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Ilko-Sascha Kowalczuk, kann es Frieden ohne Freiheit geben?

Ansage: KontaktAufnahme. Der Podcast des Bildungszentrums Nürnberg. #00:00:10-9#

Grazyna Wanat: Guten Tag! Sie hören gleich einen Mitschnitt aus einem Publikumsgespräch mit Ilko-Sascha Kowalczuk. Der renommierte Historiker, Publizist und Buchautor gastierte am Bildungszentrum am 27. Februar 2025. Sein neuestes Buch heißt "Freiheitsschock: Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute". Moderiert hat das Gespräch Professor Dr. Moritz Florin, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte Osteuropas an der Universität Erlangen-Nürnberg. #00:00:55-1#

Dr. Moritz Florin: Herzlich willkommen zu der heutigen Veranstaltung. Ich freue mich sehr, dass der Autor der Stunde hier bei uns heute zu Gast ist mit seinem neuen Buch "Freiheitsschock", das jetzt schon an vielen Orten in dieser Woche vorgestellt wurde. Und es ist ein bisschen ein Zufall, dass jetzt Sie ausgerechnet in dieser Woche nach der Bundestagswahl, auch diese Vortragsreihe haben. Ich denke, es spielt auch eine gewisse Rolle, dass wir uns hier begegnen, kurz nach dem dritten Jahrestags des russischen Großeinmarschs in der Ukraine. Das ist auch ein Thema, das in dem Buch eine Rolle spielt. Aber natürlich geht es auch um aktuelle Fragen im Kontext der Bundestagswahl in Deutschland und der anderen globalen Schocks, die uns, die uns begegnen und die vielleicht gerade in Ostdeutschland besonders sichtbar werden. Und darüber werden wir heute diskutieren. Was uns vielleicht der Blick auf Ostdeutschland sagt, was uns dieser Blick auch für unsere Verfasstheit hier in Westdeutschland sagt, was daraus eigentlich folgt aus dem, was wir gerade erleben, den Bewegungen, die entstehen, der Rechtspopulismus, der Rechtsextremismus, der eine Rolle spielt, aber auch Bewegungen wie das Bündnis Sahra Wagenknecht oder auch die Linkspartei, die alle in diesem Buch vorkommen und eine Rolle spielen, weil sie alle verknüpft sind mit der Spezifik und der Geschichte Ostdeutschlands. Und worin die besteht, darüber werden wir sprechen. Ich möchte jetzt zunächst einmal Herrn Kowalczuk kurz vorstellen. Herr Kowalczuk ist einerseits natürlich ein Zeitzeuge, der viele Dinge persönlich miterlebt hat, auch mitgestaltet hat, ein streitbarer Geist, der auch an vielen oder eigentlich fast allen Diskussionen beteiligt war nach 1990, die irgendwie die DDR betreffen und der sich auch selbst als unbequem bezeichnet, der also nicht immer mit dem Mainstream mitgeht, der auch aneckt, der gerade auch in Ostdeutschland aneckt und deswegen auch immer besonders präsent ist. Das ist das eine. Das andere ist er ist ein Historiker, der eine ganze Vielzahl von Publikationen vorgelegt hat und eine, eine kleine Auswahl davon sehen wir hier. Ich denke, man kann diese Bücher hier auch erwerben. Ein bisschen schade ist, dass vielleicht das Opus Magnum hier nicht ausliegt. Und das ist die Biografie von Walter Ulbricht, die auch kürzlich erschienen ist. Ein, ja, ich glaube, man kann in dem Fall wirklich sagen monumentales Werk in zwei Bänden, jeweils knapp 1000 Seiten. Ist das richtig? Ein bisschen mehr sogar. Ich habe gestern auf dem Tablet reingelesen und bin auf jeden Fall sehr beeindruckt von dieser Leistung. Und das ist auch erst kürzlich erschienen. 2013 und 2014, meine ich, sind die beiden Bände, äh 2023 und 2024. Wir sind jetzt schon zehn Jahre weiter. Aber es ist auf jeden Fall natürlich auch eines der Standardwerke zur DDR Geschichte geworden. Und auf jeden Fall etwas, was auch schon in der Geschichtswissenschaft sehr positiv besprochen wurde und das einen wichtigen Beitrag auch zur Aufarbeitung der Geschichte, der, nicht nur der Biografie von Walter Ulbricht leistet, sondern auch der Geschichte der DDR. Und ich denke, Herr Kowalczuk ist deswegen auch einfach einer der Experten für die Geschichte der DDR, einfach weil er aus so vielen verschiedenen Perspektiven diese Geschichte begleitet hat und wirklich auch aus den Quellen gearbeitet hat. Heute werden wir über das neueste Buch sprechen, inzwischen auch ein Spiegel Bestseller "Freiheitsschock: Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute". Und ich möchte mit der Frage beginnen, wie Sie zu diesem Buch gekommen sind, wo Sie ja auch schon viele andere Bücher veröffentlicht haben, vor allem vor einigen Jahren auch schon das Buch "Die Übernahme: Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde". Da geht es ja auch schon um die ganz aktuellen Fragen. Und hier wäre einfach noch mal die Frage Wie sind Sie jetzt zu diesem Buch gekommen und was war der Anlass und was wollen Sie uns vielleicht damit zeigen? #00:05:27-0#

Ilko-Sascha Kowalczuk: Was will der Künstler sagen? #00:05:28-6#

Dr. Moritz Florin: Ja. #00:05:29-0#

Ilko-Sascha Kowalczuk: Genau. Also erstmal Hallo hier in Nürnberg. Ich darf das sagen, ich bin wahnsinnig gern in Nürnberg. Ich lebe seit 2010 in Franken, also hab da einen Zweitwohnsitz ganz in der Nähe hier, in Bayreuth und bin oft in Nürnberg und habe mich sehr gefreut über die Einladung, weil man oder weil ich besonders gern dorthin fahre, wo ich auch sowieso gern bin. Und dann spazierten wir hier so her zu dem Veranstaltungsort und dann stand ich hier vor dem Hauptportal am Eingang und dachte, ja, na ja, hat doch gut geklappt mit der deutschen Einheit. Erst begrüßte mich Heidi Reichinneck und dahinter Sahra Wagenknecht, da unten. Und da dachte ich, ja, sind wir ja schon mittendrin im Thema. Warum habe ich dieses Buch geschrieben? Na ja, so, ist mein Job, Bücher zu schreiben, kann auch nichts anderes. Und ich habe, Sie haben das erwähnt, in den letzten Jahren sehr privilegiert, sehr intensiv an der Walter Ulbricht Biografie arbeiten können. Die habe ich auch tatsächlich hier in Bayreuth geschrieben, während der Coronazeit, in großer Isolation, weil ich eine schwere Autoimmunerkrankung habe, eine chronische Erkrankung seit vielen Jahren und ich musste mich gewissermaßen abschotten, weil ich große Angst hatte, mich zu infizieren und das würde meine Erkrankung nur noch dramatisieren. Und, naja, und wenn man dann so in der Isolation vor sich hin werkelt und irgendwann fertig wird das sind nicht nur immer freudvolle und lustvolle Tage. Nun, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, ich bin Historiker geworden, weil ich schon gerne allein bin und gerne in muffigen, dunklen Räumen mich aufhalte, aber das war mir dann doch irgendwie fast eine Nummer zu viel, was da mir über die Coronazeit sozusagen über mich hereinbrach. Und mir machte große Sorgen schon seit vielen Jahren die politische Entwicklung Deutschlands und der westlichen Welt, wo das eigentlich alles hingehen soll. Und dadurch, dass ich mich praktisch seit 1990 in verschiedenen Kontexten, in politischen Kontexten, in wissenschaftlichen Kontexten, in Aufarbeitungskontexten, auch in Kontexten, das Ich in mehreren Kommissionen des Bundestages oder der Bundesregierung war in den letzten 30 Jahren, die sich mit all diesen Fragen der deutschen Wiedervereinigung des Transformationsprozesses beschäftigt hatte, fühlte ich mich sozusagen auch so ein bisschen dazu berufen, da mal einen Blick darauf zu werfen mit der Fragestellung: Was ist eigentlich interessant an Ostdeutschland, was über Ostdeutschland hinausreicht? Denn das ist eigentlich die zentrale These dieses Buches. Eine These, die auch da in diesem Buch die Übernahme vor fünf Jahren schon stark gemacht worden ist. Und da wollte die eigentlich noch keiner so richtig hören, dass ich gesagt habe, also, das, was ich in Ostdeutschland abspielt, spielt sich dort schneller, radikaler und früher ab. Aber, und das ist die schlechte Nachricht, große Teile des Westens und damit meine ich eben nicht nur West, Süd und Norddeutschland, sondern Westeuropas holen diese Entwicklung dann auch relativ schnell nach, das kann man an vielen Indikatoren sehen. Und da mein Lebensthema Freiheit ist, da mein Lebensthema Freiheit ist und Demokratie, wollte ich ein sehr engagiertes Buch schreiben, mit dem ich in diesen öffentlichen Diskurs eingreife und sage, liebe Leute, es ist wirklich nicht fünf Minuten vor zwölf, sondern wir sind auf zwölf, stehen wir bereits. Demokratie und Freiheit ist extrem in Gefahr. Und wenn wir uns, die wir diese Demokratie und diese Freiheit bewahren wollen, stärken wollen, schützen wollen, wenn wir das nicht aufgeben und nicht verlieren wollen, dann müssen wir jetzt etwas tun. Wir müssen alle uns engagieren. Wir müssen begreifen, dass Freiheit bedeutet, eben nicht zuzuschauen, dass der Staat irgendetwas macht, sondern Freiheit bedeutet, sich einzumischen in seine eigenen Angelegenheiten. Und da kommt eben Ostdeutschland für mich ins Spiel, weil dort ich bestimmte Entwicklungen beobachtet habe, erlebt habe in den letzten Jahrzehnten, die eben eine sehr ungute Entwicklung nehmen. Und der Westen, Westdeutschland, Süddeutschland, Norddeutschland und das haben wir eben auch jetzt leider bei den letzten Bundestagswahlen gesehen, sich doch sehr stark diesen Entwicklungen, ich will schon fast sagen angleicht, anpasstt. Und das sind im Übrigen nicht nur Wahlergebnisse, die man dort sich anschauen könnte, sondern man könnte sich auch andere Indikatoren anschauen. Zum Beispiel anfang der 90er Jahre gab es eine große Differenz in der, bei Befragungen in Ost und West, welchen Stellenwert hat Freiheit oder welchen Stellenwert hat Gleichheit oder Gerechtigkeit? Und da gab es eine große Differenz zwischen Ost und West, und auch diese Differenzen sind mittlerweile nivelliert. Und vor diesem Hintergrund und eben auch vor dem Hintergrund, dass ich jahrelang so eine harte, wirklich wissenschaftliche Kärrnerarbeit gemacht habe und in den Quellen versunken war, dachte ich, okay, das ist jetzt der richtige Zeitpunkt, der politische Zeitpunkt aber auch für mich, um mal richtig wieder loszuledern, um eine politische Intervention sozusagen in die, auf den Tisch zu legen und vielleicht bewirkt das ja etwas, dass der eine oder die andere sagt, ja, der Typ liegt nicht so ganz falsch, wir müssen hier sozusagen alle lauter werden, um Demokratie und Freiheit zu retten. #00:11:06-7#

Dr. Moritz Florin: Ja, so habe ich das Buch auch gelesen, dass es auch ein Buch ist, dass ich eben nicht nur, was heißt nicht nur, aber es richtet sich eben nicht nur an die Menschen in Ostdeutschland, sondern eben auch an uns alle. Und ich glaube, das ist einer der zentralen Punkte. Trotzdem möchte ich noch mal ein bisschen nachhaken, ein Punkt, der hier auf dem Cover draufsteht. Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung schreibt: "Das Buch Freiheitsschock ist ein Anti-Oschmann, die Gegenrechnung". Und da können wir vielleicht, muss ich vielleicht noch kurz erklären, für die, die das nicht wissen es gibt ein Buch von Dirk Oschmann, das richtet sich natürlich auch an uns hier in Westdeutschland, wenn man das so sagen kann, dieses wir auch noch mal so konstruieren kann. Aber das ist etwas, was eben Oschmann sehr stark macht. Andererseits habe ich das Buch jetzt gar nicht so stark als Anti-Oschmann gelesen, weil es natürlich auch viele Punkte gibt, denen sie so indirekt auch zustimmen. Zum Beispiel, dass es eben auch einen Transformationsschock in Ostdeutschland gab und das es natürlich auch diese Westdeutsch, diesen westdeutschen Blick auf Ostdeutschland gab dieses Othering das Wort taucht hier auch auf. Und dass das natürlich eine Rolle dafür gespielt hat, dass sich der Osten eben doch anders entwickelt hat, vielleicht würden Sie jetzt sagen schneller in eine falsche Richtung entwickelt hat als Westdeutschland. Aber vielleicht können Sie da auch noch mal drauf eingehen auf diese Spezifik und vielleicht auch auf die Frage, inwieweit Sie jetzt tatsächlich ein Anti-Oschmann schreiben wollten. Der kommt tatsächlich in dem Buch vor und wird auch immer wieder erwähnt. Ja, aber nicht in allen Passagen, wo er vorkommt, ist es vollkommen kritisch, sondern es geht eben auch darum, sich damit auseinanderzusetzen mit dieser Frage nach der Dynamik zwischen Ost und West. #00:12:56-0#

