Nino Haratischwili, warum so vielseitig?
Grazyna Wanat: Hallo und herzlich willkommen, liebe Zuhörer:innen! Heute hören Sie einen Mitschnitt von einem Gespräch mit Nino Haratischwili, das am 9. Mai 2022 im internationalen Haus Nürnberg stattgefunden hat. Geboren 1983 in Tbilisi, Georgien, ist preisgekrönte Theaterautorin, Regisseurin und Romanautorin. Ihr großes Familienepos "Das achte Leben für Brilka", in 25 Sprachen übersetzt, avancierte zum weltweiten Bestseller. Eine große internationale Verfilmung ist in Vorbereitung. Davon erzählt sie auch im Laufe des Gesprächs. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Ihr Roman "Die Katze und der General" stand auf der Shortlist für den deutschen Buchpreis 2018. Ihr aktueller Roman "Das mangelnde Licht" wurde bereits vor dem Erscheinen in 15 Ländern verkauft. Einen Tag vor der Buchveröffentlichung begann der russische Angriffskrieg in der Ukraine, was dem Roman eine bestürzende Aktualität gab. Und kurz nach der Erscheinung musste das Buch bereits nachgedruckt werden. Moderiert wurde das Gespräch von Frau Ketevan Borufka, die auch aus Georgien stammt und die die im Buch beschriebene Realität aus eigener Erfahrung kennt. Frau Borufka ist studierte Journalistin mit Spezialisierung Internationale Journalistik und hat mehrjährige Berufserfahrung als gesellschaftspolitische Berichterstatterin bei verschiedenen namhaften Zeitungen Georgiens. Sie ist auch Vorsitzende des georgischen Kulturzentrums INKO in Nürnberg. #00:01:58-0#
Grazyna Wanat: "Das mangelnde Licht". Meine Freunde und ich, wir fanden den Titel phänomenal. Das beschreibt die damalige Situation so zutreffend, weil das Licht damals tatsächlich gefehlt hat. Im übertragenden Sinne, dass wir in damaliger Zeit sowie in der Zukunft kein Licht sahen und auch, dass wir keinen Strom hatten und, wir waren abgedunkelt. Wie bist du auf diesen Titel gekommen? Hat das lange gedauert? #00:02:29-4#
Nino Haratischwili: Der war sofort da. Ich hab das sowieso mit den Titeln so. Ich brauche die, die müssen von vornherein da sein, sonst kann ich nicht anfangen. Und wenn die da sind, dann bleiben sie auch. Und es gab zum Beispiel bei dem Titel diverse Diskussionen im Verlag, weil das grammatikalisch auf Deutsch schwierig ist, also Mangel an etwas. Aber das mangelnde Licht sagt man irgendwie so nicht, und wir haben dann diskutiert, und ich habe gesagt, nein, auf keinen Fall. Das ist halt wie mit einem Kind. Also wenn mein Kind irgendwie einen Namen gegeben hat, kann man es ja auch dann später nicht mehr umändern. Und der Text verwächst total mit diesem Titel. Auch, wenn der jetzt dann vielleicht komisch klingt für manche andere Ohren oder so. Da bin ich auch so ein bisschen abergläubig. Und ich habe dann sehr gefightet, dass es auch so bleibt. Dieses Buch handelt von den Neunzigern, eben eine sehr extreme Zeit. Wir werden sicherlich noch dazu kommen und ausführlicher drüber sprechen. Aber es ist einfach eine extreme Zeit gewesen für alle, die damals in Georgien gelebt haben. Und diese Zeit war geprägt von Mangel, von Gewalt, von extremen Erfahrungen, Wertezerfall, Rechtsstaatszerfall, also eine sehr anarchische Zeit. Ein Jahrzehnt von im wörtlichen Sinne gesprochenen Überlebenskampf. Und wenn man jetzt irgendeinen Georgier auf der Straße anhält, der damals in der Zeit in Georgien gelebt hat und fragt, was ist deine erste Assoziation zu den 90ern? Jeder wird sagen: Dunkelheit, weil ständig Strom ausfiel und man mit Kerzen oder Petroleumlampen oder sonst was sich aushelfen musste. Und ich fand das im wörtlichen und im übertragenden Sinne einfach sozusagen das passendste, was mir zu dieser Zeit einfiel. #00:04:30-8#
Grazyna Wanat: Würdest du jetzt kurz über die Handlung deines Buches erzählen? Also, was bedeutet für dich die Geschichte? #00:04:38-5#
Nino Haratischwili: Ja, also ich wollte schon immer über diese Zeit schreiben. Ich bin zwar jünger als die Protagonistin in diesem Buch. Also ich war ein Kind, als das alles losging. Aber dennoch verlief zum Teil auch meine Kindheit und Jugend in diesem Jahrzehnt. Und das ist eine sehr extreme Zeit gewesen, wie bereits erwähnt, die war sehr, sehr prägend für uns alle, auch traumatisch, und trotzdem aber auch eine Zeit, nicht nur voller Mängel und Brutalität und Gewalt, sondern eben auch von sehr starkem Zusammenhalt, habe ich so das Gefühl. Also, Menschen haben sich auch gegenseitig sehr geholfen und sehr unterstützt. Und ja, musste man quasi auch. Das ging los mit der Unabhängigkeitsbestrebung, dann ging's weiter mit Unabhängigkeit, dann diese sehr blutige Ablösung von Russland mit niedergeschlagenen Demonstrationen und Militäreinmarsch und Sperrstunden. Dann ging es weiter mit Sezessionskriegen nach Asien. Dann ging's weiter mit Wirtschaftskrise, also komplette Arbeitslosigkeit, soziale, irrsinnig große Probleme, Perspektivlosigkeit, dann Korruption natürlich und dann halt Machtkämpfe innerhalb Georgiens, dann die Flucht des ersten Präsidenten, dann eine Militärjunta, die die Führung übernahm, und dann irgendwann kam Schewardnadse, und dann kehrte eine sumpfartige, also, zwar Ruhe, aber auch Stagnation in das Land ein. Und das war alles innerhalb von zehn, zwölf Jahren. Und die war sehr, sehr prägend. Und ich habe auch erst in Deutschland so richtig realisiert, was genau diese Zeit eigentlich so bedeutet und wie anders meine Jugend ist als die meiner Freunde, die hier aufgewachsen sind, und dass wir zum Teil, also wir Georgier, diese Zeit auch eigentlich nicht so wirklich aufgearbeitet haben und dass man halt seitdem auch immer so weiter, weiter und ständig mit irgendwelchen Problemen zu gangen ist, aber dass diese Zeit eben doch auch sehr, ja sehr wichtig ist, um bestimmte Fehler auch zu verstehen. Und dann bin ich halt irgendwie mal wieder dahin zurückgekehrt. Und damals, als ich "Das achte Leben" schrieb, war ursprünglich auch die Idee, mich auf 80er und 90er zu konzentrieren. Aber da war es so, dass ich das Gefühl hatte: Okay, also, Georgien kennen sowieso die wenigsten. Dann wusste ich, dass ist erst irgendwie für einen westlichen oder deutschen Leser, ich schreibe auf Deutsch. Ich wusste dann: Okay, die Leute wissen irgendwie so wenig darüber, und es ist auch wie ein Abschluss einer Ära oder einer Dekade. Und ich hab gedacht. Nee, man muss ein bisschen früher anfangen, um Sachen zu verstehen. Und dann bin ich in der Zeit immer weiter zurück, und dann weitete sich das über ein ganzes Jahrhundert aus. Und dann, viele Jahre später, nämlich jetzt, hatte ich das Gefühl, okay, ich habe das aufgearbeitet, also die ganze Vorgeschichte, und jetzt kann ich mich ausschließlich auf dieses Jahrzehnt konzentrieren. Das hab ich dann auch getan. Und nichtdestotrotz war für mich aber sehr wichtig, weil es eben eine Zeit ist voller sehr extremen und sehr schrecklichen Ereignisse, war mir wichtig, dem ganzen etwas entgegenzusetzen, was ich für sehr schön und wichtig irgendwie befinde. Und davon gibt es nicht viel, was für mich gleichen Wert im Leben besitzt, nämlich die Freundschaft. Und ganz speziell eine Frauenfreundschaft. Und das ist eines der schönsten Gefühle, finde ich, und eines der schönsten Sachen. Und so gesehen, ganz vereinfacht gesagt, ist das ein Buch über Freundschaft. Es handelt von vier Freundinnen, die sind alle Nachbarinnen, gehen zusammen zur Schule, die sich in der frühen Kindheit kennenlernen und dann durch dick und dünn gehen und leider genötigt sind, in ihrer Adoleszenz, also wo es so losgeht mit Schule fertig und eigentlich noch Teenager, beginnt einfach dieses schreckliche Jahrzehnt, und die müssen schlagartig erwachsen werden und durch sehr, sehr, sehr, sehr viele, sehr brutale auch, Herausforderungen meistern. Und diese Freundschaft erstreckt sich eben über mehrere Jahrzehnte, wobei, die wird am Ende dann auch zerbrechen. Und es gibt noch eine Rahmenhandlung, also das vielleicht so kurz zur Struktur noch abschließend: Das Buch wird sozusagen auf zwei Zeitebenen erzählt. Die eine Zeitebene ist die Gegenwart 2019 in Brüssel auf einer Ausstellung, weil eine dieser Freundinnen, die zu dem Zeitpunkt dieser Ausstellung nicht mehr lebt - das darf ich jetzt auch verraten, weil es gleich auf der ersten Seite des Buches steht. -, sie lebt nicht mehr. Und sie ist aber eine sehr bekannte Fotografin geworden, auch Kriegsfotografin. Und es findet eine sehr, sehr große Retrospektive statt. Und diese drei Freundinnen, die sich dann schon ziemlich viele Jahre nicht mehr gesehen haben - eine lebt in Deutschland, eine in den USA, eine in Georgien -, kommen alle nach Brüssel, um sich diese Ausstellung anzusehen. Und jedes Kapitel beginnt mit einem Foto quasi. Sie sind zum Teil Beobachter und Betrachter und zugleich aber auch Objekte dieser Ausstellung, weil sie auf sehr vielen dieser Fotos selbst abgebildet sind. Und diese Fotos werden quasi zu einer zwanghaften Erinnerungs-Tour-des-Fous. Also, sie sind diesen Erinnerungen ausgeliefert und müssen halt zurückkehren. Und nach und nach wird eben diese ganze Geschichte erzählt. Wie sie sich begegnen, was sie für ein Leben gelebt haben und so weiter. Und zugleich sind die aber auch herausgefordert, sich miteinander zu konfrontieren. Das ist so grob die Struktur. Und das ganze Buch wird erzählt von einer dieser Freundinnen, die heißt Keto, und sie erzählt eigentlich die ganze Geschichte. #00:11:13-7#
