dass diese Menschen immer mit einer Ähm, mit Klischees und Bildern begegnet wird, die falsch und dumm und ungerecht sind. Und deswegen wollte ich die Komplexität und die Schwierigkeit, aber auch die Schönheit seines Lebens aufzeigen und und sein Leben, und er hatte so ein faszinierender Mensch, das ist die eine politische Seite, und die, und und da spielt auch mit rein die Erfahrung der Wende, die für meine Eltern, für die Gradation meiner Eltern, diese Zeit der Verlust war, und ich nehme auch die Erfahrung meiner Großeltern in dem Blick am Ende des zweiten Weltkriegs auf der Flucht, die auch nicht anders zu beschreiben ist. Es kommt, es kommt ein amerikanischer Philosoph zur Sprache, der die Erfahrung des Verlusts indigene Bevölkerungsgruppen in Amerika beschreibt, und das heißt, wir sind mit dieser Zeit des Verlustes nicht alleine, und das ist ja was zyklisch, wiederkehrt. Aber das heißt nicht, dass wir diese Verluste nicht ernst nehmen müssen, und ich glaube, dass wir, also ich weiß, dass wir ganz konkret andere sorgen haben. Also, ich habe in meinem Leben noch nie einen derartigen Verfall demokratischer Strukturen erlebt. Ich habe in meinem Leben noch nicht erlebt, dass Kriege wieder zu einem probaten politischen Mittel für einige Staaten geworden sind. Ich habe noch nie erlebt, dass der Klimawandel sich derart beschleunigt, und in einer der hat die kurzen Abfolge, eine neue, jedes alle paar Wochen, eine neue Jahrhundertflut, einen neuen Jahrhundert Waldbrand, ein Jahundert der Überschwemmung, der gerade der Februar ist, der wärmste, der aufgezeichnet wurde, und nicht nur so halbes Grad, sondern um 1,3 Grad wärmer als der Durchschnitt oder sogar 1,3 Grad wärmer als der letzte wärmste Februar, und das sind Dinge, die wir wirklich in den Blick nehmen müssen, und wir haben. Ich habe zum Anfang gesagt, dass die diese Verdrängung, die wir diesen Themen immer noch entgegenbringen, und auch ich schreibe auch in dem Buch, so verschiedene Arten und Weisen in dieser Verdrängung, weil ich glaube ich, diese diese sich also also, es gibt die Leute, die sagen, nee, nee, das ist halt mit mir nichts zu tun, und ich werde, das ist alles Panikmache, und und die, das ist so alles wird mit ja übertrieben, und dann gibt es aber auch, also das auch Freunde und Freunde hatten diese Meinung, und dann gibt es aber auch welche, die sich also so völlig rein arbeiten und mit denen man sich einen ganzen Abend lang über das unterhält, was dann und dann und dann passieren wird, was, wenn nicht das und das jetzt passiert, und und ich habe irgendwann den Eindruck gehabt, dass beide Seiten lässt sich sich so ein Verdrängung üben, weil, Verdrängung ist natürlich diese ganz klare Abwehrreaktion. Ja, Verdrängung ist auch, dass sich rein arbeiten, das sich durcharbeiten, dass Kontrolle des Versuchs, der Versuch, Kontrolle über etwas zu gewinnen, was man eben nicht kontrollieren kann und was so beide Seiten eben nicht in den Blick nehmen können, ist die ja die Realität, und ein anderer Strang in diesem Buch, mit den wir jetzt auch nicht reden konnten, ist die also ist eine Auseinandersetzung mit diesen endzeitlichen Gefühlen, mit diesen apokalyptischen Stimmungen, die mir extrem aufstoßen, weil ich glaube, dass Sie immer implizieren, dass wir schon immer gewusst haben, dass es schlimm wird, aber nichts dagegen machen konnten und deshalb gibt es diese Lust. Deshalb sprechen wir so getragen über Zeitenwenden, deshalb gucken wir uns zwanghaft Apokalypse- und Postapokalypsefilme an und so weiter. Deswegen lesen wir Sachbücher, die vor dem waren und da waren, und so weiter. Und das ist aber eine ganz zentrale menschliche Erfahrung, dass wir unsere Zukunft mitschreiben können, und wenn wir aus aus Angst, uns den Verlusten zu stellen, dieses Werkzeug aus der Hand geben, unsere Zukunft mitzuschreiben, dann dann richtig. #01:15:12-2#