Ilko-Sascha Kowalczuk: Also offenbar habe ich irgendwas falsch gemacht. Also wenn das kein Anti-Oschmann ist, dann weiß ich auch nicht. Die Wahrheit ist, ich habe mich sehr geärgert, als der Verlag, ohne mit mir darüber zu reden, in einer der ersten Auflagen oder so jedenfalls dieses Zitat von Gustav Seibt aus der Süddeutschen Zeitung abgedruckt hat. Ich habe mich geärgert, weil selbst wenn man der Anti-Oschmann ist, dann ist man irgendwie trotzdem Werbeträger für Oschmann. Und das will ich nicht. Mittlerweile, auf den aktuelleren Auflagen steht etwas drauf, was mir viel mehr gefällt, nämlich ein Zitat aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aus der Rezension zu diesem Buch: "Kowalczuk ist der Punk unter den deutschen Historikern". Gefällt mir natürlich viel besser. Auch wenn das wahrscheinlich auch übertrieben ist, aber es macht ja nichts. Jedenfalls dieses Buch richtet, es hatte eine Motivation, dass ich es geschrieben habe, weil die Debatten, die 2023, 2024 im Kontext, als Oschmanns Buch erschienen ist, mich sehr geärgert haben. Es war ja nicht nur Oschmann, es gab auch andere Bücher, die zweierlei Dinge gemacht haben, nämlich die Ostdeutschen in eine Opferrolle gedrängt haben, in der sich viele Ostdeutsche auch wahnsinnig wohlfühlen. Ich spreche ja davon, dass es in Ostdeutschland eine ausgeprägte Ostdeutschetümelei gibt, dass viele Ostdeutsche glauben, dass ihr Schicksal, ihr das, was ihnen alles so Fürchterliches zugestoßen ist, irgendwie so einmalig in der Weltgeschichte sei und irgendwie nur ihnen bestimmte Dinge passiert sind und ich entgegne daraufhin: "Ja, liebe Leute, macht mal das Fenster auf, steckt meinen Kopf aus eurer stickigen Bude und dann werdet ihr feststellen Ihr lebt in einem der wohlhabendsten, freiesten und sozialen Regionen Europas und der Welt und kontextualisiert das mal alles, was euch da alles so fürchterlich zugestoßen ist.". Natürlich gab es im Zuge der Transformation in den 90er Jahren auch viele neue soziale Ungerechtigkeiten, das ist gar keine Frage. Es gab eine Massenarbeitslosigkeit. Wie so sehr die sozialen Folgen, die waren dramatisch für viele, weil es ist natürlich schon ein Unterschied, ob man in Nürnberg in den 70er und 80er Jahren sozialisiert wird und irgendwie in diesen Sozialisationsgepäck eben auch darin ist Arbeitslosigkeit ist möglich, Wohnungswechsel, Wohnungsverlust ist möglich, Mobilität ist nötig und viele andere Dinge. Oder Sie werden in Neubrandenburg in der gleichen Zeit groß, wo all das nicht in Ihrem Sozialisationsgepäck drin ist. Das ist überhaupt nicht vorgesehen. Und das macht natürlich etwas sozusagen auch kulturell mit Ihnen, wenn Sie auf einmal über Nacht in ein ganz anderes Wirtschafts-, Sozial- und Rechtssystem geworfen werden. Und ich sage ganz bewusst geworfen, weil entgegen einer viel, also einer lebendigen Legende die meisten Menschen im Osten eben gar nichts dafür konnten, was passierte zunächst, weil die Revolution, wie jede Revolution in der Weltgeschichte eben keine Angelegenheit von Massen war, sondern Angelegenheiten von Minderheiten. Die einen haben sich dagegen gewehrt und die anderen habens betrieben und die große Masse, und das ist in all solchen Prozessen der Geschichte so, stand dazwischen, wartete ab und schaut, wer sozusagen nun gewinnen wird und auf diese Seite wird man sich jubelnd schlagen und wird behaupten, man hat da schon immer gestanden. Das ist sozusagen völlig banal, nur dass dann nach 1990 eine Umdeutungsprozess in der Öffentlichkeit begann, der den Ostdeutschen pauschal bescheinigt, dass sie alle ganz freiheitsliebend sind, dass sie alle Revolutionäre sind und dass sie das alles ganz genau wollten, so wie es kam. Dann baut er sich aber so eine andere Stimmung in den 1990er Jahren auf, und diese andere Stimmung hing maßgeblich mit einem Tag zusammen. Und zwar nicht mit dem 9. Oktober, dem Tag der Revolution in Leipzig 1989, nicht mit dem 9. November, dem Tag, an dem die Mauer durchbrochen wurde von Polen aus, von Ungarn aus und natürlich eben auch von der Tschechoslowakei, der freien Wahlen in der DDR, erstmalig freie demokratische Wahlen in der DDR. Aber der Tag war schon wichtig, weil 80 % in Ostdeutschland den schnellsten Weg zur deutschen Einheit wählten. Es konnte gar nicht schnell genug gehen. Und ich sage das auch vor dem Hintergrund, dass ich damals etwas anderes wählte. Ich wollte nicht diesen schnellen Weg zur deutschen Einheit. Ich wollte einfach eine deutsche Einheit auf Augenhöhe und die funktioniert natürlich nur nach einem Selbstdemokratisierungsprozess und nicht gewissermaßen in dieser Situation, in der sich die DDR damals befand. Da musste man nicht besonders schlau sein, da musste man nicht besonders klug oder historisch bewandert sein, ich war ganz jung, ich war 23 Jahre alt, und trotzdem war das so offenkundig und mit den Fingern und mit den Händen zu greifen. Aber die meisten Menschen wollten sozusagen alles radikal sofort anders. Und das war dann sozusagen eine auch sehr schnelle Entwicklung. Noch im Februar 1990 ging man davon aus, dass die deutsche Einheit vielleicht 1995 kommt und dann kam sie bekanntlich im Oktober 1990 schon. Also es ist eine wahnsinnige, schnelle Entwicklung und der eigentliche Tag, an dem sich wirklich alles änderte, war der 1. Juli 1990, der Tag der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. An diesem Tag konnte niemand mehr ignorieren, dass wirklich jetzt etwas ganz dramatisch anderes wird. Und davon waren alle Menschen im Osten betroffen. Und das erste, was die Menschen hautnah erlebten, und zwar oft noch bevor die westdeutschen Aufbauhelfer kamen und die westdeutschen Eliten, die die Institutionen leiteten, die die D-Mark, die Stabilität der D-Mark garantieren sollten, und viele andere solche Dinge, dass durch diese Währungsunion die Arbeitsgesellschaft DDR ein Begriff, den es auch für die Bundesrepublik gab, ein völlig, eine völlig neue Konturen annahm. Die Arbeitsgesellschaft DDR war dadurch charakterisiert, dass es, das sich ganz viel um den Arbeitsplatz herum gruppierte. Etwas, was man in westlichen Gesellschaften so nicht kannte. Kultureinrichtungen, Sporteinrichtungen, soziale Betreuung, Gesundheitswesen, Kinderbetreuung, Rentnerbetreuung und und und. Und zwar nicht nur bei großen Kombinaten, sondern auch bei vielen staatlichen Einrichtungen, bei den LPGs usw. Und das ist eine andere Kultur des Zusammenlebens gewesen, wie man das auch immer einschätzen mag. Ich selber habe, sag das so ganz offen, ich habe das gehasst. Ich habe diesen Kollektivismus gehasst und habe versucht, mich so weit wie möglich es ging daraus zu ziehen. Ich war Pförtner, Sie können sich vielleicht vorstellen, dass das nicht mein Traumjob war als junger Typ, aber ich war Pförtner und damit stand ich so ein bisschen am Rand und man konnte sich aus vielen rausziehen und eben auch dieser Kollektivismus war für mich so ein Grund, mich da rauszuziehen. Aber die meisten hatten natürlich nicht diese Möglichkeit, nicht dieses Privileg, waren nicht mehr so jung wie ich, hatten eine ganz andere Verantwortung und waren da so praktisch so drin in diesem System. Und das war das erste, was nach der Währungsunion, damit konnte man keine Gewinne produzieren, also wurden die abgestoßen und das hinterließ eine große soziale und kulturelle Leere, die die meisten Menschen hätten überhaupt nicht formulieren können, aber die eine große Unzufriedenheit sofort produzierte, weil eben viel mehr anders wurde, als die meisten Menschen erwartet hatten. Also ich sage das mal so ein bisschen zugespitzt und Zuspitzungen stimmt natürlich nicht, aber es ist auch immer ein bisschen Körnchen Wahrheit dran. Die meisten Menschen haben gehofft, dass man jetzt im Westen lebt, dass man die D-Mark hat und dass sich ansonsten relativ wenig ändern wird. Und, und da fangen wir bereits, und damit fangen die Probleme an, die wir auch jetzt immer noch nicht bewältigt bekommen. Ganz im Gegenteil, in großen Teilen der westlichen Welt können wir Ähnliches konstatieren. Viele Menschen gingen davon aus, dass diese neue Gesellschaft im Prinzip so funktioniert wie die alte, nämlich der Staat wird das schon irgendwie machen und man hat sich hier selber irgendwie gar nicht einzubringen. Maximal meckert man so ein bisschen hinter vorgehaltener Hand und ansonsten, die müssen das schon machen, die da oben. Und das ist ja etwas, was man sozusagen sehr stark bis heute hört, auch die da oben, diese Eliten, dieser Elitenhass, also ich rede auch wirklich von Hass, den es im Osten weitverbreitet gibt, der viel stärker ist, als das oftmals medial gespiegelt wird. Und auch dieser, und das entwickelte sich dann alles, das ist sozusagen, das hatte alles historische Ursachen und das versuche ich in diesen Büchern zu erklären, was da historische Ursachen dran sind, aber eben, wo das dann auch im Transformationsprozess herkam. Zum Beispiel, dass eben auch die westdeutschen Politiker wie Kohl oder wie Biedenkopf, die kamen halt in den Osten, machten große Versprechungen und sagen "Lasst uns mal machen". Die kamen praktisch mit einem ähnlichen paternalistischen Ansatz und das meine ich gar nicht so sehr kritisch. Also in dem Sinne kritisch, dass ich sage, die hätten das irgendwie alles anders machen können, die machten das natürlich, weil sie glaubten, das ist so der beste Weg, wie man das am schnellsten irgendwie hinbekäme. Und niemand hat wirklich realisieren können, dass man praktisch ein Großteil der Ostdeutschen auch dort beließ, wo sie sowieso standen, nämlich in der totalen Passivität. Und das ist ein großes Problem, ich mache jetzt mal einen großen Zeitsprung. Wenn wir uns jetzt die Extremisten anschauen, die schimpfen auch alle auf die da oben. Das hat man hier in Nürnberg genauso wie sonstwo. Und im Osten ist das aber deshalb noch dramatischer, weil die da oben und Eliten immer automatisch heißt das sind Westler, das ist sozusagen eins zu eins so, das Gesetz. Und da ist natürlich auch historisch viel dran, also nicht nur historisch, auch aktuell, weil es eben tatsächlich ein großes Ungleichgewicht gibt, das kann man auch alles erklären. Es gibt ja diese Ungleichheiten, es gibt diese Ungerechtigkeiten eben nicht nur sozialer Art, sondern auch politischer Art und was wir heute eben beobachten, ist eben nach wie vor und das ist eben im Osten nach wie vor weitaus radikaler ausgeprägt, aber auch da holt der Westen auf, dass man gewissermaßen sich aus gesellschaftlicher Arbeit zurückzieht, dass man dem Staat gewissermaßen für alles Mögliche Verantwortung und Verantwortung zuschiebt, dass man sich nach staatsautoritären Verhältnissen sehnt. Und deswegen ist es eben kein Zufall, dass ein Großteil der Ostdeutschen und das ist ein Großteil, und zwar mehr als 50 %, denn das ist eben immer noch der Unterschied zwischen Ost und West. Im Osten gibt es eben nicht nur die faschistische AfD und ich sage hier nicht leichtfertig oder zufällig faschistische AfD. Es gibt nicht nur die AfD, sondern es gibt eben dort auch das BSW, die auch jetzt bei den letzten Wahlen über 10 % im Osten bekommen hat. Und dann gibt es die Linkspartei und wenn wir das alles zusammenzählen, nur BSW und AfD, dann sind wir bei über 50 % im Osten, die aus den westlichen Bündnis raus wollen, die aus der NATO raus wollen, die Kreml nah sind und die staatsautoritäre Verhältnisse anstreben. Und das geht sogar noch weiter über diese Milieus hinaus. Und wenn man jetzt in große Teile Westeuropas schaut und ich fang nicht mal mit der USA an, dann sieht man überall gibt es ganz ähnliche Tendenzen. In Portugal sitzen 20 % Rechtsextremisten im Parlament, in Finnland sitzen Faschisten in der Regierung und in den ganzen Regionen dazwischen sieht das fast überall ganz ähnlich aus. #00:24:41-1#