Grazyna Wanat: Wie begegnest du deinen Buchheldinnen? Wie findest du diese Charaktere? Kanntest du sie? Gleich am Anfang ist ja auch eine Widmung an Sandro, Lelah und Tatouleh. Sind die auch Protagonisten? #00:11:33-1#
Nino Haratischwili: Nee. Ich hab das meiner engsten Freundin gewidmet, folgerichtig. Und die zwei Menschen, denen das auch gewidmet ist, die Leben nicht mehr. Und die sind Vertreter eben dieser Generation, die das nicht mehr geschafft hat, aus diesem Jahrzehnt in die Gegenwart. Ich kenne sie nicht, nein. Ich schreibe grundsätzlich nichts Autobiografisches. Ich schreibe grundsätzlich nichts, was mir eins zu eins passiert ist oder meiner Familie oder sonst was. Das kann ich nicht, das interessiert mich auch nicht, weil für mich werden Dinge erst über Distanz zur Literatur. Wenn ich eins zu eins etwas aufschreibe, ist das wie Tagebuch. Und ich habe nie ein Tagebuch geführt. Ich finde es irgendwie langweilig. Ich bin eh 24 Stunden ich, und ich finde es viel spannender, beim Schreiben jemand anderer zu sein als die ganze Zeit mich noch mit mir selbst zu beschäftigen. Es klingt jetzt ein bisschen schizophren, aber ich bin das auf eine Art natürlich alles irgendwie. Und natürlich kenne ich vieles davon. Und natürlich sind da sehr, sehr viele persönliche Emotionen, Geschichten, Schmerzen, Wunden und so weiter. Aber nicht in dieser direkten Form. Also nicht sozusagen eins zu eins, weil es gibt für mich eine sehr entscheidende Grenze zwischen privat und persönlich. Alles, was ich schreibe, muss persönlich sein. Ich kann über nichts schreiben, was mit mir nichts zu tun hat, sonst glaube ich, kann es nicht gut werden. Und trotzdem brauche ich aber diese Distanz. Also, ich brauche Abstand. Und ich muss quasi eine komplett andere Perspektive einnehmen, um das Ganze eben zu Literatur zu machen. Ich kann es immer nicht sagen. Ich glaube zum Teil, es ist viel Fantasie, dann ist ganz viel für mich auch Beobachtungsgabe. Es ist wie so eine Collage, wie die Figuren sich im Kopf zusammensetzen. Und es ist ja auch nicht so ein Prozess, man geht ins Bett und wacht am nächsten Tag auf und dann sind plötzlich alle Protagonisten irgendwie da, sondern man geht ja damit so schwanger umher. Über Monate, manchmal auch Jahre. Es ist wie so ein Puzzle, das sich nach und nach im eigenen Kopf erst zusammensetzt. Und ganz viele Dinge sind auch intuitiv. Also, wenn ich anfange, ist das so, ich brauche erst mal ein Gerüst, nenne ich das immer. Ich muss ungefähr wissen, okay, das ist mein Thema, das interessiert mich, das sind meine Fragen, daran arbeite ich mich ab. Und ich muss den Weg kennen von A nach Z, also dieses Ganze, das Grobe muss ich irgendwie vor dem inneren Auge haben, sonst geht man irgendwie verloren. Aber ich weiß nie, wie ich von A nach B komme, also was auf der nächsten Seite passiert, weiß ich oft selber nicht. Ich habe nur den Generalplan sozusagen. Und ganz viel entsteht direkt beim Schreiben. Ganz viel ist dann halt - und das ist der Vorteil an dicken Büchern - ab ner gewissen Seitenzahl werden sie quasi ein bisschen wie, ja, autark oder so. Also wenn man so viel Zeit dann mit denen verbringt, dann hat man das Gefühl, wirklich die zu kennen, oder als würde man mit denen irgendwie zusammenwohnen. Und dann weiß man, okay, die Figur würde halt das nicht tun, dafür aber die. Also, es gibt immer innerhalb dieser Figuren auch ne eigene Logik. Und das ist manchmal ein sehr befreiender und sehr schöner Prozess. Manchmal ist das auch quälend, weil manchmal weiß man auch irgendwie nicht, wie man das lösen soll oder wie man eben von A nach B kommt. Aber das macht ja auch den Reiz letztlich des Schreibens irgendwie aus. Ich meine klar, hier jetzt konkret in diesem Buch sind das irrsinnig viele Dinge, das sind, glaube ich, nicht in dem Sinne meine, aber wie kollektive Erinnerungen. Also was du ja auch gesagt hast. Ich glaube, sehr viele Leute werden da sehr viele Dinge wiedererkennen. Weil es war ja etwas, was alle betroffen hat und letztlich mit allen zu tun hatte. Also nicht nur jetzt mit mir oder meinen Freunden oder meiner Familie, sondern alle waren betroffen, unabhängig vom sozialen Stand, Rang, Alter und so weiter. Und ich glaube, dadurch ist das in dem Fall auch für mich nicht schwer gewesen auf diese kollektive Erinnerung zuzugreifen. #00:15:53-5#
Grazyna Wanat: Du hast ja gemeint, bei deinen Helden, du weißt also, sie würde so nicht handeln. Ich fand aber in deinem Buch gerade, dass deine Heldinnen und deine Helden auch widersprüchliche Taten und Erfahrungen machen. Zum Beispiel die schüchterne Keto hast du ja auch dann die Rolle der Erzählerin gegeben. Oder sie ergreift auch die Initiative mit ihrem Teenie-Schwarm Levin bei der körperlichen Annäherung. Die introvertierte Ira wird irgendwann zur selbstbewussten Frau, die gerne im Lampenlicht steht. Die Nene, die ängstliche, in patriarchalischer Familie aufgewachsene, steigt in U-Bahn-Schächte, um ihre Liebe zu treffen. Und meinst du, dass das Leben auch aus Widersprüchen besteht und deswegen haben sie widersprüchliche Taten oder Erfahrungen gemacht? #00:16:58-5#
Nino Haratischwili: Ja, absolut. Also für mich ist das immer ein sehr, sehr wichtiges Anliegen, Figuren möglichst lebensnah zu gestalten. Ich möchte, wenn man über sie liest, dass man das Gefühl hat, man kennt sie. Ich möchte, dass sie aus Fleisch und Blut sind, und aus Fleisch und Blut bedeutet in dem Fall für mich, Menschen sind widersprüchlich. Wir sind alle voller Widersprüche, also auch sogar irgendwelche, sage ich jetzt mal, klassische Bösewichte oder so. Auch hier gibt's unsympathische Menschen. Und zum Beispiel, was weiß ich, im "achten Leben" gibt es halt auch historische Massenmörder, wie Belbier zum Beispiel oder Stalin. Und sogar da muss ich einen Zugang finden. Ob ich will oder nicht, sind es Menschen es gibt. Es sind keine Monster, sondern auch die sind Menschen. Das heißt, in irgendeiner Form muss ich die greifen, um sie greifbar zu machen. Und da gibt's unterschiedliche Herangehensweisen. Und das Wichtigste ist, erstmal nicht werten, also, was ich im Leben immer tun würde, oder wir neigen alle dazu, das zu tun. Aber als Autorin darf ich das nicht. Das heißt, ich darf nicht meine persönliche Haltung, wenn ich jemanden sympathisch oder unsympathisch finde, das darf nicht durchschimmern. Die müssen also mit ihren Handlungen, mit ihren Taten, mit ihren Worten für sich selber sprechen können. Das ist mir sehr wichtig. Und ich finde auch, auch im Leben jetzt, unabhängig vom Schreiben, gerade weil sie schüchtern ist, tut sie das. Gerade weil sie das Leben so sehr liebt, erträgt sie dann bestimmte Sachen nicht. Gerade weil sie unterdrückt ist und in diesem sehr patriarchalen Gefüge lebt, bricht sie aus und wird so exzentrisch und rebelliert letztlich auf ihre Art. Also, diese Widersprüche bedingen sich auch oder entstehen durch bestimmte Vorgeschichten. Also alles ist miteinander verknüpft. Und mir ist es eben sehr wichtig, auch diese Frauen, so unterschiedlich sie auch sind, nicht nur, ach ja, das ist die Gute und das ist jetzt irgendwie die Ätzende, sondern in dieser Gesamtheit zu zeigen. Und in der Gesamtheit bedeutet eben auch, manchmal sind sie auch ätzend, und manchmal nerven sie, und manchmal tun sie unlogische Sachen, und manchmal benehmen sie sich nicht korrekt. Aber ich finde, solange man über Menschen schreibt oder über Menschen redet, ist das unmöglich. Also, ich find dieses Schwarzweiße unglaublich langweilig. Und ich empfinde das im Leben auch selten so, dass Dinge Schwarz-weiß sind. #00:19:52-8#
Grazyna Wanat: In den nachfolgenden circa zehn Minuten liest Nino Haratischwili aus ihrem letzten Buch und danach kehren wir zurück zum Gespräch und sie antwortet auch auf die Publikumsfragen. #00:20:05-6#
Nino Haratischwili: Ja, ich fang erst noch in der heilen Welt an. Da ist noch alles intakt. Wir sind Ende 80er und Keto beschreibt sozusagen den Hof, aus dem sie alle stammen, in dem die Drei von den Vieren auch leben. #00:20:24-0#