Grazyna Wanat: Dann verlieren wir es. #01:15:12-2#

Daniel Schreiber: Also, das ist, da liegt die eigentliche Tragik, für mich.. #01:15:15-7#

Grazyna Wanat: Ja, das stimmt. #01:15:15-7#

Daniel Schreiber: Also in der eigentlichen Tragik. #01:15:18-3#

Grazyna Wanat: Ich weiß, dass bei uns hier im Raum ganz viele Leute sind, die sich sehr engagieren. Ich kenne viele, weil wir eben viele Podcast Gäste auch hier dabei haben, und die engagieren sich wirklich auch für gerechte Gesellschaft und sowohl privat als auch in ihrer berufliche Arbeit. Und was, denkst du, gibt es in solchen Fragen und in solchen Zeiten wie jetzt eine unschuldige, neutrale Position, also schweigende im privaten? Ich glaube, die institutionellen. #01:15:48-9#

Daniel Schreiber: Dann gibt es nie, und es ist, glaube ich, so, diese genau also, Unschuld gibt es schon nicht, also gibt es, wir sind, die sind wir noch, wir sind ja auch in einem sehr katholischen Landstrich, oder oder müssen wir das wissen? Dass es keine Unschuld gibt? Das ist nee! Also sind natürlich diese Idee, dass man neutral sein kann, ist eben auch völlig absurd, weil man, weil Neutralität immer heißt, dass man die Türen für extreme Positionen offen lässt und sie letztlich hereinbittet. Und ja. #01:16:33-0#

Grazyna Wanat: Also eine gewisse Gleichgültigkeit auch antragen? Ja, ich weiß nicht, wie viel Zeit wir eigentlich noch haben, wir haben gar keine mehr. Genau dann: Okay, also, über Ostdeutschland und so weiter werden wir jetzt nicht mehr sprechen. Für die. Für den Abschluss der Veranstaltung haben wir abgemacht, dass du einen Abschnitt liegt. Deswegen sage ich noch ein paar Sachen, und dann ist das letzte Wort bei der Okay. Also, da sind schon ein bisschen organisatorischen Sachen. Wir feiern heute diese 100. Folge. Deswegen würden wir uns sehr freuen, wenn sie nach der Lesung auch ein bisschen mit uns bleiben und ein bisschen ins Gespräch mit uns kommen. Wir haben da drei Fragen gestellt. Eine Frage haben Sie schon gesehen, dient dazu, dass Sie auch vielleicht ins Gespräch kommen über Verluste, die sich überschätzen, die, darum geht es in diesem Buch. Aber wir haben noch zwei weitere Fragen gestellt. Die sind dann draußen zu sehen. Einmal fragen, wie für uns, welche Themen, welche Gäste sollen wir noch einladen? Einmal freundlicherweise fragen, wie für dich, mit welchem Thema solltest du dich beim nächsten Buch beschäftigen? #01:17:47-4#

Daniel Schreiber: Ich danke. Danke für die Umfrage. #01:17:49-6#

Grazyna Wanat: Also fleißig notieren und ja, und wir lesen dann später diese Antworten und genau die allerletzte Sache, dass ich weiß, dass du das Bild sehr gemacht hast, und da hast du sogar kurz überlegt, das mitzunehmen. #01:18:07-7#

Daniel Schreiber: Ich finde es so schön, dass ihr es aufgehoben habt. Das ist ganz süß! #01:18:11-6#

Grazyna Wanat: Genau das kommt von da ist, entworfen für unsere Texttage. Von unserer Grafikerin Katja. Ich habe es ihr erzählt, und schau mal, was sie für dich extra so ne kleine Ausgabe gemacht. Vieles, gerne, gut. #01:18:33-9#