Dr. Moritz Florin: Es gibt ja auch die These, dass Westdeutschland in dem Kontext eigentlich eine Ausnahme ist, also im gesamteuropäischen Kontext jetzt in den letzten Jahren, dass eigentlich Westdeutschland die Ausnahme war, weil hier Parteien wie die AfD so lange eben keine größeren Wahlerfolge erzielt haben und dass sich das jetzt geändert hat mit dieser Bundestagswahl, wo wir Ergebnisse haben, die vor ein paar Jahren noch in Ostdeutschland es gab, wo man eben auch sehr stark auf Ostdeutschland gezeigt hat und gesagt hat, dass es ein spezifisch ostdeutsches Problem. Das fand ich jetzt aber in den Ausführungen noch mal ganz interessant, weil es natürlich auch tatsächlich einerseits spezifisch ostdeutsche Fragen gibt, Transformationsprozesse, andererseits aber eben auch einen ganz globalen Transformationsprozess, in dem wir drinstecken. Aber ich wollte jetzt ein bisschen... #00:25:35-9#

Ilko-Sascha Kowalczuk: Darf ich nochmal was dazu sagen? #00:25:36-9#

Dr. Moritz Florin: Ja. #00:25:37-6#

Ilko-Sascha Kowalczuk: Diese These ist in der Tat in der öffentlichen, in der öffentlichen Debatte und in der Publizistik sehr verbreitet gewesen, AfD ist ein ostdeutsches Problem. Nicht nur ich, sondern auch viele andere haben da immer heftig widersprochen, weil das einfach nicht stimmt. Und zwar nicht nur, weil das Personal sowieso aus dem Westen kommt, sondern es stimmt eben auch nicht, wenn man genau hinschaut. Schauen Sie sich mal die Wahlergebnisse in Baden-Württemberg an, was sich dort abspielte, auch vor dieser Bundestagswahl bereits. Nicht so dramatisch wie im Osten, aber ungefähr immer halb so stark. Schauen Sie mal hier in Bayern. Ich meine, natürlich, wenn man so einen Aiwanger da hat, dann braucht man auch keine AfD. Ja, das ist doch, das muss man einfach mal so sagen. Oder, oder, oder in Hessen. Also das uas war ja nicht so, das hatte natürlich immer sehr viel damit zu tun. Und ich, ich sage auch noch was Nettes, aber das sage ich jetzt auch, dass natürlich viele Westler sich auch so ein bisschen gewissermaßen in so einer Selbstzufriedenheit gesuhlt haben und mit dem Finger darauf auf die anderen gezeigt haben. Und ich meine, wir sehen das jetzt im gesamtgesellschaftlichen Rahmen in ganz Europa, wir sehen es in den USA. Wir hätten das glaube ich alle in dieser Dramatik vor 30 Jahren nicht für möglich gehalten. Fast die ganze Gesellschaft zeigt mittlerweile wieder auf einer Personengruppe, die an allem schuld ist. Schauen Sie sich diese rassistischen Diskurse an, die wir in den letzten Wochen und Monaten im Wahlkampf erleben mussten. Schauen Sie sich an, wie diese Kanzler Duelle liefen, wo die sich alle gegenseitig eine halbe Stunde lang versuchten, daran zu überbieten, wer hier der größte Sheriff im Land ist und am schnellsten und radikalsten Menschen aus diesem Land schmeißen kann, weil die an allem schuld sind. Sahra Wagenknecht wurde gar nicht, der wurde es gar nicht zu langweilig, immer wieder zu behaupten, die Ausländer seien schuld daran, dass wir eine Wohnungsnot in Deutschland hätten. Das sind alles grundrassistische Probleme, die alle von der gleichen Struktur getragen sind. Es gibt eine Gruppe, die an allem schuld ist, auf die kann ich alles projizieren und wenn ich die irgendwie eliminiert habe oder klein gemacht habe oder dezimiert habe, dann passiert alles anders. Aber das Problem an diesem Aufstieg des Extremismus ist, wenn ich das noch sagen darf, es gibt überall in der westlichen Welt ähnliche Gründe für diesen Aufstieg. Globale Gründe, Gründe, die in der digitalen Revolution liegen, die in der Auswirkung von dieser Globalisierung liegen, der Veränderung der Arbeitswelt, die extrem Verlustängste, die man in der westlichen Welt beobachten kann, die ja teilweise auch real sind. Und dann gibt es eben überall regionalspezifische Gründe und da wird eben Ostdeutschland interessant. Nicht wegen dieser regionalen spezifischen Gründe, die ich alle da versuche, so ein bisschen zu skizzieren und zu zeigen, sondern weil in Ostdeutschland anders als, sagen wir mal in Nürnberg die Masse der Menschen innerhalb kürzester Zeit zwei große Transformationsprozesse erleben muss, die zwangsläufig zu Überforderung führen. Weil der Mensch ist nicht dazu geschaffen worden, um permanent in einem großen Tempo sich neu anzupassen, sondern eigentlich ist er dafür geschaffen worden, dass das alles so ein bisschen gemächlich passiert, dass man so die Möglichkeit hat, sich auch anzupassen. Die Zeiten sind aber vorbei. Seit 10, 20 Jahren geht das alles in einem Tempo, was fast alle Menschen überfordert und und bestimmte soziale Gruppen ganz besonders. Und da sind die Verlustängste besonders stark und da ist man dann eben sozusagen auch sehr schnell geneigt, den Leuten hinterherzurennen, die sagen "Pass mal auf, liebe Leute, ich habe die Lösung". Das sind [unverständlich]. Wir haben doch schon mal ganz harmonisch gelebt. Wir haben da auch homogen gelebt, als das hier noch eine ganz andere Welt war, da gab es sozusagen unsere inneren Feinde alle irgendwie noch nicht. Und deswegen geht es in die Zukunft, in dem wir die Vergangenheit wieder aufbauen. Das ist ja praktisch das Grundmuster, mit dem diese Extremisten überall arbeiten. Und in Ostdeutschland verfängt das eben alles etwas früher und radikaler und breiter in der Gesellschaft. Wegen auch dieser unverarbeiteten Vergangenheit aus dem 19. und 20. Jahrhundert, einschließlich der unverarbeiteten kommunistischen Vergangenheit und dann eben dieser starken Transformationserfahrungen und Überforderungen aus den 1990er Jahren, alles gespeist mit dem Missverständnis, dass im Osten kaum jemand den Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft erklären kann. Weil das sozusagen ganz anders sozialisiert worden ist und deswegen meine These geht, dass im Osten eben alles viel radikaler und schneller und früher vonstatten. Und wenn man studieren will, wie eine ungute Entwicklung läuft, dann ist eben der Osten interessant. Aber er könnte eben auch für uns interessant sein, um zu sagen, haben wir nicht Möglichkeiten, um hier auch irgendwie mal Einhalt zu gebieten, um vielleicht irgendwie das Ruder herumzureißen? #00:30:30-1#

Dr. Moritz Florin: Ich wollte noch einen Einwand auch formulieren, der vielleicht auch jetzt noch mal wichtig ist, auch mit Blick auf die Wahlergebnisse. Matthias Quent zum Beispiel, der Rechtsextremismusforscher ist, hat gesagt, man soll den Teufel auch nicht so sehr an die Wand malen, weil man sonst auch das Geschäft der Extremisten betreibt. Eine Mehrheit der Bevölkerung ist trotzdem immer noch gegen die AfD in Deutschland. Wenn man sich die Gesamtzahlen der, die gesamt Wahlergebnisse anschaut, dann ist doch immer noch eine starke Mehrheit, die sich eben nicht davon einfangen lässt. Und wenn man zu stark in diese Richtung argumentiert, es wird so kommen, dann mit, ja, ist es eine selbsterfüllende Prophezeiung und wir sollten eigentlich auch darauf schauen, dass wir eben damit nicht sozusagen dieser Rhetorik auch auf den Leim gehen. Das wäre sozusagen ein Einwand. Aber ja, wollen Sie noch? #00:31:30-7#

Ilko-Sascha Kowalczuk: Ich verstehe das, ja, das ist auch im Prinzip richtig. Aber am Ende des Tages bin ich ja auch nur ich und bin nicht Sprecher von irgendwelchen Gruppen. Und ich bin auch nicht jemand, der anderen gewissermaßen irgendwelche Gruppen von sozusagen formuliert oder zusammenbringen will, sondern der seine Meinung und seine Überzeugungen vor dem Hintergrund einer intensiven Beschäftigung mit diesen Dingen versucht auf den Punkt zu bringen, auch zu provozieren, natürlich auch Widerspruch zu provozieren oder eben auch zu provozieren, das man sagt, das will ich nicht und deswegen werde ich mich jetzt engagieren. Aber im Fokus steht hier Ostdeutschland und da stimmt das eben nicht, was Quent sagt, den ich hoch schätze. Weil ich rede eben nicht nur über den Faschismus und Rechtsextremismus, sondern ich rede über das Staatsautorität, die staatsautoritäre Affinität in Ostdeutschland und dass es eben nicht nur der Faschismus, sondern das ist eben auch Sahra Wagenknecht, das sind postkommunistische Kreise, und da bin ich eben bei 2/3 bis teilweise 3/4 der Gesellschaft, weil das in der Mitte der Gesellschaft siedelt und nicht mehr am Rand irgendwo steht. Und da wird dann eben interessant, wie verhält sich Ostdeutschland gegenüber Putin, gegenüber Russland, gegenüber die Ukraine? Und das sind ganz eindeutige Mehrheitsverhältnisse, die wir da haben. Und, und da kommen wir ja vielleicht noch mal drauf. Und nun kann man sagen, wie redet man darüber? Natürlich, man kann das irgendwie in andere Worte fassen, das machen aber ganz viele Leute. Ich, sozusagen, habe mich eher dazu entschlossen, das drastischer zu formulieren, ich sage auch ich, wir stehen erst am Anfang einer Entwicklung. Wir stehen an einem Epochenwechsel hin zu autoritären Systemen. Ich meine, am Ende ist es auch ziemlich scheißegal, was Deutschland macht, schauen Sie sich an, was in den USA läuft. Da wird gerade eine Demokratie demontiert vor unser aller Augen und niemand kann etwas dagegen machen. Und das hat Auswirkungen auf alles was passieren wird. Die Demontage der NATO und so weiter und so fort. Heute sind 25% Zölle, Erhöhung der Zölle, Einfuhr aus EU-Ländern verhängt worden und so weiter und so fort. Also kann man natürlich auch mit guten Argumenten sagen, na ja, indem ich die Dinge eben auch mal sozusagen in eine andere Richtung formuliere und drastischer kann ich ja vielleicht auch die Hoffnung haben, dass viel mehr Leute sagen, wir müssen jetzt irgendetwas tun. Und wenn wir uns noch mal den letzten Wahlkampf anschauen, aber eben nicht nur diesen letzten Wahlkampf, sondern was seit Monaten und Jahren läuft, dann wird man auch eins feststellen das alle etablierten demokratischen Parteien den Faschisten und Extremisten hinterherrennen. Sie glauben gewissermaßen, dass sie, wenn sie irgendwie abgeschwächt deren Thesen und deren politischen Zielvorstellungen formulieren, dass sie dann das Wählerpotenzial abschöpfen können. Jeder weiß, der sich mit diesen Fragen wissenschaftlich beschäftigt, am Ende wählen die Menschen natürlich das Original und nicht irgendwelche Plagiatoren. Und wenn man das jetzt ganz konkret mal auf die berühmte Migrationsthematik umsetzt, da kann man eben erstens sich wundern, dass tatsächlich nämlich auch befördert durch die immer wieder, das ist das wichtigste Thema der unserer Gesellschaft, nun kann man sagen, ja, es ist auch ein sehr wichtiges Thema und es ist natürlich ganz schrecklich, wenn solche Kriminellen solche verbrecherischen Überfälle stattfinden. Dann kann ich aber als Demokrat und freiheitsliebender Mensch das nicht einfach so stehen lassen, sondern ich muss dann sagen es ist schrecklich, wenn Männer mit Messern Frauen umbringen. Und das macht auch Manfred, Horst und Willy, nur über die wird nicht geredet, sondern dann wird irgendwie eben nur über die, die wir als die anderen konstruieren, geredet und es wird so getan, als wenn von Millionen Menschen, die in Deutschland leben und die hier nicht geboren worden sind, als wenn das Mehrheiten sind. Dabei sind das sozusagen sozial statistisch gesehen verschwindende Minderheiten, die man sozial statistisch gesehen gar nicht messen kann. Also ist die Frage, wie rede ich darüber? Und da sage ich auch seit Monaten, natürlich müssen wir über Migration reden, aber ich würde mich immer hinstellen und würde sagen, ja, Migration ist nicht, wie ein langjähriger bayerischer Ministerpräsident gesagt hat, die Mutter aller Probleme, Migration ist die Lösung aller Probleme. Und warum? Wir haben in Deutschland ein demographisches Problem, wir können diese sozialen Status nicht mehr halten, wir brauchen jedes Jahr eine Zuwanderung von 400.000 Menschen. Und ich kriege nicht 400.000 Menschen jedes Jahr in dieses Land, wenn ich einen rassistischen Diskurs führe, in dem ich erst mal per se alle unter Verdacht stelle. Also brauche ich sozusagen ein ganz anderes Reden darüber und ein ganz anderes, auch konzeptionelles Herangehen. Das hatte ich zum Beispiel im Wahlkampf von den demokratischen Parteien erwähnt, gemacht, niemand hat es gemacht. Ich habe mich sehr stark, obwohl ich in keiner Partei bin, sehr stark für Bündnis 90/Die Grünen eingesetzt habe, auch in den sozialen Medien eigene Videos gepostet und erklärt, warum ich Bündnis 90/Die Grünen wählen, nämlich weil ich glaube, dass das die einzigen sind, die tatsächlich der Ukraine geben, was die Ukraine braucht. Und weil ich glaube, jeder muss immer Entscheidungen treffen, warum man bestimmte Parteien wählt, aber auch die, auch Bündnis90/Die Grünen haben letztendlich eben nicht zum Beispiel, ich bleib bei diesem Thema in der Migrationsfrage anders, großartig anders geredet oder haben eher tatsächlich sozusagen dazu geschwiegen. Und so könnte man andere Themen durchstehen. Warum hängt Heidi Reichinnek? Warum hat die Linkspartei so einen Run erlebt? Warum sind da auf einmal 40.000 Menschen innerhalb von sechs Wochen in diese Partei eingetreten? Weil die Themen besetzt haben und Themen thematisiert haben, die alle anderen nicht aufgegriffen haben. Und zwar wichtige Themen. #00:37:21-1#