Nino Haratischwili: Als ich auf die Welt kam und in die schattige und stets feuchte Wohnung in der Rebengasse 12 gebracht wurde, die zwischen der langen Engelstraße und dem Tonettiplatz lag, wohnten die ranghohen KP-Funktionäre bereits in anderen Vierteln und die einst prachtvollen Sololaki-Villen waren vom Staat umfunktioniert worden. Die Bewohner lebten nun in den sogenannten Tbilisser Höfen. Plötzlich höre ich die monotone, beruhigende Stimme meines Vaters in meinem Kopf. Da wegen der allgemeinen Wohnungsknappheit viele Familien in diesen Höfen hausten und sich das Leben immer mehr nach draußen verlagerte, ging es hier sehr laut zu. Und weil es die Zeit der italienischen neorealistischen Filme war, brachte man diesen Lärm schnell mit Italien in Verbindung. So wurden aus den Tbilisser Höfen die Italienischen Höfe. Ich sehe diese Höfe vor mir. Ich wandere durch die Kopfstein gepflasterten Straßen und biege in die Rebengasse ein, wo mein Leben seinen Anfang nimmt. Dieses Viertel ersetzte mir damals die ganze Welt. Hier laufe ich in meiner Vorstellung umher, entlang dem botanischen Garten, der Kreuzvaterkirche und der Engelstraße, in der unsere Schule lag. Zu den oberen Hängen des Mtazminda, mit der Zahnradbahn zum Fernsehturm, und zum Vergnügungspark. Durch die vielen verwunschenen Gassen und Holztreppen inmitten von Reben, die die Balkone überwucherten und die kleinen verwinkelten Straßen über den imposanten Leninplatz zum Rathaus. Zwischen lästigen Tratschtanten und den ewig ihre Kammers Autos waschenden Männern. Zwischen flatternder Wäsche und kleinen Brunnen. An diesen Orten fanden all meine Tragödien und Komödien statt. Dort tastete ich mich ins Leben hinein. Dort erlebte ich auch den Zusammenbruch einer Welt, ungläubig, mit weit aufgerissenen Augen und mit Todesangst in den Lungen. Ich sehe unseren viereckigen Hof vor mir, die zwei gegenüberliegenden Häuser, dazwischen ein winziger umzäunter Garten. Dazu rechterhand das kleine zweistöckige Steinhäuschen auf Stelzen, das später dazugebaut wurde und weniger bunt und schön, wie auf Hühnerbeinen, etwas verloren herumstand, als wäre es einem russischen Märchen entsprungen. Anders als bei den tschechoslowakischen oder österreichischen pawlatschen Häusern hatte man bei uns nicht nur über die Straße und das Treppenhaus mit seinen schiefen Holztreppen Zugang zu den Wohnungen, sondern auch vom Hof aus, über die krummen Holzstiegen und Wendeltreppen. Die einzelnen Wohnparteien waren durch einen hölzernen Laubengang miteinander verbunden. Während unser Haus dreistöckig und mit den schnörkeligsten Laubengängen versehen war, war das gegenüberliegende Backsteinhaus erst um die Jahrhundertwende gebaut worden und der solideste Bau im Hof, mit Efeu bewachsen, zweistöckig, davor Metallbalkone mit blumigen Verzierungen. Das eigentliche Leben der drei Hausgemeinschaften fand entweder in den Laubengängen oder im Hof statt. Dort wurde Bgem oder Domino gespielt, dort wurden Rezepte ausgetauscht, dort lagerten die Einmachgläser der Hausfrauen und das abgelegte Spielzeug der Kinder. Dort wurden Kräuter gegen Mehl getauscht, Krankheiten besprochen und Ehekrisen ausgetragen, dort wurden Liebschaften entlarvt. Fast alle der hölzernen Wohnungstüren hatten Glasfenster, sodass allen Hof Bewohnern klar war, dass jegliche Abschirmung von vornherein eine Illusion darstellte. Es gab immer einen an Schlafstörung leidenden Nachbarn, der jedes Kommen und Gehen, unabhängig von der Urzeit, registrierte, dem jeder Streit zu Ohren kam und der jede leidenschaftliche Versöhnung zu kommentieren wusste. Der Hof war ein Organismus, in dem die einzelnen Wohnparteien die Organe bildeten. Alle miteinander verbunden, alle notwendig, um den Körper laufen zu halten. Erst später kam mir der Verdacht, dass die Kommunisten bei der Wohnungsverteilung ihr Augenmerk darauf richteten, in diesem Mikrokosmos viele verschiedene Berufsgruppen anzusiedeln, die sich gegenseitig aushelfen konnten, damit dem Staat möglichst wenig Belästigung und Aufwand entstand. Wurde einer krank, wurde er hofintern versorgt. Brauchte jemand Strümpfe, die nur unter dem Ladentisch verkauft wurden, regelte man das auch untereinander. Wollte sich jemand gute Noten kaufen, um an der Universität studieren zu können, wurde das auch nachbarschaftlich geklärt. Der Hof war ein Staat im Staat, ein auf den ersten Blick vorbildlich sozialistischer. Alle waren gleich, mit denselben Rechten ausgestattet, unabhängig von Ethnie und Geschlecht. Aber natürlich war auch das nur eine Scheinrealität. Im Grunde hatte jeder seinen Platz in diesem Konstrukt und jeder wusste über seine Privilegien Bescheid, und so würde der armenische Schuster Artjom nicht einmal im Traum darauf kommen, seine Fühler nach einer Georgierin aus einer Akademikerfamilie auszustrecken. Genausowenig würde die Fabrikantenfamilie Datischwili die kurdische Familie von rechts gegenüber zu sich einladen. Sogar wir, die Kinder des Hofes der Rebengasse, hatten diese ungeschriebenen Gesetze verinnerlicht, ohne uns selbst dessen bewusst zu sein. Wir ahmten einfach die Erwachsenen nach, wobei die Tatsache, dass wir den kurdischen Tarik beim Verstecken und bei Himmel und Hölle mitspielen ließen, obwohl uns eingetrichtert wurde, dass er schmuddelig war, eine Lernschwäche hatte, seinen Schnodder aß und weggeworfene Kaugummis kaute, einzig und allein darin begründet lag, dass es sich gut anfühlte, jemanden wie ihn in unserer Nähe zu dulden. Denn auch das war eine Eigenheit unseres Hofes, unseres Viertels, ja vielleicht sogar unserer Stadt. Wir wollten immer um jeden Preis gemocht oder geliebt werden. Und wir wussten, dass es sich gut machte, einen Schwächeren zu beschützen in dieser Mehrvölkerstadt, die seit Jahrhunderten mit den anderen koexistierte. Schließlich waren wir doch die besten Gastgeber und die tolerantesten Nachbarn. Wir krümmten niemandem ein Haar und luden alle zu uns ein. Wir bewirtete sie und lachten ihnen ins Gesicht, aber wenn sie wieder gingen, atmeten wir erleichtert auf und rümpften die Nase über ihre Tischmanieren oder ihre derbe Art. Die anderen waren immer ein wenig schlechter, ein wenig gröber, ein wenig dümmer und ein wenig benachteiligter als wir. Unsere Wohnung war meiner Großmutter väterlicherseits, die wir Babuda Eins nannten, nach der Rehabilitierung ihrer Familie überlassen worden. Sie hatte hohe Decken und feuchte Wände, schnörkelige Balkone zur Straßenseite und tropfende Wasserhähne, gegen die jeder Handwerker machtlos war. Hier wuchs mein Vater auf. Dorthin brachte er auch meine Mutter, nachdem sie Moskau den Rücken gekehrt hatten. Dorthin brachte man auch meinen Bruder und fünf Jahre später mich, nachdem wir in einem kahlen Kreissaal irgendwo in Bahnhofsnähe das Licht der Welt erblickt hatten. Der Laubengang im zweiten Stock gehörte nicht nur unserer, sondern auch zur Wohnung von Nadia Alexandrowna, eine alleinstehende, kinderlose Witwe, von der wir uns nicht vorstellen konnten, dass sie jemals jung gewesen war und die den fatalen Fehler begangen hatte, sich während ihrer Studienzeit an der Moskauer Lomonossow Universität in einem georgischen Gitarrenlehrer zu verlieben. Sie verlor ihren Kopf und ihren Verstand und reiste ihm in seine sagenumwobene Heimat nach, die von vielen ihrer dichternden Landsleute besungen und bewundert worden war. Nachdem die stürmische Liebe verklungen und die kopflose Leidenschaft abgeebt waren, quartierte der Gitarrenlehrer seine russische Trophäe bei seiner älteren Schwester ein und verschwand wochenlang in den Armen anderer Damen. Eine Etage tiefer, im ersten Stock, wohnten die Basilias. Was wohl aus ihnen geworden ist? Die voluminöse Nani, nebenberuflich Verkäuferin in einem städtischen Gastronom irgendwo auf der anderen Flussseite, hauptberuflich Schwarzmarkthändlerin und die gewiefteste Frau des ganzen Hofs. Ich erinnere mich an die bunten Kittel, die sie immer trug. Sie schaffte es wahrlich, mit allen und allem Handel zu treiben. Bat man sie um ein bisschen Salz, wollte sie im nächsten Augenblick ein halbes Kilo Reis als Gegenleistung. Sie konnte jeden dazu überreden, irgendetwas zu kaufen. Und vor allem die Frauen des Hofes waren ihr hörig, nahmen ihre Übellaunigkeit, ihre derbe Art geduldig hin. Denn gegen eine angemessene Bezahlung konnte sie alles auftreiben, was das Herz begehrte und was der sowjetische Staat nicht hergab. Von Kinokarten für eine geschlossene Filmvorführung bis hin zu tschechoslowakischer Unterwäsche. Von ihrem Mann Dadiel war meist nur der imposant behaarte Rücken