Daniel Schreiber: Danke! #01:18:35-4#

Grazyna Wanat: Ja. #01:18:35-5#

Grazyna Wanat: Und jetzt bedanke ich mir nur noch, und du liebst deinen Abschluss trägst und später! #01:18:42-3#

Daniel Schreiber: Packst du das wieder sicher ein? #01:18:43-3#

Grazyna Wanat: Mache ich ach und noch noch was, Bücher gibt's draußen zu kaufen, und bitte leer kaufen, sonst müssen die Kolleginnen vom eben wieder die Sachen, die Bücher mitschleppen. Also und Sie was, bitte dagegen, und dann unterschreibt! #01:19:00-8#

Daniel Schreiber: Ja, ich also, die die stelle, die ich jetzt lese, ist relativ kurz. Also Sie müssen nicht nochmal 15 Minuten aushalten und dann vielleicht so zweieinhalb. Und vielleicht muss ich auch dazu sagen, dass an solchen Abenden redet man immer mehr ja über die, die Schwierigkeit und die Dunkelheit dieser Themen, die in diesem Buch verhandelt werden, weil diese, diese Dunkelheiten, die Schwierigkeiten so einen eigenen Sog entwickelt, wenn man darüber eben sprechen muss. Aber der eigentliche Punkt des Buches ist Zuversicht. Der eigentliche Punkt dieses Buches ist aufzuzeigen, wie es Momente des Genusses, Momente der Schönheit, Momente des Staus, Momente der Ehrfurcht gibt, die Ähm, ja das eigentliche des Lebens ausmachen. Und das ganze Buch ist von solchen Momenten durchzogen, und das sind Momente, die, den man während der Trauer wenig Raum gibt, zum einen, wenn man häufig betäubt durch den Alltag geht und diese Betäubung dafür sorgt, dass man bestimmte emotionale Tiefen nicht erfährt, aber eben auch solche Momente von Genuss, Schönheit, staunen, Ehrfurcht nicht erfährt, und zum anderen, weil man sie moralisch belegt und sich nicht erlaubt. Und meinem Eindruck nach aber sind das die Momente, die in die Richtung aus der Trauer, aus der akuten Trauer, die Richtung in dieses neue Leben, was wir uns nach großen Verlusten aufbauen müssen, zeigen. Und genau, lange Rede, kurzer Sinn, vielleicht müssen sie müssen Sie jetzt doch ein bisschen länger aushalten, die genau ich wollte den Abend mit einem solchen Moment enden. Als ich aufblicke, ist es dunkel draußen. Der Sonnenuntergang ist schon länger vorbei. Ich habe immer mehr Notizen gemacht als gedacht. Die taube Ruhelosigkeit, die mich den ganzen Tag begleitet, hat das etwas abgebt. Ich klappe den Laptop zu, gleich werde ich Lucy zum Essen treffen. Ich trete noch einmal ans Fenster und schaue auf die Terrasse und in den dunklen Winterhimmel, dessen helle Wolken das Licht der Stadt und ihre angestrahlten historischen Fassaden reflektieren. Es wird mir erst einige Monate später gelingen, meiner Sprachlosigkeit besser zu begegnen. Erst später, wenn die Tage in Venedig in den Hintergrund gerückt sind, während eines Sommers, den ich fast gänzlich Zuhause in meiner Wohnung in Berlin verbringen werde. Erst später, wenn man eine Terrasse unter einem dichten grünen Blätterdach versinkt und ihr schon viele Jahre alter japanischer Baum zum ersten Mal blüht und grüne Früchte trägt. Erst später, wenn ich gelegentlich Freundinnen und Freunde sehe, wenn ich mir Aufstand anschaue oder mit jemandem etwas essen gehe, wenn ich morgens einige der Romane von Natalia Ginsburg lese, die ich noch nicht kenne, wenn ich mit meinem Patenkind ins Kino gehe und Superhero Filme sehe, wenn ich mit der Tochter der Freunde der Nachbarsfamilie den kleinen Tierpark in unserer Nähe besuche, mir geduldig Ziegen, Lamas, Ponys, Hühner, Enten und vor allem Häschen mit ihr anschaue und dann beobachte, wie schnell sie sprechen lernen. Später, wenn ich meine Mutter besuche, wieder stundenlang in ihrem wunderschönen Garten sitzen und über meinen Vater reden und sie mich anschließend mit so viel Obst und Gemüse wieder nach Hause schickt, dass sie mich einige Tage lang fast gänzlich davon ernähre; später, wenn jeden Monat die heißesten Temperaturen gemessen werden, die jemals aufgezeichnet wurden, wenn die Wälder brennen, einige Regionen der Welt unter katastrophalen Überschwemmungen leiden und andere unter nie dagewesenen Dürreperioden. Später, wenn die Menge des Meereises in der Antarktis so gering ist, wie es mathematisch gesehen nur alle 30 Millionen Jahre vorkommen sollte, wenn auch die Geologie aufgrund von Gesteins Ablagerungen offiziell das Zeitalter des Anthropozäns ausruft, das bis dahin nur als geisteswissenschaftliche Idee existiert hat. Erst später, wenn ich trotz allem froh sein werde, gerade hier und am Leben zu sein. Dankeschön. #01:24:08-7#