Dr. Moritz Florin: Auch die Grünen zum Beispiel, die das Thema vernachlässigt haben und dann sind halt viele auch zur Linkspartei gewandert. Ich denke, man sieht, es geht auch darum, wachzurütteln. Und das Buch ist auch ein Buch, das wachrütteln soll. Es gibt da so eine Passage, wo sie auch von ihrem Jakobinertum in den 1990er Jahren sprechen, also nicht nur der Punk der Geschichtswissenschaft. Aber ich, ich möchte noch mal auf einen anderen Aspekt zu sprechen kommen, weil in dem Buch geht es sehr stark um Freiheit und sozusagen auch um die Mobilisierung im Namen der Freiheit. Und wenn wir jetzt denken an so eine Partei wie zum Beispiel auch Bündnis 90/Die Grünen oder auch die Linken, dann ist das eigentlich ein Begriff, der da gar nicht so stark im Vordergrund steht. Auch in der politischen Debatte in Deutschland ist das eigentlich ein Begriff, der keine so große Rolle spielt. Es sei denn, man spricht zum Beispiel auch über den Ukrainekrieg, da ist dieses Label und auch dieses Thema wieder stärker geworden. Vielleicht wird das jetzt auch noch mal sichtbar durch die aktuellen Bedrohungen, die Sie ja auch angesprochen haben, auch die Bedrohung durch die USA. Aber es geht eben auch wirklich um diesen Freiheitsschock, den die ostdeutsche Gesellschaft erlitten hat. Und da wollte ich noch mal drauf eingehen und vielleicht Sie noch mal darum bitten, auch noch mal zu erklären, warum dieser Freiheitsschock so wichtig ist. Sie haben sehr viel jetzt auch über den Transformationsschock gesprochen und die wirtschaftlichen Probleme, die sozialen Veränderungen, all das, was uns beschäftigt und was die Parteien natürlich auch adressieren. Aber es gibt wenige, die wirklich so diesen Begriff der Freiheit sich auf die Fahnen geschrieben haben und die Partei, die das vielleicht am ehesten gemacht hat, vielleicht kann man sagen in den letzten Jahren auch vernachlässigt hat, die FDP, ist jetzt eigentlich aus dem Bundestag raus und wer vertritt das jetzt eigentlich? Und was machen wir jetzt mit diesem Freiheitsbegriff und dem Freiheitsschock, den Sie hier skizzieren? Es geht zum Schluss eben auch noch mal um den Aufruf, sich wirklich auch noch mal Gedanken zu machen über die Freiheit, die wir haben und die wir vielleicht verlieren können in den nächsten Jahren. #00:39:28-2#

Ilko-Sascha Kowalczuk: Also ich fange mal mit was anderem noch mal an, das hat schon was damit zu tun. Sie haben ja vorhin gesagt, dass dieses Buch sich passagenweise nicht sehr stark von Oschmanns Buch unterscheidet. #00:39:44-7#

Dr. Moritz Florin: Das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur, ich habe nur gesagt, dass es, sozusagen, diese Transformation, das Thema ist schon präsent. Also es ist jetzt nicht so, das... #00:39:52-6#

Ilko-Sascha Kowalczuk: Aber das ist noch mal was anderes. Dann habe ich Sie missverstanden, Entschuldigung, aber jedenfalls [unverständlich] mich trotzdem sagen, dieses, mein Ansatz ist ein ganz anderer, dass ich eben die Ostdeutschen nicht in so eine passive Objektrolle schiebe und sage, denen ist alles passiert, sondern ich versuche eben auch das Verhalten der Ostdeutschen, das Subjektive, also die Subjektrolle klarzumachen. Und Oschmann hat ja in seinem Buch übrigens sich auf zwei Autoren besonders berufen. Bücher, die 2019 erschienen sind, von denen er, unter uns gesagt, auch sehr viel abgeschrieben hat. Das war einmal Steffen Mau, "Lütten Klein" und zum anderen "Die Übernahme" von mir, das steht da auch ganz explizit, so dass er sich darauf beruft. Was er gemacht hat, ist die Dinge extrem zuzuspitzen und extrem, sozusagen in einem sehr wütenden Ton zu schreiben. Und das ist das eigentlich Interessante an diesem Buch, dieser extrem wütende Ton kam im Osten sehr an. Es ist ja das erste Buch, das zum Spiegel-Bestseller wurde auf Platz eins, was ausschließlich sozusagen im Osten, also die Verkäufe im Osten haben dieses Buch zum Platz eins Spiegel-Bestseller gemacht. Das gab es so vorher noch nicht. Normalerweise betragen die Buchverkäufe im Osten, im gesamtdeutschen Buchmarkt 2 bis 3 %. Also das ist immer noch ziemlich dramatisch. Und ich habe oft mit Oschmann diskutiert, öffentlich, das kann man auch nachhören, nachsehen. Und wir waren uns praktisch, an diesem Punkt kamen wir auch nie zueinander in der Frage, wer ist hier Objekt, wer wurde hier zum Objekt gemacht und wie gehen die Leute unterschiedlich mit Freiheit und Demokratie um? Und meine Beobachtung, die ich nicht erst 1990 aufnahm, sondern die ich auch schon zu DDR-Zeiten intensiv erleben konnte, war, dass viele Leute, viele Menschen dazu neigen, genau dieses aktiv werden, was es ja bedeutet, man kann auch freiheitlich leben in der Unfreiheit. Man muss halt nur bereit sein, dann vielleicht auch den einen oder anderen Nackenschlag hinzunehmen und also ein gewisses Risiko einzugehen, vielleicht auch bestimmte Ressourcen in Frage zu stellen, die einem zur Verfügung stehen. Und ich habe da absolut großes Verständnis, wenn man in einer Diktatur dazu nicht bereit ist. Wenn das dann aber so weiterläuft, hat man ein Problem, weil man sich dann eben tatsächlich sehr gut in dieser was mir alles passiert, was mir alles zustößt, also in dieser Opferrolle, das sich sehr gemütlich machen kann und sehr gut einrichten kann. Und genau das befeuert Oschman ja mit seinem Buch. Ich habe 1990 etwas anderes erlebt, was mich echt schockiert hat. Und zwar Ich bin in Ostberlin groß geworden und bildete mir immer ganz gut ein, irgendwie alles, so den Westen so einigermaßen verstanden zu haben. Was in Berlin jetzt auch ein bisschen einfacher vielleicht war, als wenn man irgendwie in Ribnitz-Damgarten groß geworden ist oder in [?] an der tschechischen Grenze oder so. Weil ich natürlich, so wie fast alle in Berlin den ganzen Tag RIAS oder Sender Freies Berlin gehört haben und Westfernsehen geschaut haben. Ich wusste, was abends in den angesagten Clubs los ist und und und. Ich kam da halt nur nicht hin. Und nun ist die Mauer gefallen. Und natürlich jetzt erschloss ich mir meine Heimatstadt Berlin, die Teile, die mir bislang fehlten, vorenthalten worden sind und ging dahin und habe auch relativ schnell Kontakte knüpfen können. Ich hatte auch vorher Freunde aus Westdeutschland, eher mehr oder weniger als Linksradikale, teilweise aus irgendwelchen ominösen K-Gruppen, was mir hinter der Mauer irgendwie alles ziemlich exotisch und ziemlich durchgeknallt vorkam, aber irgendwie auch total interessant und so. Nun war die Mauer weg und nun ging ich sozusagen zu denen in Westberlin oder woanders und staunte. Und das entfremdete mich auch zunehmend von diesen linken Milieus. Sowie ich den Begriff Freiheit benutzte, guckten die mich an, als wenn ich Konrad Adenauer persönlich wäre. Die, und Freiheit war etwas, was entweder die CDU hatte oder das, was sie eben angedeutet haben, was der FDP gehört. Und ich staunte, weil ich kam aus der Unfreiheit und hatte ein ganz anderes Verhältnis dazu. Das war für mich nichts Abstraktes, das war für mich nicht irgendetwas, was mir jemand schenkt oder nicht schenkt, sondern das war etwas, was ich leben will. Und das überraschte mich, das irritierte mich, das brachte mich natürlich auch zum Nachdenken. Ich habe wahnsinnig viel dann auch diesbezüglich gelesen, was ich nun alles lesen konnte usw.. Und eigentlich habe ich dann in den 35 Jahren seither immer wieder aufs Neue gestaunt, welche unterschiedlichen Differenzen es gibt. Ich habe mich halt mit Leuten aus der früheren CSSR oder aus Polen oder aus baltischen Staaten oder aus der Ukraine irgendwie über diese Themen gar nicht zu unterhalten brauchen, weil das war, wir waren da sowieso immer einer Meinung. Und so wie man, so wie ich aber mit Leuten aus den USA oder aus der Bundesrepublik oder aus Frankreich oder England, wo ich zweimal länger gelebt habe, in den 1990er Jahren versuchte, darüber zu reden, war das immer sehr schwierig. Das war wirklich schwierig, weil wir offenbar über ganz andere Dinge redeten, die einen redeten über theoretische Annahmen und ich redete über eine Praxis. Und das hat mich immer so irritiert. Aber ich fand das natürlich auch in der Hinsicht faszinierend und habe da diskutiert. Und dann in den 1990er Jahren, was mich damals sehr, sehr bewegt hat. Und ich war da auch mit vielen Menschen zusammen, die da sehr engagiert waren in der Politik, in NGOs, die Jugoslawienkriege. Die haben mich also sozusagen, wie viele Menschen sehr beschäftigt, die haben auch viel in meinem Kopf verändert. Und die Jugoslawienkriege haben mir noch mal auf eine ganz andere Art und Weise nahegebracht, über Nationalismus nachzudenken. Das war etwas, was es in meinem Kopf eben so auch nicht gab. Ich wusste das, dass es diesen Nationalismus auf dem Balkan gibt oder in den Sowjetstaaten usw.. Und nun diese, diese Katastrophen dort. Und dann kommt die Fußballweltmeisterschaft 2006 und ich, wie alle, sind überrascht, was sich hier in unserem Land abspielt und dass man zur Nation ein sehr positiv, kontaminierte Begriffe positiv besetzen kann. Und da bin ich jetzt wieder bei der Freiheit, dass mir das immer auch wichtig war, dass man sagt "Nein, Freiheit ist nicht ein Begriff einer bestimmten oder einer Ansicht oder einer Haltung von einer bestimmten politischen Gruppierung, von einer Partei", sondern wir müssen Freiheit dahin holen und dass das auch alle verstehen, dass das das Wichtigste ist, was wir überhaupt haben als Menschen, wo es hingehört, nämlich in die Mitte der Gesellschaft mit einem positiven Bezug. Und Freiheit heißt eben für mich und das auch ganz klar zu machen. In diesem Buch gibt es ein Kapitel, "Mein Freiheitsverständnis" und da komme ich irgendwie aus dem 19. Jahrhundert und landet dann irgendwann in der Gegenwart und. Und dazu gehört eben auch Einmischung in die eigenen Angelegenheiten, selber aktiv werden, sich um seine Fragen, um seine Angelegenheiten kümmern. Und das heißt aber nicht ich, ich, ich, sondern Einmischung in die eigenen Angelegenheiten heißt in die Angelegenheiten der Gesellschaft. Ich überlasse es nicht dem Staat, ich überlasse es nicht Parteien allein, sondern wir sind eben auch als handelnde Bürger, als Citoyens sind wir sozusagen Korrektive auch der repräsentativen Demokratie und von staatlichem Handeln. Und nur so kann das funktionieren. Freiheit heißt eben konkret auch immer in einem Teilbereich der Meinungsfreiheit, dass ich das aushalten muss, dass mir alle widersprechen, wenn ich etwas sage und das nicht als sonst was denunziere, so wie dann alle anderen das auch wiederum aushalten müssen, wenn ich ihnen sozusagen widerspreche. Weil Freiheit ist eben keine Konsensgesellschaft, sondern es ist eine Kompromissgesellschaft. Und dann müssen wir eben miteinander sozusagen das aushandeln und das ist sozusagen für mich wichtig und eben auch dieser soziale Aspekt. Ich bin kein Vertreter von libertären Theorien, ganz im Gegenteil. Ich bin nicht dafür, dass der Staat sich aus allem zurückzieht, sondern Freiheit heißt eben auch, ein hohes Maß an soziale Verantwortung zu übernehmen für meine Gemeinschaft und für die Gesellschaft. #00:48:38-5#