zu sehen, denn auch in seiner Freizeit war er unermüdlich in seinem Kammers Auto zugange, der zum Groll aller Kinder immer im Hof parkte und beim Spielen störte. Ihr einziger Sohn, Besso, hatte weder das Talent seines Vaters noch das seiner Mutter geerbt. Er war ein langsamer Zeitgenosse, träge, bewegungsfaul, der sich immer zum Schritt kratzte und schon als kleiner Junge eine ausgeprägte Neugier allem Sexuellen gegenüber zeigte. Das ganze Erdgeschoss gehörte den Datischwilis mit ihrer geräumigen Wohnung, dieser nahezu unwirklich vorbildhaften Vorzeigefamilie, der man trotz ihrer übertriebenen Gastfreundschaft, ihrer Geselligkeit und den beeindruckenden Kochkünsten der Familienmutter im Hof mit großem Misstrauen gegnet. Die Ablehnung ging vor allem von den Vertretern der Intelligenz des Hofes aus und war dem Beruf geschuldet, den der Familienvater ausübte. Da wird der Fabrikant, der immer nur "der Zeravik" genannt wurde, ein Wort, dessen Bedeutung ich erst viele Jahre später erfassen sollte, der sowjetische Inbegriff für staatliche Verdorbenheit und Korruption. Diese Menschen waren die Kapitalistenschweine der Sowjet-Ära und jedem ehrbaren Menschen ein Dorn im Auge. Hinzu kam, dass diese Familie eine Spur zu perfekt schien. Und so war man unermüdlich darum bemüht, Fehler und Probleme dieser Musterfamilie aufzudecken. Anna, die Tochter, saß zwei Bänke vor mir und war die inoffizielle Prinzessin der Klasse. Eine Schönheit und die Klassenbeste über viele Jahre. Ihr Bruder Otto, der Prinz der Familie, war ein kleiner Sadist. Wie ich ihn hasse, wie mich heute noch dieses Unbehagen befällt, wenn ich an ihn denke. Dieser ewig Flüchtige. Wie es sich wohl mit seiner Schuld leben lässt? Das Häuschen auf Stelzen rechter Hand, auch das war ein unausgesprochenes Gesetz, beherbergte die Absteiger und Außenseiter. Dieses Gesetz wurde erst durch den Einzug von Dina und ihrer Mutter auf den Kopf gestellt. Zuvor wohnten dort nur der armenische Schuster Artjom, der von Frau und Kindern wegen seiner übermäßigen Liebe zum Alkohol verlassen worden war, und die kurdische Familie, die ich als Kind namenlos glaubte, denn keiner nannte sie bei ihrem Vor- oder Familiennamen, sondern immer nur "die Kurden". Mein Blick wandert weiter über das Bild unseres Hofes zur gegenüberliegenden Seite, zum roten Backsteinhaus. Die Wohnungen im roten Haus waren stabiler, schöner, sicherer. Die Bewohner des roten Hauses waren Urgesteine des Hofes und man zollte ihnen besonderen Respekt. Auch lebten dort nicht, wie bei uns, gleich mehrere Familie auf einem Stockwerk, sondern insgesamt bloß zwei, oder besser gesagt eine Familie und Onkel Giwi, ein Name, der bei fast allen und vor allem älteren Hofbewohnerinnen grenzenlose Bewunderung auslöste, meist von einem bedauernden Kopfschütteln begleitet. Onkel Giwi, ich muss lächeln. Ich lasse mir diesen Namen auf der Zunge zergehen, auf der sich in Sekundenschnelle der Geschmack meiner Kindheit ausbreitet. Das Aroma vom sahnigen Eis, vom Buchweizen, von Sauerdornbonbons und Estragonlimonade. Onkel Giwi schien schon immer in diesem Backsteinhaus gelebt zu haben. Seit der Zarenzeit, vor allen Revolutionen und sogar vor den Bolschewiken. Im Sommer wie im Winter standen seine Fenster offen und klassische Musik drang aus seiner Wohnung. Er galt als Held des zweiten Weltkriegs, dekoriert mit etlichen Tapferkeitsmedaillen, bis nach Berlin sei er gekommen, General im Ruhestand und passionierter Pianist. Ein Autodidakt, wurde meist ehrfürchtig hinzugefügt. Eine Wucht von einem Mann. So kategorisierten ihn meine Großmütter und ich unterstellte den beiden, in diesen hochgewachsenen, hageren Mann mit den hängenden Schultern verliebt zu sein. Vor allem Eta, Babuda Eins, die pedantische und strengere meiner beiden Großmütter, bei der ich mir am allerwenigsten vorstellen konnte, dass sie zu irgendwelchen romantischen Gefühlen imstande war, wurde regelrecht schwach, sobald das Gespräch auf Onkel Giwi kam. Und wer weiß, vielleicht hätte sie auch tatsächlich sein Herz erobern und mit ihm ununterbrochen über die Erhabenheit der Musik und der deutschen Sprache sprechen können, wäre da nicht ein Haken gewesen, ein unüberwindbares Hindernis, das es ihr möglich machte, eine ernsthafte Beziehung mit ihm in Erwägung zu ziehen. Onkel Giwi war überzeugter Stalinist und hatte nicht einmal nach der Zerschlagung des Stalinkults dessen Porträt von der Wand abgehängt, unter das er immer eine Vase mit frischen Blumen stellte. Ja, dieser galante, kinderlose Witwer mit Veteranenrente und einem Fabel für Bach und das Schachspiel verehrte den Massenmörder, der Etas Leben ruiniert und ihre Zukunft zerstört hatte. Immer, wenn die Dinge in den Augen von Onkel Giwi in eine gefährlich falsche Richtung liefen, wurde der strehlerne Mann herbeizitiert. Würde er nur sehen, welchen Abgrund das ganze hinunter rollt, stöhnte er, wenn er morgens am offenen Fenster die Zeitung las oder den Nachrichten im Radio lauschte. Seine eiserne Hand und alles wäre wieder im Lot. Die Ausrufe hinderten die meisten betagten Damen des Viertels nicht daran, von seinen feinen Manieren und seinem adretten Kleidungstil zu schwärmen. Auch sprachen sie alle mit offensichtlicher Rührung von seiner grenzenlosen, herzzerschmetternden Liebe zu seiner leider leider zu früh verstorbenen Frau. Und wie würde man uns beschreiben? Die Ripianis, die letzten Bewohner des Hofs? Ja, unser Name stand für alle drei Generationen in der Drei-Zimmer-Wohnung, so viele Jahre, so viele Vergangenheiten und mögliche Zukunftsversionen in sich vereinend. So viele Gegensätze, so viele eingeäscherte Träume. Die Babudas, ja, wie sehr sie mir doch fehlen. Sie markieren den Beginn meiner persönlichen Zeitrechnung. Babuda Eins, Babuda Zwei. Zwei Anfänge ein und derselben Geschichte. Bevor ich auf die Welt kam, nannte mein Bruder sie beide Bebia, schlicht Großmutter. Das aber sorgt stets für Verwirrung. Wenn mein Bruder nach Bebia rief, drehten immer beide die Köpfe nach ihm um und verloren sich in tüchtiger Fürsorge, um einander auch in diesem Punkt in nichts nachzustehen. Als meinem Bruder dieser ewige Wettstreit zu blöd wurde, beschloss er, ihnen beiden den Großmutterstatus abzuerkennen. Zuerst nannte er sie zu ihrem Entsetzen bei ihrem Vornamen. Eta, die Großmutter väterlicherseits und die Koryphäen der germanistischen Fakultät der staatlichen Universität. Und Oligo, die Großmutter mütterlicherseits, die profilierteste Übersetzerin der französischen Literatur. Später wählte er dann die Bezeichnung Babuda, Schwester des Großvaters, was keiner Logik folgte, aber auf eine sehr kindlich intuitive Weise den Konflikt entschärfte. Dazu numerierte er sie auch noch durch. Eta wurde zu Babuda Eins und Oligo zu Babuda Zwei. Denn ihr albernes Konkurrenzgehabe zog sich durch ihrer beider Leben wie ein roter Faden, als gelte es alles, aber auch wirklich alles, dieser Koketten Rivalität unterzuordnen. Ich hätte allzu gern gewusst, wann sie damit begonnen hatten und vor allem, wer von ihnen. Manchmal glaubte ich, dass sie nur auf die Welt gekommen waren, um sich gegenseitig das Leben schwer zu machen. Dass sogar meine Eltern nur aus diesem einen Grund geheiratet hatten, um diese beiden kruden, eigenwilligen Seelenverwandten und Rivalinnen zusammenzubringen, und keineswegs, um meinen Bruder und mich zu zeugen oder in ihrer kurzen Ehe glücklich zu werden. Die Babudas waren sich in genauso vielen Eigenschaften ähnlich, wie sie sich radikal voneinander unterschieden. Es war eine dauernde Reibung, die eine Energie freisetzte, die sie beide am Leben hielt. Mit zunehmenden Jahren schienen sie von dieser Energiequelle immer abhängiger zu werden. Und wenn gerade mal kein Streitthema anstand, wenn sich gerade kein äußerlicher Konflikt anbot, dann wurde eine Meinungsverschiedenheit regelrecht heraufbeschworen, ein Zwist provoziert. Eigentlich bedauere ich es, dass ich die stundenlangen Zankereien und Diskussionen zwischen den beiden um die Vorzüge der Deutschen gegenüber der französischen Sprache nicht in irgendeiner Form dokumentiert habe. Es waren wahre Gladiatorenkämpfe, richtige Lehrstücke in der Disziplin des verbalen Duells. Welch absurde Argumente teilweise angeführt worden! Wer da nicht alles zitiert wurde! Goethe versus Rasin, Voltaire versus Kant, Musil versus Proust. Diese Streitereien, diese nie endenden Argumente, dieses Gegenüberstellen von französischen und deutschen Tugenden war die ewige Begleitmusik meiner Kindheit. Ud wir alle wussten, dass es in diesem Kampf keinen Gewinner geben konnte, dass immer der unbefriedigende Gleichstand bleiben würde. Schon deswegen ist Deutsch