Grazyna Wanat: Danke. #01:24:09-8#

Dieses Projekt/Diese Maßnahme/Initiative leistet einen wichtigen Beitrag, Nürnberg schrittweise inklusiver zu gestalten. Es/Sie ist Teil des Nürnberger Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Den Ersten Aktionsplan hat der Nürnberger Stadtrat im Dezember 2021 einstimmig beschlossen. Um die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit und ohne Behinderung in Nürnberg zu verwirklichen, wurden und werden umfangreiche Maßnahmen entwickelt und umgesetzt. Weitere Informationen finden Sie unter www.inklusion.nuernberg.de.

 

Wie kaum ein anderer kann Daniel Schreiber bestimmte emotionale Zustände auffangen, in den Blick nehmen und aus mehreren Perspektiven beleuchten. Aus einer Mischung aus individuellen Erfahrungen und kulturgeschichtlichen Betrachtungen entstehen Essays, die gleichzeitig universelle Erkenntnisse liefern und zutiefst berühren. Dass der Autor über seine Reflektionen nicht nur schreiben, sondern auch sehr offen sprechen kann, überzeugte sich bereits das Publikum der texttage.nuernberg 2022. Umso mehr freuten wir uns über erneute Begegnung mit Daniel Schreiber und seinem neuen Buch.

Nach seinem letzten Bestseller Allein geht Daniel Schreiber nun der Frage nach: Wie lässt sich ein Leben in Zeiten um sich greifender Verluste führen?

Nichts möchten wir lieber ausblenden als die Unbeständigkeit der Welt. Dennoch werden wir immer wieder damit konfrontiert. Wir sprachen über unsere Fähigkeit zu trauern und über mögliche Wege, mit einem Gefühl umzugehen, das uns oft überfordert. Nicht nur privat erleben wir Verluste – auch als Gesellschaft spüren wir das Schwinden von Gewissheiten und lange unumstößlich wirkenden Sicherheiten. Im Gespräch betrachten wir auch die politischen Aspekte der Veränderungen, die wir gerade erleben – und diskutieren die Konsequenzen. Gibt es eine unschuldige „neutrale“ – also schweigende Position, im Privaten und im Institutionellen?

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Wir  - das BZ - haben immer wieder neue Kurse und Workshops zu Demokratiebildung:
https://bz.nuernberg.de/themen/demokratie-im-gespraech

Womöglich ist auch im Herbst das eine oder das andere Workshop mit Priscilla dabei. Sie hat nie gesagt, dass sie Nürnberg nicht besuchen wird!

Aufgenommen am: Dienstag, den 5. März 2024
Veröffentlicht am: Donnerstag, den 21. März 2024
Moderation: Grazyna Wanat
Im Gespräch: Daniel Schreiber

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Alle weiteren Folgen von KontaktAufnahme – der Podcast des Bildungszentrums Nürnberg finden Sie hier. Alle zwei Wochen, donnerstags, veröffentlichen wir ein neues Gespräch.

Wen sollen wir noch befragen - haben Sie Ideen und Anregungen? Schreiben Sie uns an!