Dr. Moritz Florin: Und das ist sicherlich auch etwas, was wir erleben, so in der Szene, die sich mit Osteuropa beschäftigt, weil hier sicher der Krieg gegen die Ukraine ein großer Schock war, aber es ist auch viel klarer wahr, was hier verteidigt werden soll, nämlich eine Freiheit, so wie sie eben in Osteuropa verstanden wird. Und jetzt möchte ich noch mal kurz vielleicht sagen, wie ich sozusagen Ihren Freiheitsbegriff interpretiert habe. Einmal geht es darum, was Sie jetzt gerade gesagt haben, auch, dass man Verantwortung übernimmt in der Gesellschaft für sich selbst, auch Verantwortung übernimmt und nicht immer sagt die, die anderen, die da oben oder die im Westen, die sind an allem schuld und sich so in diese Opferrolle rein begibt, sondern wirklich sagt auch wir selbst haben unseren Anteil daran gehabt, auch in Ostdeutschland. Das war ein sehr starker Punkt, einfach auch diese Übernahme von Verantwortung, wo auch dieses Buch wirklich noch mal reinstößt. Und dann geht es, glaube ich, auch ein bisschen darum. Wenn wir jetzt so im westdeutschen Kontext in den letzten Jahren über Freiheit diskutiert haben, dann ist es natürlich einerseits so Dieser Begriff wurde auch besetzt, usurpiert von Leuten, die den benutzt haben, um ihre politische Agenda durchzudrücken, auch in den USA zum Beispiel. Aber es gab eben auch eine Diskussion über die Freiheit zu etwas und es gab die Diskussion über die Freiheit von etwas. Und ich glaube, es lief dann immer sehr stark hinaus, okay, die Freiheit zu etwas ist irgendwie bedroht durch die sozialen Probleme. Das heißt, Menschen können gar nicht mehr teilhaben und gar nicht mehr so frei sind sein, weil sie gar nicht die materiellen Möglichkeiten haben. Hier in dem Buch geht es aber auch sehr stark um die Bedrohung unserer Freiheit von Diktatur und von Autoritarismus, weil das eben auch die biografische Erfahrung ist, die aus der DDR stammt, dass so etwas auch verloren gehen kann. Und das ist auch der Freiheitsbegriff, der dann in Osteuropa sehr stark verteidigt wird, dass man eben wirklich sieht, was passieren kann, wenn man auf Russland schaut und dass es da wirklich konkret etwas zu verteidigen gibt. Insofern glaube ich, dass auch das Buch einfach auch ein Buch ist, das nochmal in dem Ukraine Kontext wichtig ist und einen Beitrag dazu leisten kann, das besser zu verstehen. Das wäre vielleicht auch noch mal so das, was ich aus diesem Buch mitnehme als ein Punkt, der sehr stark auch bei mir haften geblieben ist, weil es einfach um diesen Freiheitsbegriff geht. Genau das wäre jetzt sozusagen mein Abschluss. Aber Sie können gerne dazu auch noch was sagen. #00:51:14-3#

Ilko-Sascha Kowalczuk: Ich will da überhaupt nicht widersprechen, sondern genauso ist das diese, auch diese Debatte von und zu, ist ja eine sehr alter Debatte. Und mir ist das jetzt auch noch mal zwei Dinge, will ich noch mal sagen. Dieses Buch ist natürlich auch ein sehr starkes Plädoyer oder beinhaltet ein sehr starkes Plädoyer für die größtmögliche Unterstützung des Freiheitskampfes, des Unabhängigkeitskampfes der Ukraine. Ich habe familiäre Wurzeln in der Ukraine. Mein Großvater ist Ukrainer gewesen. Er ist zum Tode verurteilt worden für sein Engagement, für seinen Kampf für eine freie Ukraine vor 100 Jahren. Ein bisschen mehr als 100 Jahren konnte in der Nacht, als er hingerichtet werden sollte, mit anderen, das hat natürlich auch alles etwas mit mir gemacht, das ist natürlich auch alles in meinem sehr vielleicht nicht linearen biografischen Rucksack, der da bei mir drinsteckt. Da gibt es halt viele Brüche usw. und so fort. Aber mir war eben auch wichtig, gerade vor dem Hintergrund, dass der, der mich sehr stark Irritierenden eine mehrheitlichen Einstellung zu dem verbrecherischen Regime in Russland und zu der doch mehrheitlich fehlenden Solidarität in Ostdeutschland zur Ukraine klar und deutlich zu sagen und auch herauszuarbeiten, was viele irritiert und trotzdem stehe ich dafür und kann auch nicht anders. Freiheit ist wichtiger als Frieden. Und das irritiert natürlich viele und das versuche ich eben auch mit dem Hintergrund der kommunistischen Diktatur zu erklären. Was nützt mir diese Friedhofsruhe und dieser Scheinfrieden, deser Terror hinter der Mauer, dieser Terror in einer Diktaturu nd dieser Terror ist übrigens nicht das Gefängnis, das Zuchthaus, das Konzentrationslager, sondern es ist der Alltag. Der Terror ist in der Schule, in dem alle das Gleiche sagen müssen, indem alle gleich gleiche Dinge machen müssen, in dem alles nur eine Lehrmeinung gibt, nur ein Schulbuch, in der alles uniformiert, uniformiert wird und der alles militarisiert wird. Das sind nicht nur die Schulen, das ist der ganze gesellschaftliche Bereich. Diese Subtilität einer Diktatur, das ist etwas, was man auch erst mal verstehen muss, weil man es selber nicht erlebt hat. Und die meisten, die es erlebt haben, haben es auch nicht verstanden, weil man, weil man, weil viele das eben auch weggedrückt haben. Und dort herrschte eben keine Freiheit und ich gehe dann weiter und sage, dort, wo keine Freiheit herrscht, ist auch Frieden nicht möglich. Innerer und äußerer Frieden, das war eine der zentralen Thesen der Charta 77, der Solidarność, der Initiative Frieden und Menschenrechte in der DDR, also bekannter Oppositions- und Widerstandsgruppen. Innerer und äußerer Frieden sind zwei Seiten einer Medaille, das gehört beides zusammen. Und jetzt erzähle ich Ihnen zum Abschluss noch eine kleine Anekdote, die mich, da war ich vielleicht 19 Jahre alt, wahnsinnig beeindruckt hat und die wirklich mein Freiheitsverständnis damals das war also so 1985 ungefähr oder 86, also wirklich auf einen ganz anderen Prüfstand gestellt. Ich habe ja nicht immer so geredet, wie ich heute geredet habe. Ich habe mich ja auch entwickelt und ich komme aus einem kommunistischen Elternhaus und musste mich sozusagen als junger Mensch auch erst mal emanzipieren. Das war nicht so einfach für einen jungen Menschen so, da gab es viele ganz harte Auseinandersetzungen, insbesondere mit meinem Vater. Es gab Verratshandlungen usw. und so fort und das ist alles nicht so einfach. Und jedenfalls, und da las ich eines Tages in einer DDR-Zeitung ein Interview mit einem Rockmusikforscher, das war was ganz Besonderes. Das gab es so auch nicht in der Bundesrepublik, der macht das auch heute noch. Heute schwurbelt er eher, als dass er sozusagen erwacht, aber damals war das ganz interessant für uns, natürlich. Und der war Vorsitzender oder Präsident von irgend so einer internationalen Vereinigung von irgendwelchen Rockmusikforschern der Welt. Keine Ahnung, warum der da Präsident war, da konnte der jedenfalls in den Westen fahren, hat Interviews gemacht mit dem Boss oder mit Tina Turner, oder keine Ahnung. Und dann war er also auch in Big Apple und lief da so die Straße lang und das erzählt der jetzt in diesem Interviews. Interessant, warum die das eigentlich veröffentlicht haben, weil das bei solchen Vollhonks wie mir genau das Gegenteil von dem bewirkt, was die eigentlich sozusagen, was das bewirken sollte. Und dann erzählt er ja, da läuft er so die Straße lang, Fifth Avenue oder was auch immer und trifft da so ein, also so einen Obdachlosen, der liegt da so, kennt man ja so aus New York auch die Bilder, da in seinem Schlafsack auf so einem U-Bahn Schacht. Und die kommen beide irgendwie ins Gespräch und quatschen irgendwie so, und dann sagt der Ostdeutsche zu ihm, "Ja ist ja irgendwie alles so traurig mit dir und so, ja, es ist nicht so toll, aber na ja", so hin und her. Und dann sagt er zu ihm, "Na ja, wo kommst du denn eigentlich her?" Und dann sagt er also aus der DDR, guckt er ihn so an, hat er nicht verstanden, "East Germany", "Ah, aus Ostdeutschland?", "Ach du Scheiße, das tut mir ja leid. Du bist ja eingesperrt. Du lebst halt in der Unfreiheit" und dann endet das da auch. Das ist also wirklich nur so eine Passage. Und das hat mich tief beeindruckt. Und ich habe bis heute nicht verstanden, warum die das sozusagen in der DDR-Zeitung so veröffentlicht haben, weil ich glaube, dass nicht nur mich das sozusagen beeindruckt hat. Danke. #00:56:50-4#

Dr. Moritz Florin: Vielen Dank. Genau. Ich glaube, wir haben jetzt noch Gelegenheit für Fragen aus dem Publikum. #00:57:07-1#

Publikumsfrage: Ich kann mich an den Spruch erinnern "Kommt die D-Mark nicht zu uns, kommen wir zu D-Mark.". Ich glaube, das war so der große Trieb der großen Masse der Ossis. Ich sag mal so, sind die Ostdeutschen und somit auch die Osteuropäer nicht einfach nur pragmatisch und sagen, dass sie nicht so groß Ideologie sehen, sondern einfach, wir passen uns da an, wo der Wohlstand ist. Und sag mal so, was jetzt an Gefahr sehen ist vielleicht einfach nur Ausdruck von höheren Pragmatismus auch gegenüber Europa. #00:57:39-8#

Ilko-Sascha Kowalczuk: Das ist eine interessante These. Also ich würde ja schon große Unterschiede zwischen der ostdeutschen Gesellschaft und den baltischen Gesellschaften der polnischen Gesellschaft da sehen, also da, und zwar aufgrund der unterschiedlichen historischen Erfahrung. Stichwort doppelte Okkupationsserfahrung, die eben etwas ganz anderes in den Rucksack der Gesellschaften gepackt hat, als bei Ostdeutschland. Das ist das eine. Das andere ist, also deswegen ist auch das Verhältnis dazu eine andere. Ihre These hätte vielleicht eine gewisse, also die würde mich vielleicht ein bisschen beeindrucken, wenn ich irgendwie dann nicht zurückfragen müsste, "Ja, wenn das so ist, was ist eigentlich daran pragmatisch, sich Putin so an den Hals zu werfen?", das erscheint mir nicht sonderlich pragmatisch zu sein, und das erscheint mir auch ehrlich gesagt nicht sonderlich weitsichtig zu sein. Und vielleicht würde man jetzt sagen, na ja, ist ja nicht so, dass die sich sozusagen dem so an den Hals werfen, würde ich sagen, okay, vielleicht ist das ein bisschen zugespitzt, aber es gibt eine große Abkehr und einen großen Hass auf den liberalen westlichen Verfassungsstaat. Eine größere Abkehr und größeren Hass, als sich das auch nur in diesen Wahlergebnissen äußert. Und da, in dieser Situation Macht man sich gemein mit dem Feind des eigenen Feindes. Und der größte Feind des Westens ist Putin. Und ich finde das nicht sehr pragmatisch. Ich verstehe aber, was sie, was Sie dahinter sagen. Natürlich ist es ein gutes Recht, nicht ideologisch zu sein, sowieso am besten nicht politisch zu sein. #00:59:23-5#

Publikumsfrage: Billige Rohstoffe. #00:59:26-5#

Ilko-Sascha Kowalczuk: Billige Rohstoffe? #00:59:27-8#

Publikumsfrage: Genau. #00:59:27-9#

Ilko-Sascha Kowalczuk: Wegen Russland? #00:59:28-5#

Publikumsfrage: Ja. #00:59:29-3#

Ilko-Sascha Kowalczuk: Naja, aber jetzt mal unter uns, ja. Also ich meine, wir müssen ja nicht immer so tun, als wenn die ganze Gesellschaft nur aus Wirtschaftsexperten besteht und die irgendwie alle das so ganz genau einschätzen können. Also ich meine, es werden immer viele Geschichten über Nord Stream erzählt, dieses Buch, was Sie da vorhin vorgestellt haben, ich hatte die Gelegenheit, dieses Buch vor Erscheinen schon zu lesen und auch zu rezensieren. Es ist ganz und gar großartig. Es wirft ganz viele Fragen auf. Insbesondere wirft die Frage auf, warum die Verantwortlichen in Deutschland für Nord Stream heute immer noch überall in Amt und Würden sind. Das ist völlig unverständlich. Es ist also wirklich ganz schrecklich. Aber das zeigt, da wird eben auch noch mal deutlich gemacht, was Nord Stream eigentlich bedeutet und was nicht. Was bedeutet es? Eigentlich gar nichts. Weil nämlich sozusagen lange bevor das Ding in die Luft geflogen ist von Russland aus kein, da nichts mehr durchgeleitet worden ist. Nord Stream 2 hat sowieso, war sowieso nicht an und so weiter und so fort. Und das ist also ein bisschen schwierig. Und wenn Sie sich mal die Entwicklung der Energiepreise anschauen, dann ist es ja nicht so, dass die irgendwie ständig nur so nach oben gegangen sind, sondern dass das da Konjunkturwellen gab. Ich verstehe das, was Sie meinen, dass es sozusagen, dass viele Menschen natürlich so eine Entlastung, nach solchen Entlastungen suchen. Aber die gibt es nun ausgerechnet nicht mit Russland, sondern diese, diese Verknüpfung hat uns ja erst dahin geführt. Und ich, wenn ich das noch sagen darf ich bin jetzt nicht so ein Verfechter der These, der immer der, die so lautet, Mehrheiten haben immer Recht. #01:00:57-2#