die wunderbarste Sprache der Welt, weil zwischen dem Leben und dem Lieben nur ein einziges kleines steht, sagte Babuda Eins an einem sonnigen Morgen am Frühstückstisch. Mein Vater war in seine Zeitung vertieft. Mein Bruder und ich zankten uns um irgendwas. Oligo hatte im Hintergrund das Radio mit voll kloristischem Kitsch laufen, also alles wie immer. Wir alle ahnten bereits die heraufziehende endlose Diskussion. "Mutter, bitte nicht schon wieder und vor allem nicht jetzt!", stöhnte mein Vater. Was denn? Das muss nun mal gesagt werden." Eta sah zufrieden in Oligos Richtung. Diese Tat, als hätte sie nichts gehört, obwohl man merkte, dass sie ihrer Rivalin durchaus Respekt zollte und ihre Eröffnung recht gekonnt fand. "Reichst du mir die Butter, mein Sonnenschein?", wandte sich Oligo an meinen Bruder. Eta erwartete keine Loorbeeren, aber man spürte, dass sie diesen banalen Satz durchaus als einen kleinen Sieg wertete und aß zufrieden weiter. Doch kurz bevor wir uns alle vom Frühstückstisch erhoben, kam der Gegenschlag. "Und wisst ihr, warum französisch die schönste Sprache der Welt ist?" Oligos funkelnde Augen streiften jeden einzelnen von uns. Dass wir in diese ewigen Diskussionen immer hineingezogen wurden, waren wir gewohnt. Wir waren die Arena, wir feuerten sie an. Ohne uns wäre das Spiel sinnlos und langweilig. "Weil nur im Französischen der Orgasmus als der kleine Tod bezeichnet wird." Mein Vater verschluckte sich an seinem Tee. "Hast du jetzt vollkommen den Verstand verloren? Die Kinder sitzen mit am Tisch." Er chauffierte sich Eta auf der Stelle, aber sie schimpfte halbherzig. Man merkte, dass ihre Gegnerin durchaus Anerkennung entgegenbrachte. "Und was ist ein Orgasmus?", fragte mein Bruder und strahlte die beiden älteren Frauen scheinheilig an. #00:38:52-4#
Grazyna Wanat: In dem Buch ist auch das zentrale Thema der Bürgerkrieg. Auslösertag in die lange Finsternis des Landes. In der Geschichte, als der Bürgerkrieg anfängt, fahren die vier Freundinnen mit dem Riesenrad. Solange sie im Himmel gehen fangen waren, als der Strom ausfiel, wussten sie von nichts. Erst beim Aussteigen erfahren sie, was auf die Erde passiert ist. Ausgestiegen aus dem Riesenrad äußert sich ein älteres Paar über das Ereignis, dass die Russen ausnahmsweise nichts mit dem Krieg zu tun haben. Denkst du auch wie dieses ältere Paar? Hatten sie etwas damit zu tun oder nicht? Wie bewertest du den Bürgerkrieg? Was denkst du darüber, inwieweit Russen etwas damit zu tun hatten? #00:39:56-5#

Nino Haratischwili: Die Russen haben seit 100 Jahren gefühlt, zumindest im Kaukasus, immer irgendwas damit zu tun. Aber ja, nicht nur im Kaukasus, leider, wie wir heute sehen. Aber es entbehrt uns trotzdem nicht der eigenen Verantwortung, sich mal auch die eigenen Leichen im Keller anzusehen. Und das tut keiner. Natürlich ist auch dieser Bürgerkrieg sozusagen ein Endergebnis von einer endlosen Kette an Ereignissen. Und das ist untrennbar mit der Geschichte Russlands und mit Russland und der sowjetischen Geschichte und Sowjetunion ect, ect, verbunden. Das heißt, man kann es natürlich zurückverfolgen, aber es bringt da leider auch nichts, zu sagen, es waren eben nur die Russen. Und auch eben der Präsident machte sehr viele Fehler. Die ganze Stimmung damals im Land, also das es in Abchasien explodierte, der Boden wurde sozusagen befruchtet durch diese ganze nationale - wie nennt man das? Es kippte in so eine Stimmung von "Georgien den Georgiern" und plötzlich waren halt irgendwie alle diese Ethnien, die da lebten, die genauso Georgier waren und sind, ja, irgendwie Fremde. Die Stimmung heizte sich an, es wurde immer geladener, und natürlich wurde es dann auch leichter für Russland, bestimmte Sachen dann zu tun oder zu entscheiden. Und nicht nur. Ich meine, diese ganze Mchedrioni-Bande, das ist unser eigener Verschulden. Das war quasi eine Privatarmee, die eigentlich von Kriminellen gegründet wurde und die zum Schutz des Volkes sein sollte und die dann eigentlich die schrecklichsten Grolltaten begingen und komplett am Rauben, am Nehmen, am Vergewaltigen waren. Und das waren auch eben alles Georgier. Und, und, und... Fortgesetzt mit der ganzen Drogen-, also dieser Heroin-Lawine, die ins Land schwappte und eigentlich mehr oder weniger zwei Generationen ausrottete. Ja, und dieser sogenannte Bürgerkrieg, das ist im Grunde eigentlich ein Putsch gewesen. Ja, also, es ist ein Putsch von Kriminellen und des Militärs. Und bis heute, dass das Bürgerkrieg genannt wird, der Tbilisier Bürgerkrieg, ist irgendwie makaber, weil das stimmt so in dem Fall nicht. Und, und, und... Das heißt, wir müssen uns auch sozusagen unseren Dreck angucken. Dass die Russen, ja, was die alles tun und nicht tun, das wissen wir. Aber es entbehrt uns eben auch leider nicht der eigenen Verantwortung, und ich meine, über die eigenen Vergehen redet natürlich keiner. Das ist halt so. Und im postsowjetischen Raum hat es so in der Form, wie es zum Beispiel in Deutschland die Aufarbeitung stattgefunden hat, ob freiwillig oder unfreiwillig, aber es hat stattgefunden, das gab's halt nicht. Und siehe, was passiert! Heute wird in Russland halt die Geschichte komplett umgeschrieben, manipuliert, missbraucht, wie es halt passt, weil eben diese Analyse so nicht gemacht wurde. In Georgien ist es zum Glück nicht so schlimm und es gibt da halt keine Angst und es gibt Meinungsfreiheit. Aber auf so einer globalen Ebene - jetzt nicht nur irgendwelche Künstler, die Bücher schreiben oder Filme machen, das gibt es schon -, aber auf so einer allgemeinen Ebene, sprich, zum Beispiel, ich würde mit den Schulen anfangen und eine komplette Bildungsreform stattfinden lassen, das gab es nicht. Genauso wie die Tatsache, dass in Georgien immer noch in Stalin-Museum existiert, sagt ja auch einiges aus. Es gibt auch irgendwie ein Okkupationsmuseum. Auch das ist ein streitbares Wort. Was heißt denn Okkupation? Also klar, die rote Armee ist einmarschiert, hat Georgien okkupiert. Aber innerhalb des Landes gab es schon damals so viel Clash und so viel, sozusagen, Machtkämpfe. Da waren auch irrsinnig viele Georgier involviert und wollten das. Die haben auch diesen Boden sozusagen vorbereitet. Ich will damit sagen, wir haben auch genug Dreck am Stecken. #00:44:28-1#
Grazyna Wanat: Also in der Geschichte hast du den adretten, gut gebildeten Onkel Giwi, der Stalins Porträt an seiner Wand hängen hat. Eigentlich sollte die Bildung Erkenntnisse in Menschen hervorbringen. Was ist das für ein Phänomen in Georgien oder auch woanders, so wie Onkel Giwi oder die Oma Oligo, die fanatische Anhängerin des ersten Präsidenten? Also, was sind das für Phänomene? Was denkst du? #00:45:02-0#
Nino Haratischwili: Ja, ich habe darauf keine Antwort. Aber es ist ja grundsätzlich immer faszinierend, weil, genau, eigentlich denkt man, ja, und hier Bildung und bestimmte Sachen, bestimmte Erfahrungen sollten, also, müssten per se bestimmte Sachen ausschließen. Tut es aber nicht. Und damit wären wir wieder bei Widersprüchen. Menschen sind einfach widersprüchlich. So einfach und so kompliziert ist das. Und manchmal tun sie Dinge, von denen man niemals glauben würde, dass sie dazu fähig sind oder dass man sich halt eben ganz oft fragt, wie kann das aber sein? Also wie kann sein, dass jemand, der so ist und der Bach verehrt und irgendwie in dieser Musik aufgeht und da irgendwie Tränen der Rührung das Gesicht runter laufen, im gleichen Zuge Stalin verehrt? Aber das gibt's. Und ich habe keine Antwort darauf, aber ich will das eben versuchen zu zeigen. #00:45:55-4#
Grazyna Wanat: Also, das heißt, die Bildung bringt auch nicht unbedingt Erkenntnisse. #00:46:00-9#
Grazyna Wanat: Sie ist hilfreich, auf jeden Fall. Und viel mehr Alternativen haben wir nicht. Naja, Fakt ist, wir sind auf so eine andere Art irgendwie unbelehrbar. Menschen grundsätzlich. Ich meine, siehe Geschichte. Die Tatsache - wir entwickeln uns alle fort. Es gibt Evolution, wir haben so viel gelernt, wir haben so viele Errungenschaften etc, etc. Trotzdem haben wir jetzt im Jahr 2022 Krieg und gab's immer, gibt's immer, und leider, auch, wenn ich das ungern sage, ich glaube, es wird auch weiterhin geben. Und was soll das? Also, wie kann man nach dem zwanzigsten Jahrhundert, wenn man sagt, Menschen sollten was dazulernen, nach all dem, was irgendwie uns die Geschichte gezeigt und gelehrt hat, warum steht man wieder hier? Und nicht nur in Europa gab es ja immer - ich meine, jetzt über über aktuelle Ereignisse und die Ukraine haben wir es halt vergessen. Zum Beispiel, was ist mit Syrien, was ist mit Afghanistan? Also, das geht alles irgendwie weiter. Und eigentlich denkt man, ich frage mich das auch, also, wie kann das sein? Wie kann das sein? Und ich kenne niemanden. Ich meine, wenn man jemanden mit einem gesunden Menschenverstand fragt: Willst du Krieg?, sagt jeder nein. Und trotzdem passiert das. Und das ist ungefähr die gleiche Geschichte wie Bach und Stalin anscheinend. #00:47:24-3#