Dr. Moritz Florin: Ich würde vielleicht noch ganz kurz ergänzen, dass natürlich auch in Osteuropa sich die Gesellschaften ganz unpragmatisch von Russland abgewandt haben und eigentlich für ihre Freiheit kämpfen gegen Russland und das ist jetzt keine sehr pragmatische Entscheidung. Wenn man pragmatisch wäre, dann würde man sich auf bestimmte Deals einlassen und ja, jetzt aufgeben. #01:01:20-5#

Ilko-Sascha Kowalczuk: Zum beispiel dass die baltischen Staaten sozusagen die Energiezufuhr ab... #01:01:24-3#

Dr. Moritz Florin: Aber da ist ein großer Unterschied zwischen Ostdeutschland und ostmitteleuropäischen Staaten, der doch sehr bemerkenswert ist. #01:01:31-3#

Ilko-Sascha Kowalczuk: Genau. Exakt. Weil denen halt ganz offenkundig ihre Unabhängigkeit und Freiheit wichtiger ist als kurzfristige, vielleicht auch wirtschaftliche Zugeständnisse. #01:01:41-4#

Publikumsfrage: Wenn man sich die Ergebnisse der Bundestagswahl in Sachsen-Anhalt anschaut, wo die nächsten ostdeutschen Landtagswahlen im Sommer 2026 stattfinden, glauben Sie das in den eineinhalb Jahren, dass man da noch irgendwie das Ruder rumkriegen wird, was diese Wahlergebnisse betrifft. #01:02:03-4#

Ilko-Sascha Kowalczuk: Also, ich habe wirklich, ich habe auch ein paar Ideen, was man besser machen kann, aber ich habe nicht wirklich aus meiner Analyse und meiner Wahrnehmung positive Gesamtbotschaften. Also der Aufstieg gerade auch der AfD in Sachsen-Anhalt, der ist ja bisher immer noch ein bisschen gebremst worden, weil es da einen sehr starken CDU Ministerpräsidenten gibt, Haseloff, der da wirklich sehr stark dagegensteuert. Übrigens, dessen Sohn ist auch hier in Franken, in Bayreuth, am Gericht und, da in Sachsen-Anhalt spielt ja auch ein anderer Mensch, der in Bayreuth eine wichtige Rolle spielte, an der Universität eine große Rolle, einer der größten völkischen Einpeitscher, die es sozusagen an der sachsen-anhaltinischen AfD gibt, der ist an der Universität Bayreuth Privatdozent, und es gibt offenbar keine Mittel und Wege, denen dort sozusagen rauszuschmeißen. Obwohl offenkundig ist, dass das menschenfeindliches Zeug ist, was der da von sich erzählt. Also ich habe ja vorhin gesagt, ich glaube, wir leben erleben gerade eine, wir stehen an der Schwelle zu einem autoritären, zu einer autoritären Epoche und ich erwarte eigentlich, dass wir das sozusagen in Ostdeutschland immer noch einen Schritt weiter vorne erleben werden. Hoffe aber, um das ganz klar zu sagen, hoffe, dass ich mich total irre. Ja, und das ist so, aber ich sitze eben auch hier und jeden Tag woanders und schreibe Bücher und bin sehr aktiv in den sozialen Medien, weil ich eben auch Leuten Mut machen will, sich nicht zu ergeben, nicht einfach passiv der Dinge sozusagen, die da abzuwarten, die da kommen mögen, sondern dass wir, die wir eben, wir haben das ja vollkommen richtig gesagt, wir sind überall eigentlich, also gesamtdeutsch, gesamteuropäisch sind wir, die wir die Demokratie und Freiheit verteidigen wollen, die wir in diesem demokratischen Verfassungsstaat leben wollen, sind wir immer noch in der Mehrheit. Aber wir beobachten, wie diese Mehrheit kleiner wird. Und deswegen müssen wir uns engagieren. Und zwar jeder kann sich engagieren. Das ist so pathetisch, aber ich sage das trotzdem so, ich schäme mich nicht mal dabei. Jeder von Ihnen kann widersprechen, wenn man auf der Straße, auf Arbeit und in der Nachbarschaft menschenfeindliche Thesen hört. Da kann man einfach widersprechen und dann kracht es vielleicht auch mal, aber vielleicht erreicht man den einen oder anderen auch so. Der Aufstieg der AfD hatte auch etwas mit diesen Normalisierungsprozessen zu tun, dass wir es mittlerweile völlig normal finden, dass die im Fernsehen sind, dass wir es ganz normal sind, dass Nationalsozialisten, und das meine ich jetzt nicht auf die ganze AfD Fraktion bezogen, sondern einzelne Leute, dass dann bekennende Nationalsozialisten im Parlament sitzen. Und wir nehmen das alles irgendwie so hin, die sitzen irgendwie überall und ständig werden über die irgendwelche Sachen gebracht in den Medien. Wir brauchen da sozusagen, wir müssen uns auch gegen diese Normalisierung stemmen und und das kann auch jeder in seinem, in seinem Alltag, das muss man einfach ganz klar so sagen. Und nach meiner Beobachtung machen das viel zu wenige Menschen. Viele haben resigniert, manche haben Angst. Das verstehe ich natürlich auch. Es gibt viele, mittlerweile viele Leute, die Angst haben und so, aber auch anderen, die das sozusagen, die sich, die, die das nicht wollen und die noch die Kraft und die Energie haben können das auch in ihrem Alltag. Man muss da nicht immer warten, bis Anne Will ein neinlädt. Passiert nämlich für die wenigsten in unserem Land. #01:05:37-2#

Publikumsfrage: Ja, vielen Dank, Herr Kowalczuk. Ich wollte erst mal sagen, ich finde das gut, dass Sie auch mal den Bezug zu den mittel- und südosteuropäischen Ländern ziehen. Und ich denke, das ist, da gibt es vieles gemeinsam, auch was in Ostdeutschland passiert und was in diesen Ländern passiert und was die gesamte Bundesrepublik und manchmal besonders die die Leute, die im Osten sind, und manchmal besonders die, die im Westen der Bundesrepublik sind, von dieser Konstellation lernen können, ein bestimmtes Desiderat auch zuzumachen, strategisch denken zu lernen und die und zu spüren, was los ist, dass man nicht mehr nur einfach rumsitzen kann. Also das finde ich gut, diesen Bezug. Ich habe das Buch noch nicht gelesen, aber ich wollte das vorab schon mal loben. Ja, ja, ist alles okay. Ich habe aber ein altes von Ihnen mit hier. #01:06:20-0#

Ilko-Sascha Kowalczuk: Das Neue müssen Sie kaufen. #01:06:22-0#

Publikumsfrage: Ja. Wenn Sie das erste unterschrieben haben, dann kann ich das Neue kaufen. Nein, das, was ich fragen wollte, ist, wenn Sie diese Transformation beschreiben, diese Brüche, die nicht bei jedem Ostdeutschen zu einem negativen Chaos geführt haben, die bei Ostdeutschen zum Denken geführt haben, die bei Ostdeutschen zum Aufbruch geführt haben, zum völlig sich neu konstruieren und zu Stärke auch geführt haben, wenn sie nicht verblöden, unterwegs verblödet sind, was auch passiert ist. Was sehen Sie für die gesamte Bundesrepublik, für die Zukunft vielleicht aus diesen positiven Aspekten einer ostdeutschen Transformationsentwicklung. Wie sehen Sie diese Frage? Was können die geben oder was geben die schon oder was sollten sie mehr geben? #01:07:06-9#

Ilko-Sascha Kowalczuk: Ich bin für einen Punkt wirklich sehr dankbar, den Sie angesprochen haben, weil ich den selber irgendwie immer wieder vergessen zu erwähnen, obwohl er so verdammt wichtig ist. Wir reden und ich rede und schreibe auch in diesem Buch über einen Teil Ostdeutschlands, über einen Teil Europas. Ich selber gehöre aber zu einem ganz anderen Milieu, nämlich zum demokratieaffinen, zum freiheitsaffinen Milieu. Um mich herum viele, viele Menschen, die auch um auf Ostdeutschland zurückzukommen, die die Freiheitsrevolution und die Wiedervereinigung als ein großes Lebensgeschenk, als etwas wahrgenommen hat, was sozusagen von vorne bis hinten nur positiv war. Um das mal ganz klar zu sagen, für mich ist auch die Wiedervereinigung eine ganz große Erfolgsgeschichte. Und dann können wir auch mal anfangen, was irgendwie schiefgelaufen ist. Natürlich läuft eine Geschichte immer irgendwas schief, aber aus dem Milieu, in dem ich komme, aus dem politischen Milieu, aus dem sozusagen auch so ein bisschen subkulturellen Milieu, aus dem oppositionellen Milieu da überwiegt und nicht nur dort, sondern bei Millionen anderen die absolute Freude über den, über die Freiheitserfahrung, die man dann machen könnte und konnte. Das muss man auch ganz klar sagen. Und auch diese Millionen Menschen gibt es auch heute immer noch in Ostdeutschland. Das sind im Übrigen auch die, die im Wesentlichen, also nicht alle, aber Teile davon dann eben auch in Ostdeutschland zu meinen Veranstaltungen, Lesungen kommen, um sich zu bestärken, dass man sich auch gegenseitig bestärkt. Das gibt es natürlich, und zwar massiv. Und meine aus 1989, aus dieser Freiheitsrevolution war erstens eine andere Form von nie wieder. Ich werde nie wieder schweigen, ich werde nie wieder etwas einfach hinnehmen, ich werde nie wieder meinen Kopf einziehen, ich werde sozusagen für meine Rechte, für die Rechte meines Nachbarn kämpfen und mich engagieren und mich einsetzen. Und das zweite, was ich daraus sozusagen und ich werde auch, ich werde auch sozusagen nicht mehr opportunistisch irgendwie mitmarschieren, um vielleicht irgendwo Karriere zu machen oder sonst was, ich habe auch in der Bundesrepublik keine Karriere gemacht. Ich bin eben nicht Professor geworden. Ich wollte gerne Professor werden, ich wollte auch so ein Historiker werden, der am Bodensee sitzt und über die Kulturgeschichte des Kochlöffels im zwölften Jahrhundert forscht. Das wollte ich werden, ich bin ich aber nicht geworden. Ja, und ich will da auch gar nicht jammern, ich bin sozusagen, ich bin vielleicht viel freier als viele meiner Kollegen, aber die die andere, diese, diese erlebte Erfahrung lautete auch nach dem, was wir dort erlebt haben, im Ganzen, im ganzen kommunistischen Raum. Ein scheinbar übermächtiges System brach vor unser aller Augen zusammen und wir waren sogar, wenn auch in der Minderheit, welche, die noch so einen kleinen Tritt dazu gegeben haben, dass dieses Schweinesystem zusammenbrach. Etwas, was man noch Wochen, Monate vorher nicht, war ja nicht vorstellbar. Für mich war das übrigens auch am 9. November nicht vorstellbar, dass die Mauer sofort zusammenbricht. Heute wussten das alle. Alle haben das schon Wochen, Monate vorher gewusst. Ich war zu doof. Ich habe es nicht gewusst, ich habe es nicht mal um 16:00 Uhr gewusst, dass das gleich passieren wird. Aber die Lehre war Ich werde nie wieder politisch pessimistisch sein. Ich darf das gar nicht, weil ich habe erlebt, wie ein übermächtiges System vor meinen Augen sozusagen zusammengebrochen ist. Und deswegen kann ich, darf ich, gar nicht mehr politisch pessimistisch sein. Wir müssen optimistisch sein. Das Problem ist nur, ich bin das jetzt nicht mehr. Das muss ich einfach so leider sagen. Ich will das gerne sein, aber ich will sie auch nicht anlügen. Ich will auch nicht irgendetwas sagen, was ich nicht bin, sondern das, ich habe diesen diesen Optimismus verloren und. Und gleichzeitig engagiere ich mich aber dafür und sage, den mag ich verloren haben und ich hoffe, dass ich mich irre, aber ich halte nicht meine Klappe. Solange ich denken und reden kann, werde ich mich für diese Grundwerte einsetzen. So wie ganz viele andere Menschen in unserem Land und vielleicht auch dazu animieren, dass der eine oder die andere sagt, okay, ich muss auch lauter werden, denn wir müssen uns über eins immer bewusst werden, Demokratie und Freiheit, das ist anders als eine Diktatur, lebt auch von Gesichtern, lebt auch von jedem Einzelnen. Und das funktioniert eben nicht, dass man sich irgendwo nur so in anonymen Massen versteckt und hofft an mir wird der Kelch schon vorbeigehen, sondern man muss eben auch, wir, muss eben auch mit seinem Gesicht dafür einstehen. #01:11:46-8#

Publikumsfrage: Ich will mal einen anderen Versuch unternehmen. Ich bin Jahrgang 1944 und durch mein Leben durch hat sich zunächst die Ostzone, dann die DDR und später auch der Wechsel mit durchgezogen, aber als Westdeutscher. Der schönste Tag in meinem Leben, das muss ich sagen, war der 9. November bzw die Zeit kurz danach, dass man frei in den Osten fahren konnte. Und es tut mir weh, was jetzt geschieht. Ich bringe es nicht mehr auf die Reihe. Bin froh, dass Sie einen anderen Aspekt noch mal hier bringen. Bin zwar trotzdem nicht sehr optimistisch mehr. Bin depressiv gestimmt, an dem Punkt. Es tut mir weh, das sage ich noch mal und ich danke Ihnen für das Engagement, das Sie hier heute uns wieder rüberbringen. #01:12:50-3#

Ilko-Sascha Kowalczuk: Danke. #01:12:51-3#

Publikumsfrage: Wenn ich das richtig verstehe, dann vergleichen Sie ja vor allem das aus, sozusagen mit der Folie Westdeutschland - Ostdeutschland. Und jetzt ist es schon ein bisschen angeklungen, ich finde es eigentlich mal ganz interessant, wenn man sagt, es ist, und da kenne ich mich natürlich zu wenig aus, wie war das denn im real existierenden Sozialismus, in all den Ländern, die jetzt sozusagen auch in Freiheit leben? Wir erleben ja, dass die unterschiedliche Entwicklungen nehmen. Also Ungarn ist sozusagen auch eine Diktatur, würde ich es schon fast nennen. In den baltischen Staaten sieht es anders aus. Und wie, wie erklärt man sozusagen diese unterschiedliche Entwicklung, jetzt aus der naiven Sicht eines Westdeutschen, der das nicht so differenziert wahrgenommen hat, aber die ja gewissermaßen im gleichen gesellschaftlichen System gelebt haben, die aber mit der Freiheit ganz anders umgehen. #01:13:49-8#

Ilko-Sascha Kowalczuk: Also ich fange mal noch mit einem anderen Punkt an, den Sie jetzt ganz am Anfang nur so impliziert, vielleicht mit angesprochen haben, vielleicht auch ohne das selber gewollt zu haben. Für mich begann eines der großen Probleme in Transformationsprozess der Wiederherstellung der deutschen Einheit eigentlich mit dem Versprechen der Bundesregierung, euch wird es in drei, fünf, sieben Jahren, das schwankt ja so ein bisschen, so gehen wie den Brüdern und Schwestern im Westen. Da waren zwei Implikationen dabei, die bei näherer Betrachtung auch schon damals Quatsch waren. Das eine war der Westen wurde auch in solchen Bildern zu einer Homogenität, zu einer Einheit geschmiedet, als wenn München und Minden irgendwie fürchterlich ähnlich wären. Und dahinter stand auch so ein bisschen, euch wird es bald genauso gehen, und das ist ein Problem bis heute, als wenn München und Hamburg oder München und, keine Ahnung, Aachen warten würden in ihrer Entwicklung, bis der Osten nun endlich auch mal bei ihnen angekommen ist. Man darf ja nicht vergessen die Entwicklung geht ja nicht nur im Osten weiter, sondern überall auf der Welt und auch im Westen. Also hat man auch viel zu spät realisiert, dass dieses Versprechen ein politisch hochgradig problematisches Versprechen war, weil es im Prinzip nicht einzulösen ist. Aber man kann natürlich Vergleichsebenen wählen, auf denen man dann feststellt: Wow! Und da fallen mir immer zwei ein. Das eine ist und das ist die Vergleichsebene, die eigentlich den meisten Menschen bei rationaler Betrachtung auch aus ihrem Alltag heraus am nächsten liegen müsste, dass man vergleicht, hier stehe ich heute und dort stand ich gestern. Dass man schaut, die Innenstadt von Jena sah 1990 so aus und 2010 so. Ich habe hier eine Ruinenlandschaft und hier erkennt man nicht wieder, wie das alles aussieht, und zwar in ganzen Ostdeutsch, in ganz Ostdeutschland. Das nehmen die Menschen aber nicht mehr wahr, weil sie sich eben nicht mit dem vergleichen, wo sie eigentlich herkommen, als sie die Habenichtse waren, sondern weil sie sich immer noch mit den reichen Brüdern und Schwestern wegen mir in München oder Hamburg vergleichen. Das ist ein Riesenproblem. Deswegen wissen auch fast alle Menschen in Europa, die sich mit solchen Statistiken beschäftigen, mit solchen Landkarten, auf denen dann so alles eingefärbt ist nach sozialen Indikatoren. Dass Ostdeutschland heute zu einem der wohlhabenden Regionen in Europa zählt, das wissen fast alle, die sich damit beschäftigen. Das weiß nur niemand in Ostdeutschland. Ja, und das ist auch so, es gibt auch diese berühmten Umfragen, die gibt es übrigens auch aus anderen Regionen, auch aus Westdeutschen oder Süddeutschen. Man fragt die Leute und sagt, "Wie geht es dir persönlich?", und das ist in Ostdeutschland seit etwa 20 Jahren gleich. Da antworten 2/3 bis 80 % mir persönlich geht es gut bis sehr gut, sagen auch heute die Leute. Und dann fragt man die gleiche Kohorte "Und wie geht es Ostdeutschland? Die sagen mit der gleichen Selbstverständlichkeit 2/3 bis 80 % Ostdeutschland geht es ganz schlecht. Das ist ein Phänomen, das kennen wir auch aus anderen Regionen, das zeigt aber etwas. Und das andere, die andere Ebene, die man hätte viel stärker machen können. Dass man sagt naja, okay, dann wenn ihr euch schon mit Westdeutschland oder Süddeutschland vergleichen wollt, dann vergleicht euch doch auch mal mit denen, die so ganz so ähnlich lebten wie ihr 1989. Mit Polen, mit den baltischen Staaten, mit Tschechien, mit der Slowakei, mit Ungarn. Da würde doch der Vergleich ganz anders ausfallen. Der ist aber, der gilt vielen aber nicht als legitim. Und nun muss man zu dem Transformationsprozess sagen und auch das ist ein Problem, ich würde ja nicht nur sagen, dass die Freiheit den meisten Menschen im Osten geschenkt worden ist, sondern eben noch etwas anderes. Nirgendwo im postkommunistischen Raum war der soziale Transformationsprozess so hart wie in Ostdeutschland, so abrupt. Ich birng mal, nur damit Sie sich mal vorstellen können, zwei Zahlen, was vielen nicht so klar ist, jetzt nicht mit Arbeitslosen und so, das ist alles dramatisch genug. Die Bundesrepublik Deutschland hat ungefähr 25 Jahre Zeit sich genommen, um von einer anders gearteten, aber auch so benannten Arbeitsgesellschaft zu einer Dienstleistungsgesellschaft zu werden. Ja, sozusagen der berühmte tertiäre Sektor, gewissermaßen der dominierende war. Ostdeutschland hat dafür ungefähr übertrieben gesagt, eine Nacht Zeit gehabt durch diese Währungsunion. Sozialwissenschaftler sagen heute, das waren so ungefähr zwei Jahre. Man konnte auch einen anderen Punkt bringen, um das noch mal zu zeigen, was wirklich im Osten auszuhalten war und was das zu auch zu Überforderung führt. Dass man die westdeutsche Bergbauindustrie, Kohlebergbau, der war so Ende der 50er Jahre so allmählich an sein Ende gelangt. Es war irgendwie klar, das muss, da muss ein Transformationsprozess her und Ende der 60er Jahre ist praktisch der Ausstieg beschlossen worden. 1989 also, Sie wissen alle 2017 war dann, kam der letzte Kumpel hoch. Es war ein Staatsakt, Sondersendungen, der Bundespräsident war da und so bla bla bla. Alles richtig. 1989 ist jeder einzelne Arbeitsplatz in der westdeutschen Bergbauindustrie mit 56.000 € subventioniert worden. Und 1992 wird den Kumpeln im Osten gesagt "Wir können doch nicht eure Arbeitsplätze subventionieren. So was macht man im Kapitalismus nicht.". Verstehen Sie? Also dieser Transformationsschock im Osten, das war schon wirklich brutal, aber jetzt kommt die andere Seite hinzu. Das war in den postkommunistischen Räumen eben anders. Das war langsamer, gemächlicher. Ich weiß nicht, wann in Tschechien überhaupt mal Arbeitslosigkeit zum sozialen Problem wurde, das jedenfalls nicht in den ersten 15 Jahren. Wenn man sich so anschaut, auch in Polen, das waren alles ganz andere Prozesse, die da abliefen. Aber nirgendwo sonst im postkommunistischen Raum ist eine ganze Gesellschaft sozialpolitisch so abgefedert worden wie in Ostdeutschland. Das gehört eben auch zu dieser Geschichte dazu, weil es nirgendwo eben den bundesdeutschen Sozialstaat gab, den gab es nur für Ostdeutschland und natürlich nirgendwo anders. Und das gehört eben auch zu diesen Erfahrungen, aus denen dann so eine komische Melange kam, die schwer zu erklären ist. Und in Osteuropa kommt noch hinzu ich habe das ja vorhin schon gesagt, in Polen oder den baltischen Staaten, in der Ukraine war es da noch ein bisschen komplizierter, aber im Prinzip so was Ähnliches, diese doppelte Okkupationsserfahrung. Und nun macht auf einmal eine Mehrheit in Ostdeutschland nicht mehr die sowjetische Besatzungszone und die Rote Armee zu der Okkupationsarmee, die waren da, gibt ja auch gute historische Gründe, dass man sagt, das hatte eben die historischen Gründe und das hatte auch seine Berechtigung, dass dann auf einmal überall in Ostdeutschland Leute an den Bahnhöfen standen und den Sowjets hinterhergewunken haben. Ich gebe das gerne zu, das hat mich damals auch schon ein bisschen irritiert. Aber das jetzt, und zwar schon seit den 1990er Jahren der Westen praktisch zu einer Okkupationsmacht, zu einer Okkupationsmacht erklärt wird, ist natürlich irgendwie an Absurdität nicht zu überbieten. Und das ist praktisch diese, dieser Diskurs und da schließt sich das dann auch, den eben diese Oschmänner und andere dann auch noch befördern, indem sie sagen ja, wir waren ja der ganzen Sache ausgeliefert und dann kam der finstere böse Westen, die wollten nur das Böse usw., dann werden koloniale Muster wachgerufen und dann sage ich, na ja, dann wäre Ostdeutschland das erste koloniale Land, was seine Kolonialherren herbei gewählt hat. Was soll der Quatsch? Und außerdem ist das eine Verharmlosung des realen europäischen Kolonialismus mit Millionen, Abermillionen Toten, also hört auf so einen Quatsch zu erzählen. Aber eben, aber trotzdem dieses Narrativ, da gibt es eine Okkupation usw., das verfängt eben in weiten Teilen Ostdeutschlands übrigens, ich weiß nicht, ob Sie das wissen, in den aktuellen russischen Geschichtsbüchern steht tatsächlich drin, die sind, glaube ich, jetzt entweder 2023 oder 2024 zu offiziellen Geschichtslehrbüchern in den Schulen verabschiedet worden, dass die DDR zeitweilig von der Bundesrepublik Deutschland besetzt ist seit 1990. #01:22:45-7#

Dr. Moritz Florin: Dann kommt auch wieder Oschmann ins Spiel, der ja auch übersetzt wurde ins Russische. Sie haben sich da auch sehr eingebracht in diese Diskussion. Einfach, weil der sehr stark in das russische Narrativ hineinpasst. Und vielleicht nur ganz kurz als Ergänzung, ich glaube, alle diese osteuropäischen Gesellschaften haben trotzdem auch ihren Transformationsschock erlebt, nur auf unterschiedliche Art und Weise. Auch Russland hat den Schock erlebt und auch dort gibt es sozusagen die Erzählung, man ist quasi vom Westen, also als eine Niederlage. Und das wird dann auch wieder benutzt, um den gegenwärtigen Krieg zum Beispiel zu rechtfertigen, ist es aber ein sehr unterschiedlicher Umgang und ein sehr interessanter Aspekt, dass es eben manche Gesellschaften gibt, die daraus den Schluss gezogen haben wir müssen jetzt erst recht für unsere Freiheit einstehen und andere in so einen Revisionismus hineingeschlittert sind, wie die ostdeutsche Gesellschaft und wie die russische Gesellschaft. #01:23:40-3#

Grazyna Wanat: Hier gibt es auch noch eine Frage. #01:23:44-4#

Dr. Moritz Florin: Wer ist dafür? #01:23:44-9#

Grazyna Wanat: Und dann hören wir eine weibliche Stimme. #01:23:49-5#

Publikumsfrage: Ja, endlich mal eine Frau. Erst mal vielen herzlichen Dank, dass Sie da sind. Ich bin gebürtige Potsdamerin, war politisch inhaftiert in der DDR, bin Gott sei Dank freigekauft worden anfang der 80er Jahre, bin ich jetzt als Zeitzeugin unterwegs, um darüber zu berichten. Meine Familie lebt überwiegend in Ostdeutschland und ich, mich würde interessieren Ihre Gedanken zum Thema Rechtsextremismus. Ich habe auch Kontakt zu ehemaligen Klassenkamerad*innen. Da sind Reichsbürger, da sind Leute, die mit Pegida mitgelaufen sind, die AfD wählen, meine eigene Halbschwester wählt AfD, der es übrigens gut geht. Ich habe genau dieselbe Frage gestellt wie sie, "Was tun dir denn die bösen Migrant*innen? Nehmen dir dieses und jenes weg?", nö. Was sind ihre Gedanken oder oder welche Erklärung haben Sie, warum der Rechtsextremismus in Ostdeutschland doch ein bisschen höher ist als in Westdeutschland? Warum verfängt das alles so? Hat es damit zu tun, dass man das nicht gewohnt war, in Ostdeutschland mit Migrant*innen umzugehen? Ich habe keine gesehen. Ich war 19, als ich das Land verlassen habe. Hat es damit zu tun oder was sind Ihre Gedanken dazu? #01:24:57-2#