Grazyna Wanat: Genau, damit wollte ich auch sagen, dass eine sehr große, sehr gebildete russische Bevölkerung auch trotzdem Anhänger Putins ist. #00:47:38-3#
Nino Haratischwili: Das ist nochmal eine andere Sache. Weil das ist ja eine 22-jährige - eigentlich noch davor, mit 70 Jahren Vorerfahrung. Dazwischen vielleicht mal so fünf Jahre, wo es kurz so ein Aufbruch war unter Jelzin, wo eine andere Luft hätte reingehen können. Aber sonst, wenn man sich anguckt in dieser Geschichte dieses Landes, gab's nie eine Form von Demokratie, Freiheit. Die kennen das alles nicht. Und seit 22 Jahren wieder aktive KGB, vorgeschulte Propaganda. Das heißt, natürlich denkt man - ich frag mich das auch -, es gibt natürlich diese intellektuelle Schicht, dann gibt's halt irgendwie Moskau und Petersburg. Aber wenn man sich das Land anguckt, das ist riesig. Und bis auf diese Metropolenregionen, der Rest, da herrschen auch teilweise mittelalterliche Zustände. Weil man denkt ja, klar, wir sind jetzt in einem zwanzigsten Jahrhundert, es gibt Internet, jeder hat irgendwie Zugang zu Informationen. Ist aber nicht so. Und was das eben über Jahre mit einem macht, und wenn man es halt nicht ganz anders kennt, das können wir uns wahrscheinlich auch schwer vorstellen. Ich weiß es nicht. Ich finde es auch erstaunlich. Und man versteht das nicht, aber es ist einfach so. Und ich glaube, was man auch nicht unterschätzen darf, ist natürlich diese permanente Angst. Ich meine, der Zeitraum ist jetzt eh verpasst. Also, jetzt werden die nicht rausgehen auf die Straße, weil jetzt, das würde bedeuten, die sterben, es sei denn, es würden jetzt 44 Millionen rausgehen und nicht irgendwie anderthalb. Aber 22 Jahre: Warum das nicht erfolgt ist, nicht passiert ist, darauf habe ich keine Antwort. Und diese Angst ist, ich glaube, die ist omnipräsent. Und die zersetzt einem echt das Hirn und die macht was mit einem. Für mein vorheriges Buch bin ich nach Tschetschenien gereist. Und da habe ich gesehen, was die russischen Befreier machen und was das heißt, sozusagen von Russland kolonisiert zu werden. Dieses Land existiert quasi nicht mehr. Es gibt es einfach nicht. Alles ist fake. Es ist fake, weil, es ist Fassade. Es gibt kein altes Gebäude mehr. Alles ist zerbombt, alles ist zerschossen. Wie so Kulissen sieht das aus. Und alle leben in dieser Angst. Weil nach außen hin gibt es eine Wahrheit, nämlich Russen sind die Befreier, und intern hassen die Leute die natürlich. Die haben ihr Land ausgelöscht, ihre Identität zerstört. Ihre Kinder, ihre Männer, es gibt niemanden, der nicht von diesen Kriegen betroffen wäre. Und man bedenke, dieser zweite Tschetschenienkrieg, der hier irgendwie auch nicht so wirklich so vernommen wurde, ging zehn Jahre. Zehn! Und dieses Land ist mini, mini, mini. Das ist noch viel kleiner als Georgien. Wie die das geschafft haben, ist mir ein Rätsel. Die leben diese Wahrheit irgendwie nach außen hin die Befreier und intern, also das heißt, eine ganze Generation wächst mit Traumata auf. Und nach außen müssen sie aber irgendwie Putin lobpreisen und müssen tatsächlich, alle, die im Staatsdienst sind, müssen irgendwie so Happy Birtday singen an Putins Geburtstag. Und das ist schrecklich. Also, es ist wirklich erschreckend. Weil ich habe zum Beispiel, ich war im Geschichtsmuseum, und der letzte Krieg im tschetschenischen Geschichtsmuseum, der Erwähnung findet, ist der Zweite Weltkrieg. Das heißt, es wird nicht darüber geredet. Und das habe ich dort - ich meine, ich war auch oft in Russland -, aber in dieser extremen Form habe ich es nicht mal in Russland selbst sozusagen erlebt. Das ist so schlimm! Und darauf wollte ich hinaus, dass es wahrscheinlich schwer ist, wenn man es selber nicht lebt und wir einfach hier in dieser dankbaren Situation sind, frei zu sein und selbst bestimmen zu dürfen über unser Leben, dass ich nicht weiß - ich möchte mir natürlich auch wünschen zu sagen, ich wäre die erste, die auf den roten Platz rausgerannt wäre mit irgendwie Transparenten, aber man weiß es nicht. Ich weiß nicht. Ich möchte es mir nicht anmaßen, zu beurteilen, was diese Angst, die vor allem jahrelang anhält, was das mit Menschen macht. #00:51:59-0#
Grazyna Wanat: Und da wäre vielleicht die Frage auch angebracht, wie schätzt du die Rolle oder Handlung des Westens ein. Auch in der Sache mit der Ukraine oder auch, was früher mit Georgien passiert ist. Was denkst du? #00:52:25-5#
Nino Haratischwili: Fakt ist, es gibt jetzt gerade irgendwie ein großes Aufwachen. Warum jetzt, kann man sich auch denken. Ich glaube, auch das ist menschlich. Das ist nähergerückt, Kiew ist halt nicht so weit weg wie die Krim oder Grosny oder Tbilisi. Das heißt, plötzlich ist man einfach mit einer Realität konfrontiert. Und dann kommt noch hinzu, das war diesmal einfach so augenscheinlich. Da hätte man das nicht mehr irgendwie uminterpretieren können. Der sagt das und rückt auf Kiew mit Panzern. Das heißt, das kann man dann nicht mehr irgendwie als Was-auch-immer-Mission verstehen. Und ich glaube, Fakt ist, es passiert ja irgendwie was. Ich glaube, das hat was damit zu tun, dass Leute einfach Angst bekommen haben. Das es einfach einem auf die Pelle rückt. Und deswegen gibt es halt dieses große Aufwachen. Theoretisch, ja, natürlich. Man hätte das alles auch früher sehen können. Das gibt's ja alles schon einfach die ganze Zeit. Angefangen schon mit Beslan, damals 2003 oder 2004 war das, wo die tschetschenischen Terroristen die Schule gestürmt haben. Und er hat 350 Kinder, eigene Kinder wohlbemerkt, zum Abschuss freigegeben. Und das habe ich damals, ich war Studentin. Ich weiß noch, dass ich so unter Schock stand aufgrund der westlichen Reaktion, weil klar, es war alles so schrecklich, schrecklich. Aber ich habe mir dann überlegt. Was wäre das, wenn das in Deutschland oder in Frankreich passieren würde? Würde doch voll die Revolution auslösen. Wie, ja, tut uns leid, und irgendwie weiter geht's. Und naja, ich glaube auch, das ist halt so. Wir können nicht immer, wir müssen, wir verdrängen auch ganz schön viel. Ich verdränge ja auch, was in Afghanistan passiert. Das heißt, es ist auch irgendwie dann so, dass man in seinem kleinen Kosmos bleibt und gefangen bleibt. Und man kann ja auch nicht immer alles sozusagen mitfühlen, miterleben, miterleiden. Aber jetzt ist halt so ein Punkt angekommen, glaube ich, wo es wie so alle betrifft. Also keine Ahnung. Ich bin da auch kein Experte. Natürlich, ich weiß nicht, was man zusätzlich noch tun kann. Ich persönlich bin einfach - eine Freundin von mir hat das gesagt, und jetzt wiederhole ich das irgendwie ständig. Sie meinte, auch so ein neunziger Kind: "Ja, du könntest doch so Volkshochschulkurse anbieten." Und ich so: "Ja, worin?" "Ja, wir könnten doch einfach irgendwie in Deutschland diese Kurse anbieten, wie man ohne russischen Gas und Strom überlebt." Also grundsätzlich komplett ohne Gas und Strom. Und da meinte sie: "Ja, wir haben es doch geschafft." Und darüber könnte man tatsächlich mal nachdenken. Also jetzt unabhängig von Volkshochschulkurs, ja, ganz ehrlich, also lieber echt ein paar Atomkraftwerke aktivieren als Kinder sterben lassen. Das ist aber halt meine ganz persönliche Meinung. Das sind natürlich auf so einer globalen Ebene Riesenprozesse. Aber ich finde, je weniger diese Wirtschaftsabhängigkeit besteht mit diesem Land, je mehr Druck entsteht, desto besser. Weil, ja, viel mehr Alternativen gibt's glaube ich nicht. #00:55:50-2#
Grazyna Wanat: Es folgten dann Publikumsfragen, die leider aus technischen Gründen nicht immer sehr gut aufgenommen werden konnten. #00:56:02-9#
Publikumsfrage: ... #00:56:08-1#
Nino Haratischwili: Drei Jahre. Für das konkret. Mit Unterbrechung. Also immer wieder mit Pausen machen müssen, ja. #00:56:20-9#
Publikumsfrage: Sie haben gesagt, dass Sie mit Fragen arbeiten. Welche Art von Fragen sind das? #00:56:27-0#
Nino Haratischwili: Auch sehr unterschiedlich, individuell. Zum Beispiel jetzt bei dem Buch davor war es ganz zentral, weil es aus einem realen Ereignis, wo es um diesen Tschetschenienkrieg ging, wo ich ganz konkret mich um ein reales Ereignis konzentriert habe und mir wie so ein Leitmotiv dauernd die Frage gestellt habe: Zwei gleiche Menschen geraten in eine identische, extreme, schreckliche Situation - nehmen wir mal Krieg an. Einer wird zu einem Unmenschen und tut unglaubliche Sachen und der andere bleibt ein Mensch, obwohl ähnlicher Background, ähnliche Erfahrungen und so weiter. Auch eine Frage, auf die es keine klare Antwort gibt und geben kann. Aber das war etwas, was mich einfach immer wieder beschäftigt hat. Und da bin ich immer wieder sozusagen rein. Bei dem konkreten Buch war das, was hat uns alle damals so, was hat uns alle zu diesen Waffen greifen lassen und so viele Grundsätze über Bord werfen lassen? Was hat uns so gewaltvoll gemacht, so verzweifelt? Warum wurden plötzlich Menschen mit totalen Bildungsbürgertumsverhältnissen zu Kriminellen? Wie konnte das passieren? Wie ist plötzlich von heute auf morgen das ganze Land wahnsinnig geworden, gefühlt? Und manchmal sind es aber auch einfach Themen, an denen ich mich arbeite. Gerade schreibe ich ein Stück, da geht es um Liebe. Auch ein Thema, mit dem man sich viel beschäftigen kann. Also, es ist immer sehr unterschiedlich. Und manchmal interessiert mich etwas sehr konkretes und lässt nicht los. Manchmal ist das eher etwas so Grundsätzliches, Generelles. Aber es ähnelt immer im Kern so einer Form von, ja, als würde man sowas abblättern. Also als würde man immer so verschiedene Schichten von etwas abreißen, um zu so einem Kern durchzudringen. Und das heißt aber nicht, dass, wenn ich dann so fertig bin, dass ich irgendwie weise geworden bin und plötzlich irgendwie voll die Erkenntnis habe. Aber trotzdem hat man dann das Gefühl, ich habe mich, so gut ich konnte, dem ausgeliefert und bin da eingetaucht und habe mich der Materie sozusagen genauso ausgeliefert, wie ich mich auch die angeeignet habe. Und das ist letztlich sozusagen, worum es geht oder gehen sollte. #00:58:57-1#
Grazyna Wanat: Eine sehr junge Besucherin fragt: Was sagen Ihre Eltern dazu, dass Sie Bücher schreiben? #00:59:03-8#
Nino Haratischwili: Weiß ich nicht. Meine Mutter sagt: Ja, toll, dass du das jetzt gemacht hast. Aber kannst du bitte jetzt einkaufen gehen? Genau. Oder was weiß ich. Warum hast du das und das nicht aufgeräumt? Meine Mutter ist sehr dezent mit Lobeshymnen und ich finde es aber auch gut. Hält sich zurück. Aber sie sagt dann auch, also wenn sie was schön findet oder so, das merke ich dann auch. Sie muss mir nicht irgendwie einen Vortrag halten, aber ich spüre das, dass sie dann gerührt ist oder in irgendeiner Form, das es sie irgendwie sehr emotional erfüllt. #00:59:48-6#
Grazyna Wanat: Es folgt die Frage, ob sie sich vorstellen könnte, etwas über die Gegenwart zu schreiben, ohne die Aufarbeitung der georgischen Geschichte. #01:00:00-3#
Nino Haratischwili: Das ist eine spannende Frage. Also grundsätzlich schreibe ich nicht immer über Georgien, also ich nehme mir das nicht vor. Ich habe auch Bücher, wo es nicht um Georgien geht, oder eben Stücke und so weiter. Es ist jetzt nicht für mich sozusagen eine Mission, ich arbeite die Geschichte Georgiens auf. Ja, will ich tatsächlich - jetzt nicht irgendwie konkret Gegenwart Georgiens -, aber auf jeden Fall ein bisschen näher an unsere Gegenwart dran? Mein Problem ist immer, wie bereits erwähnt, ich brauche Abstand. Wenn etwas zu nah an mir dran ist, ich habe sozusagen nicht einen Blick, der scharf genug wäre, um Dinge in der Komplexität zu erfassen. Und wenn etwas zu nahe an mir ist - das kennen wir ja auch alle so auch aus dem eigenen Leben -, das ist immer so ein bisschen, was mich, glaube ich, so davon abhält. Aber der zweite Roman, der spielt total in der Gegenwart oder jetzt hier, der eine Strang ist auch so gegenwärtig. Aber es gibt so ein paar Themen, die mich aus der Gegenwart auch sehr beschäftigen oder interessieren. Aber ich muss da irgendwie einen Zugang finden und trotzdem einen gewissen Abstand haben. Also jetzt räumlich oder keine Ahnung, aber ohne diesen Abstand kann ich einfach nicht. #01:01:23-4#
Grazyna Wanat: Die nächste Frage lautet, ob sie sich stark mit dem Land und der Sprache Georgiens verbunden fühlt. #01:01:30-9#
Nino Haratischwili: Ja, und ja. Ich bin sehr oft da, regelmäßig. Ich hab da auch eine Wohnung in Tbilisi. Und ich verbringe dort so oft ich Zeit verbringen kann. Ich werde jetzt im Herbst eine Inszenierung dort machen am Theater. Und demnach ist meine Muttersprache auch sehr, sehr stark da. Und ich rede mit meinen Kindern zum Beispiel ausschließlich georgisch. Und ich bin sehr, sehr viel im Austausch, auch mit Freunden und Familie und so weiter, also sehr präsent. Verfolge auch immer alles. Und meine Bücher werden dort auch gelesen. Also das wird jetzt gerade übersetzt. Die letzten zwei sind sozusagen noch nicht erschienen. Aber "Das achte Leben" wurde da sehr viel gelesen und auch die zwei davor. #01:02:24-1#
Grazyna Wanat: Eine Besucherin, die durch ihre familiären Verbindungen einen starken persönlichen Bezug zu Georgien hat, bedankte sich für das Buch und fragte, ob Nino Haratischwili eine der Figuren besonders ans Herz geschlossen hat. #01:02:47-2#
Nino Haratischwili: Nee, nicht so wirklich, weil ich habe zu allen irgendwie einen persönlichen Bezug. Und ich habe sehr viel Zeit mit gerade diesem Buch und diesen Figuren verbracht. Und grundsätzlich mag ich halt Figuren - Die meisten von fast allen Lesern, ich glaube, es wird immer Kitty favorisiert, weil sie ist einfach so die Gute irgendwie. - Aber, wie gesagt, ich versuche, ich verteidige oft auch die negativeren Figuren, wie eben ihren Bruder, und versuche immer, da nicht so wertend zu sein. Ich glaube, ich mag grundsätzlich Figuren, die weit weg sind von mir und an denen ich mich am meisten so ab arbeite. Und manchmal, es müssen jetzt nicht immer so die Protagonisten oder so sein, weil die beanspruchen mich eh viel. Ich weiß zum Beispiel, dass ich sehr viel Freude hatte, also Freuden in Klammern, weil das war auch schwierig. Ich fand diese Figur sehr schwierig zu greifen und trotzdem war er sehr, sehr wichtig, weil es so ne Hintergrund Figur ist, die aber so wahnsinnig viel bestimmt und entscheidet. Ich hatte Georgi Alania sehr, irgendwie ins Herz geschlossen, obwohl er auch ne sehr, sehr ambivalente Figur ist. Aber ich kann das nicht so. Also ich kann nicht so sagen, okay, die Figur mag ich sehr und die nicht, weil ich mich den allen irgendwie ein bisschen ausliefern muss, glaube ich. #01:04:40-3#
Grazyna Wanat: Die nächste Frage galt der geplanten Verfilmung und der Überlegung: Wie kann ein Buch von 1000 Seiten in eine, sagen wir, 90-minütige Verfilmung reinpassen? #01:05:00-4#
Nino Haratischwili: Das wird kein Film. Es wird eine Serie. Wie ich dazu stehe? Ich finds aufregend, ich find's total spannend. Ich liebe Filme. Klar, das Risiko besteht immer, dass es nicht so wird oder anders wird. Aber ich bin es gewohnt - auch von der anderen Seite, weil ich eben auch im Theater arbeite, das ist natürlich ein anderes Medium. Aber dennoch, ich bin es gewohnt, meine Texte abzugeben und dass andere Leute was daraus machen. Zum Beispiel, das Buch ist ja auch in der Theateradaptation im Thalia-Theater in Hamburg auf die Bühne gekommen, oder eben auch "Das achte Leben". Und ich gehe da nicht mit der Erwartung rein, es muss jetzt genauso sein wie das Buch. Weil es ist mir klar, es ist ein anderes Medium, das kann es das gar nicht gewährleisten, sonst müssten wir 30 Stunden im Theater sitzen oder was weiß ich wie lange im Kino. Und daher versuche ich, offen zu sein. Und das wird jetzt noch eine Weile dauern. Also, es ist jetzt so eine Vorbereitungsphase. Und Film und Serie ja sowieso. Es dauert halt alles immer ewig. Und ich bin sehr neugierig. Also ich möchte halt so ein bisschen reinschnuppern. Aber im Grunde gebe ich das natürlich aus der Hand und lass mich überraschen. Es ist immer mit Risiko verbunden, aber wer nicht riskiert, trinkt keinen Champagner. Und ich denke jetzt mal, das kann auch toll werden, kann auch spannend werden. Ich habe schon mal so eine Stückinszenierung von mir gehabt, wo ich dachte, oh krass, das steckt auch drin! Also, das hatte ich gar nicht gemeint gehabt oder habe es gar nicht so gesehen. Aber es ist ja irgendwie total gut, dass man auch das rausholen kann. Also kann es auch sein. Ich lasse mich überraschen und bin neugierig und freue mich, dass es irgendwie irgendwann mal so sein wird, hoffentlich. #01:07:03-4#
Grazyna Wanat: Die nächste Frage knüpfte an das Thema der Theaterumsetzung an und erzählte über eine Aufführung in Bamberg, in der eine Figur komplett fehlte. #01:07:18-1#