Ilko-Sascha Kowalczuk: Das ist natürlich ein extrem wichtiges Thema und ein zentrales Thema. Ich kann, Herr Quent wäre sozusagen jemand, der noch viel berufener wäre, also die Bundeswahlleiterin die hat nach den Bundestagswahlen jetzt, glaube ich schon am Dienstag eine Grafik veröffentlicht und hat eine Korrelation hergestellt. Dort, wo besonders stark AfD gewählt wurde in Ostdeutschland, das ist jetzt in Essen oder so natürlich eine etwas andere Situation, gibt es besonders wenige ausländische Menschen. Und das ist, das ist für mich deshalb interessant, weil ich vertrete seit einem Jahr ungefähr, na noch länger, die, ja, ne, also seit anderthalb Jahren, das war, begann auf so einem Taz-Kongress, dass ich sage, was natürlich vielen nicht nicht gefällt. Wer Faschisten wählt, ist ein Faschist. Und das gefällt natürlich vielen nicht. Auch vielen meiner Freunde ist das viel zu radikal. Und ich sage, na ja, wissst ihr liebe Leute, das kann sein, aber ich nehme jeden einzelnen Bürger und jede einzelne Bürgerin ernst. Und wer wählt, macht Gebrauch von einem von einem sozusagen ganz wichtigen demokratischen Grundrecht. Und den nehme ich ernst. Den lasse ich nicht davonkommen, das habe ich nicht gewusst. Man kann das sehr genau wissen, was die AfD sagt, was sie programmatisch vorhat und was sie im Schilde führt. Das ist kein Hexenwerk. In diesem Buch geht es sehr ausführlich auch um die AfD und ich zeige, versuche sehr genau zu zeigen, warum das eine faschistische Partei ist und nicht in Teilen rechtsextremistisch. Ich verstehe diese Formulierung, das hat juristische Folgen usw.. Für mich ist das eine faschistische Partei, in der es vermutlich auch einzelne Mitglieder gibt, die keine Faschisten sind. Und die wird überwiegend von Faschisten gewählt. Und natürlich sind nicht wirklich alle Faschisten, aber diese völkische Grundideologie, die diese Partei teilt, dieses sozusagen, diese Konzentration auf einen Punkt, auf einen Feind und das ist der und die sogenannte Ausländerin, das sind sozusagen alles faschistische Narrative. Ich kann nur jedem empfehlen, mal so ein Essay von Umberto Eco zu lesen, das sind wirklich nur so 40 Seiten oder so, was ist Faschismus. Der sozusagen, der leitet das wunderbar her und da gibt es auch gar keine Fragen mehr anschließend. Faschismus ist ein generelles Problem in Europa, so wie Rassismus ein generelles Problem in Europa ist. Leider werden diese Begriffe oft gemieden. Ich zum Beispiel meide den Begriff Ausländerfeindlichkeit. Die Menschen sind nicht ausländerfeindlich, weil die jagen keinen weißen Finnen und keinen weißen Engländer und keinen weißen Franzosen. Sondern die haben rassistische... [?]... über Rassismus gesprochen und zwar, dass Rassismus nicht nur die Sache der anderen ist, sondern es ist auch meine Sache, weil ich bin rassistisch sozialisiert worden, so wie Sie alle. Wir können gar nichts dafür. Man muss sich aber seinen Rucksack, seinen Sozialisationsrucksack bewusst machen. So wie ich auch sage, wer im Osten sozialisiert wurde, hat eben die kommunistische Ideologie in seinem Rucksack, egal, ob er es wollte oder nicht, ob sie es wollte oder nicht. Weil alle durch die Schulen gegangen sind, alle die Medien konsumiert haben, egal wo. Das bleibt natürlich hängen und das kann ich nur überwinden, indem ich mich damit aktiv auseinandersetze. Und das gilt natürlich auch für rassistische Grundannahmen. Und wir sind eben auch als weiße Deutsche von dem Rassismus sozusagen insofern betroffen, als dass wir die Privilegien des Rassismus genießen, die die, die sozusagen die Opfer des Rassismus eben gerade nicht haben. Und wenn Sie jetzt sozusagen zurückfragen der spezifische Raum Ostdeutschland Es gibt ein paar Dinge, die da vielleicht anders sind als im Westen. Das erste ist, also ganz autobiografisch, ich habe ja die 80er Jahre sehr bewusst erlebt als Jugendlicher und junger Erwachsener in Ostberlin und an jeder Ecke schaute mich der Neofaschismus an, das war nichts, was versteckt wurde, aber der Staat hat es versteckt, weil der Staat sagte Faschismus, Antisemitismus, Nationalismus, das sind alles Erscheinungsformen, die unmittelbar strukturell an den Kapitalismus gebunden sind. Und da wir den Kapitalismus überwunden haben, gibt es das auch bei uns nicht mehr. So einfach war die Welt. Und das hat man auch so gelehrt bekommen. Also es gab, das, ein, ein, ein Historiker, Kollege von mir, der hat das mal sozusagen zugespitzt und hat gesagt, in der DDR ist Hitler zum Westdeutschen geworden. Und da steckt sozusagen ganz viel dahinter, was da dran ist. Also es gab im Osten keine Auseinandersetzung dazu jenseits der Narrative, die die Staatsoffiziellen waren. Und das, was die bundesdeutsche Gesellschaft so [?] machte, war ja, dass sich ab Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre im Umfeld bestimmter Ereignisse, Auschwitzprozesse und andere Dinge, die Synagogenüberfälle 1959 usw., aber dann vor allem die Auschwitzprozesse und was dann so kommt, auch 1968, dass sich eine lebendige Zivilgesellschaft entwickelte, die eigene Narrative entwickelte, die auch den Staat, die repräsentative Demokratie, herausforderte. Und es kam zu einem ganz lebendigen, kontroversen, kontroversen Diskussionen, die nicht immer fein waren, die auch nicht immer sehr geschmackvoll waren. Aber es gab eben dann auch immer Widerspruch, was dazu führte, dass wenn zum Beispiel irgendwo faschistische Überfälle waren, antisemitische Überfälle, rassistische Überfälle das irgendwie auch immer klar war. Das kommt von den Rändern der Gesellschaft, weil die Mitte der Gesellschaft sofort aufstand in Münster oder wo auch immer und sich und dagegen protestierte. Das gab es bis 1989 in der DDR nicht. Und das Fatale, was im Osten bis heute der Fall ist, es gibt auch bis heute keine lebendige Zivilgesellschaft. Und das ist ein Riesenproblem. Und da könnte ich jetzt sozusagen noch mal neu ansetzen, warum es ein Riesenproblem ist, dass es diese lebendige Zivilgesellschaft nicht gibt. Das liegt übrigens auch an der Ungleichverteilung von Erben. 2 % von allem, was jedes Jahr vererbt wird, bleibt im Osten, 98 % im Westen. Mir ist klar, dass nicht sie alle die großen Erben sind, dass auch im Westen das ungleich verteilt wird, aber es gibt überschüssiges Kapital, womit man Stiftungen gründen kann für gemeinnützige Arbeit, für politische Arbeit. Und dieses überflüssige Kapital gibt es im Osten nicht. Deswegen gibt es auch keine Stiftung. Es gibt sozusagen auch die Kirchen als starke Säulen der Zivilgesellschaft gab es im Osten nicht. Das ändert sich jetzt alles so ein bisschen, aber das ist alles noch nicht so da. Und übrigens, um das auch mal zu sagen, das sage ich vor allen Dingen in Ostdeutschland, aber jetzt sage ich es hier auch. Es sind ja nicht nur 5 Millionen Menschen aus dem Osten seit 1990 abgewandert, was ein Riesenproblem ist, weil es einen starken Männerüberschuss gibt, weil sozusagen die Gesellschaft veraltet ist in einem Maße wie sonst nirgends in Europa. Übrigens auch Der Männerüberschuss kennt kein Pendant in Europa. Ein starker Männerüberschuss wiederum heißt, dass sich die Gesellschaft sehr viel anders radikalisiert. Also auch da gibt es die Zusammenhänge und diese, aber diese 5 Millionen Menschen, die da weggezogen sind, überwiegend junge, engagierte, mobile Frauen übrigens, also jedenfalls deutlich mehr. Und das kam aber 2 Millionen Menschen aus dem Westen in den Osten. Und um das mal ganz klar zu sagen, das es heute auch in Ansätzen wieder eine lebendige Zivilgesellschaft im Osten gibt ist auch diesen 2 Millionen Zuwander*innen nach Ostdeutschland zu verdanken. Dass die Wahlergebnisse jetzt so aussehen, wie sie aussehen, ist auch diesen 2 Millionen zugewanderten Westdeutschen zu verdanken, weil da muss man kein großer politischer Kopf sein, die wenigsten von denen haben BSW, Linkspartei oder AfD gewählt. Ja, also auch das ist sozusagen eine Stärkung des demokratischen Potenzial, worüber überhaupt nicht öffentlich geredet wird, weil es nicht schick ist, irgendwie die Wessis überhaupt mal für irgendwas zu loben und schon gar nicht im Osten. Ja, also und, und insofern diese, und das, was dann eben in den 1990er Jahren passierte in Ostdeutschland, die, vielleicht haben Sie das schon mal gehört, die Baseballschläger Jahre genannt werden, weil sozusagen der alltägliche Terror auf den Straßen durch Nazis in national befreiten Zonen überall, landauf, landab die Realität war. Das war nicht einfach nur irgendein Rumgerede. Und jeder, jeder, gerade Leute in meinem Alter könnten Geschichten erzählen mit wirklich schlimmen, brutalen körperlichen Übergriffen durch, durch Nazis und, und Jungfaschisten. Und das Problem war, erinnern Sie sich mal an Rostock-Lichtenhagen. Das gab es ja auch so was ähnliches im Westen, Mölln. Aber was es nicht gab, dass tausende Menschen dort stehen, aus der Mitte der Gesellschaft und Beifall klatschen. Das ist nämlich der Unterschied gewesen, dass dieser Rassismus, dieser Faschismus aus der Mitte der Gesellschaft kam und es gab keinen Widerspruch. Und das ist sozusagen der, ja, das ist der grundlegende Unterschied zwischen Ost und West. Und das ist der Unterschied auch heute noch, dass das, sozusagen das, was an menschenfeindlichen Ideologien, an Anhängerschaften an Kreml, usw. und so fort keine Randerscheinungen sind, sondern aus der Mitte der Gesellschaft kommen, was aber eben leider eben auch zunehmend in den westlichen Bundesländern passiert, wie man eben auch jetzt an den Bundestagswahlen wieder sehen konnte. #01:35:15-1#

Dr. Moritz Florin: Ja, vielen herzlichen Dank. #01:35:18-3#

Ilko-Sascha Kowalczuk: Dankeschön. #01:35:18-3#

Dieses Projekt/Diese Maßnahme/Initiative leistet einen wichtigen Beitrag, Nürnberg schrittweise inklusiver zu gestalten. Es/Sie ist Teil des Nürnberger Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Den Ersten Aktionsplan hat der Nürnberger Stadtrat im Dezember 2021 einstimmig beschlossen. Um die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit und ohne Behinderung in Nürnberg zu verwirklichen, wurden und werden umfangreiche Maßnahmen entwickelt und umgesetzt. Weitere Informationen finden Sie unter www.inklusion.nuernberg.de.

Live Aufnahme des Gesprächs mit Autor des Buches „Freiheitsschock: Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute“

Über Ostdeutschland wird immer wieder intensiv diskutiert, und Ilko-Sascha Kowalczuk ist eine der markantesten Stimmen dieser Debatte. Der Kampf um die Freiheit ist sein Lebensthema. Selbst in der SED-Diktatur groß geworden, hat er Standardwerke zur Geschichte der DDR und des Kommunismus vorgelegt, aber auch zur Revolution von 1989 und den Folgen der «Übernahme» der DDR durch die Bundesrepublik. Kowalczuk will die Ostdeutschen aus ihrer Opferrolle herausholen. Der Westen mag sich seinen Osten «erfunden» haben. Doch auch der Osten erfand und erfindet sich seinen Westen. In der DDR war der Westen für viele ein Sehnsuchtsort, doch auch die antiwestliche Propaganda der SED hatte weit zurückreichende Wurzeln. Sie wurden durch die Frustrationen des Vereinigungsprozesses verstärkt. Und sie hindern jetzt viele Ostdeutsche daran, sich die liberale Demokratie der Bundesrepublik zu eigen zu machen.

Ilko-Sascha Kowalczuk erzählt die Geschichte Ostdeutschlands seit 1990 als Kampf um die Freiheit – ein Kampf, dessen Ausgang richtungsweisend ist für die Zukunft ganz Deutschlands.

Moderation: Prof. Dr. Moritz Florin wurde an der Universität Hamburg promoviert und an der FAU Erlangen-Nürnberg habilitiert.

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Aufgenommen am: Donnerstag, den 27. Februar 2025
Veröffentlicht am: Donnerstag, den 22. Mai 2025
Moderation: Grazyna Wanat
Im Gespräch: Ilko-Sascha Kowalczuk

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