Nino Haratischwili: Ich habe die Aufführung da nicht gesehen, leider. Ich kenne die Hamburger Aufführung, und da gab es Ida. Also wie gesagt, es gibt immer ein Risiko bei solchen Verfilmungen oder Theateraufführungen, dass etwas zu kurz kommt, etwas wegfällt. Also in Hamburg zum Beispiel gab es dann halt die Exilzeit von Kitty nicht mehr. Und das hat was mit Kapazitäten zu tun, also wirklich schlichtweg so, welche Geschichten bekommen mehr Raum? Also wenn es jetzt irgendwie ein 200-Seiten Roman ist, kann man eventuell vielleicht alles einpacken. Aber bei so einer Fülle: Also die Hamburger Aufführung ging fast fünf Stunden und trotzdem sind alle geblieben und das war irgend wie echt toll. Klar, mit Pausen. Und die Arbeit habe ich trotzdem sehr, sehr geliebt. Also natürlich, wie gesagt, fehlten bestimmte Sachen. Und das ist immer eine Entscheidung des Künstlers oder der Künstlerin, die das machen. Ich hab da nicht immer sozusagen Zugang und ich werde auch nicht jetzt bei allen Sachen gefragt. Ich glaube, es gibt halt irgendwie diese Fassung vom Thalia-Theater, die wird dann halt sozusagen wie nachgespielt. Jetzt gerade, glaube vorgestern hatte es in Essen Premiere. Und ich glaube, die paar Figuren fallen tatsächlich der Zeitfrage zum Opfer. Leider, ja. Aber dann war es so. Wenn es ihnen gefällt hat, dann wird es auch so gewesen sein. Weil ich finde, da hat man ja auch irgendwie das Recht, was zu vermissen. Das Risiko ist eben dann groß, dass natürlich bestimmte Sachen nicht mehr aufgehen. So wollte ich es sagen, ja. #01:09:14-0#
Nino Haratischwili: Danke. Vielen dank! #01:09:23-4#
Grazyna Wanat: Vielen Dank fürs Zuhören. Eine Zusammenarbeit von mehreren Partnern hat diese Veranstaltung möglich gemacht. Sie wurde gemeinsam organisiert vom Bildungszentrum, der Stadtbibliothek und der Buchhandlung Jakob. Unterstützt wurde sie vom Kreisverband und der Stadtratsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Verena Osgyan, Mitglied des Landtags und gefördert durch das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus. Danke an das Amt für Internationale Beziehungen der Stadt Nürnberg, für die kurzfristige Unterstützung mit dem Veranstaltungsraum, in dem wir Platz für fast 200 Besucher/innen fanden. Mein Name ist Grazyna Wanat und ich bedanke mich nochmal fürs Zuhören. Und ich habe noch eine Kleinigkeit für Sie, für euch, wie es sich bei jedem echten Superstar gehört. Da kommt auch nach dem Beifall noch eine kleine Zugabe. Und so auch in diesem Fall. Ich habe noch einen kleinen Ausschnitt aus dem Gespräch, den ich aufgrund der kurzfristigen Mikrofonstörung rausgeschnitten habe. Und trotzdem fand ich das so interessant, dass ich hier am Ende das noch platziere. In einer etwas schlechteren Tonqualität. Dafür aber erfahren Sie aus diesem Ausschnitt: Was würde sich Nino Haratischwili eintätowieren lassen, wenn sie ein Tattoo hätte. Von mir aber jetzt "tschüss" und bis zum nächsten Mal! #01:11:02-9#
Grazyna Wanat: Was denkst du, was ist dein Erfolgsrezept? #01:11:05-5#
Nino Haratischwili: Ich weiß nicht. Also, was ich oft als Feedback bekomme, ist, dass es halt irgendwie sehr stark um Emotionen geht und dass Menschen irgendwie berührt werden. Also, dass das irgendwie emotional was mit denen macht. Und ich gestehe und geb´s auch zu, das ist auch meine Absicht. Gerade so in Deutschland - und ich habe Theaterregie studiert und ich liebe Theater und bin da auch zum Teil immer noch zu Hause -, und ich habe sehr, sehr lange mir immer irgendwie anhören müssen, ob es jetzt beim Schreiben oder eben beim Inszenieren ist, dass es immer alles zu emotional sei und ich sollte ein bisschen ironischer werden und ein bisschen mehr mich mit irgendwie Sarkasmus auseinandersetzen und so weiter. Und ich habe das die ersten Jahre immer irgendwie nicht verstanden und habe immer gedacht, okay, ich bin total falsch. Ich bin auch total falsch für dieses Land. Weil ich habe gedacht, naja, das ist doch ein Kompliment. Aber er meint es als Kritik. Das will ich in der Kunst. Ich will auch als Leserin oder Zuschauerin berührt werden. Und ich habe dann irgendwann kapiert, dass es halt natürlich mit der deutschen Geschichte zu tun hat, dass man halt irgendwie vor diesen großen Gefühlen oder vor Pathos in dem Sinne total zurückschreckt. Und Pathos ist halt einfach ein Begriff, zu dem ich total stehe. Und hätte ich ein Tattoo, würde ich mir das hier eintätowieren lassen, weil das total etwas ist, wohinter ich halt stehe. Im ursprünglichen Sinne heißt das "Erleben" oder "Leidenschaft". Es ist ein griechischer Begriff und das das so missbraucht worden ist, dafür kann dieser Begriff nichts. Und ich glaube, ich habe mich sehr lange an dem abgearbeitet, weil ich habe immer gedacht, na ja, aber das sind halt immer irgendwie die Leute, die entweder selber Kunst machen oder die sogenannten Intellektuellen, die sich halt damit schwer tun. Weil im Grunde, ich habe nie im Theater einen Zuschauer gesehen, der gesagt hätte: Bitte berühr mich nicht! oder: Mach nichts mit mir emotional! So geht es, glaube ich, auch mit den Lesern. Also wer würde denn einem sagen: Nee, erzähl mir keine Geschichte und bitte mach nichts emotional mit mir, ich möchte nur intellektuell herausgefordert werden! Und das eine schließt das andere nicht aus. Und das war immer irgendwie so ein Problem. Und ich habe mich damit sehr viel beschäftigt und habe immer ganz viel hinterfragt. Und am Ende hab ich das dann doch gemacht, wohinter ich total stehe oder stehen will, weil ich glaube, es funktioniert nicht. Also anders funktioniert es einfach nicht. Egal, wie sehr ich mir vornehme und egal, wie viele tolle Autoren ich großartig finde, wenn ich sage, ich möchte jetzt aber schreiben, wie er oder sie, das wird scheitern. Ich kann ja nur sowieso das machen, was wirklich mich was angeht. Ich muss erst zulassen, dass es was mit mir macht, emotional. Und erst dann ist das, was ich teile, auch ehrlich und aufrichtig. Und davon bin ich überzeugt. Und ich glaube, das mache ich einfach. Oder ich versuche es. Das glückt nicht immer, aber das ist zumindest meine Art zu schreiben oder meinen Zugang zu finden. #01:14:27-5#
Dieses Projekt/Diese Maßnahme/Initiative leistet einen wichtigen Beitrag, Nürnberg schrittweise inklusiver zu gestalten. Es/Sie ist Teil des Nürnberger Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Den Ersten Aktionsplan hat der Nürnberger Stadtrat im Dezember 2021 einstimmig beschlossen. Um die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit und ohne Behinderung in Nürnberg zu verwirklichen, wurden und werden umfangreiche Maßnahmen entwickelt und umgesetzt. Weitere Informationen finden Sie unter www.inklusion.nuernberg.de.

Ein Gespräch mit der Bestsellerautorin über ihren letzten Roman, über die Macht der Freundschaft, über Politik und über ein Tattoo, was sie gerne hätte.
Nino Haratischwili, geboren 1983 in Tbilissi/Georgien, ist preisgekrönte Theaterautorin, –regisseurin und Romanautorin. Ihr großes Familienepos Das achte Leben (Für Brilka), in 25 Sprachen übersetzt, avancierte zum weltweiten Bestseller, eine große internationale Verfilmung ist in Vorbereitung. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, ihr Roman Die Katze und der General stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2018. Ihr neuer Roman Das mangelnde Licht wurde bereits vor Erscheinen in 15 Länder verkauft. Einen Tag vor der Buchveröffentlichung begann der russische Angriffskrieg in der Ukraine, was dem Roman eine bestürzende Aktualität gab. Kurz nach der Erscheinung musste das Buch bereits nachgedruckt werden.
Im Gespräch erzählt Nino Haratischwili warum sie in ihrem letzten Buch ausgerechnet über die extremen, traumatischen Abschnitte der neusten Geschichte Georgiens schreibt - und was sie zu den schönsten und stärksten Gefühlen zählt. Sie schildert einige Hintergründe ihrer Schreibarbeit – verrät zum Beispiel den Anteil an autobiografischen Geschichten in ihren Romanen, erklärt wie sie ihre Bücher konstruiert und berichtet darüber, was ihre Mutter von ihrem Beruf hält. Sie spricht auch über die aktuellen politischen Zusammenhänge und über den Einfluss Russlands auf Georgien und andere postsowjetischen Staaten.
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Aufgenommen am: Montag, 9. Mai 2022
Veröffentlicht am: Donnerstag,30. Juni 2022
Moderation: Ketevan Borufka / Grażyna Wanat
Im Gespräch: Nino Haratischwili
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Alle weiteren Folgen von KontaktAufnahme – der Podcast des Bildungszentrums Nürnberg finden Sie hier. Wir sind mindestens jeden zweiten Donnerstag mit einer neuen Folge online, manchmal öfters.
Wen sollen wir noch befragen - haben Sie Ideen und Anregungen? Oder möchten Sie Ihre eigenen „Glücksmomente“ (manchmal am Ende des Interviews zu hören) an uns schicken? Schreiben Sie uns an!