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Daniel Schreiber, wie über etwas sprechen, über das man nicht sprechen kann?

Grazyna Wanat: Hallo. Herzlich willkommen zurück nach der Sommerpause! Das Gespräch, das Sie gleich hören werden, hat stattgefunden zur Eröffnung des Literaturfestivals Texttage Nürnberg Anfang Juli 2022 unter dem blauen Himmel auf der Open Air Bühne der Katharinenruine. Unser Gast Daniel Schreiber schreibt literarische Essays, die sowohl von der Kritik als auch von der Leserschaft sehr positiv und herzlich aufgenommen werden. Er spricht nämlich über Themen, die teilweise tabuisiert werden und macht das in einer sehr persönlichen und doch universellen Form. Seine Bücher haben die Titel: "Nüchtern" 2014, "Zuhause" 2017 und zuletzt "Allein" 2021. Moderiert hat das Gespräch, an dem das Publikum sehr aktiv teilgenommen hat, Tobias Wildner. Viel Spaß! #00:01:27-6#

Tobias Wildner: Wir hatten eigentlich bestellt, dass die Sonne weggeht, bis wir lesen. Irgendwie hat es nicht so ganz geklappt. Aber wir haben ja noch ein paar Momente. Ich glaub, wenn sie weg ist, wenn wir fertig sind, ist auch in Ordnung, oder? #00:01:41-9#

Daniel Schreiber: Das ist auch in Ordnung. Genau, es ist eine ganz schöne Perspektive auf Sie. Danke für Ihr zahlreiches Kommen und auch auf dieses irre Gebäude. Ich bin ganz entzückt davon. #00:01:56-1#

Tobias Wildner: Ja, wunderschönen guten Abend auch von unserer Seite hier oben noch mal. Nachdem wir jetzt so viel über die Texttage gehört haben, wie das ganze funktioniert und so neugierig gemacht wurden, würde ich sagen, wir fangen einfach mal an damit, mit der ganzen Sache, und eröffnen diese Texttage 2022. Wir fangen damit auch an, uns dem Schreiben zu nähern, über das Schreiben nachzudenken, uns vom Schreiben erzählen zu lassen und das machen wir heute gemeinsam mit einem Autor, auf den ich mich wirklich persönlich auch sehr gefreut habe, weil ich finde, seine Bücher sind so lesenswert, weil sie uns was zu sagen haben. Ganz herzlich willkommen auch noch mal hier bei uns in Nürnberg, Daniel Schreiber. Ja, Daniel, es ist wirklich super toll, dass du diesen Abend gemeinsam mit uns machst und ich vermute, dass hier im Publikum noch ein paar Menschen sitzen, die noch gespannter sind als die anderen, weil sie nämlich morgen und übermorgen eben einen Schreibworkshop mit dir machen werden. Ich schätze mal, dass da ein paar da sind. Und deswegen, du bist ja kein Autor, der aus diesen Schreibschulen in Leipzig und Hildesheim kommt, wie es oft mittlerweile der Fall ist. Das prägt ja den Literaturmarkt auch sehr stark mittlerweile. Und in diesen Schreibschulen wird ja auch so eine Art der Vermittlung im Prinzip praktiziert. Deswegen würde mich interessieren: Wie ist dein Blick auf so einen Schreib Workshop? Was ist das für dich überhaupt irgendwie? Was ist so deine Idee damit? Ist das eher Handwerkszeug, was man vermittelt? Ist das der Austausch von Ideen, was die Leute dann morgen übermorgen erwartet? #00:03:31-4#

Daniel Schreiber: Das ist eine gute Frage, weil ich habe erst einen Schreibworkshop gegeben bisher und morgen, übermorgen wird es der zweite sein. Also, falls die zwölf Leute unter Ihnen sind, erwarten Sie nicht zu viel! Und ich würde den den Workshop gerne nutzen, um über das Essay-Schreiben zu sprechen und darüber, wie man persönliche Geschichten erzählen kann, ohne, dass sie zu privat sind, ohne dass sie vergessen, dass wir in einer größeren Welt leben, in einer Gesellschaft, in der es ja drängende Probleme gibt. Und ich bin sehr froh, dass in den vergangenen Jahren auch in Deutschland diese Form des persönlichen Erzählens oder des persönlichen Essays auch so eine Renaissance erlebt hat. Denn lange war das ein Phänomen, was es in Amerika gab, was es in Frankreich gab, aber in Deutschland eben nicht. Und ja, ich glaube, inzwischen ist das Interesse so groß und die zwölf Leute morgen werden das mitmachen müssen. #00:04:42-6#

Tobias Wildner: Die hängen da jetzt drin, haben sich angemeldet. Daniel Schreiber kommt so von früher her, von der allgemeinen vergleichenden Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft, Performance Studies hast du studiert und warst dann aber erst mal im Ausland, hast sechs Jahre in New York verbracht, was ja schon eine lange Zeit ist und wenn man so deine Bücher liest, dann merkt man, das ist schon auch eine sehr prägende Zeit, und ich vermute, auch für das eigene Schreiben ein wichtiger Moment gewesen. Was verbindest du mit New York heute noch? Was bedeutet das für dich, diese Stadt? #00:05:14-4#

Daniel Schreiber: Ich habe immer noch Freundinnen und freunde dort natürlich und tatsächlich war das eine sehr wichtige Zeit für mich vom vom Schreiben her, weil ich wollte eigentlich an der Uni bleiben nach dem Studium und hab dann aber in New York festgestellt, dass das doch nichts für mich ist und hab angefangen, dort zu schreiben. Zunächst für verschiedene Zeitschriften und Zeitungen, also für deutsche Zeitschriften und Zeitungen und dann auch in einem Buch über mein erstes Buch, eine Biografie über Susan Sontag, die amerikanische Intellektuelle. Und sowohl in dieser biografischen Arbeit über Sontag, als auch überhaupt in diesem praktischen Schreiben lernen, war das eine total prägende Zeit. Und ich lese bis heute wahnsinnig gerne amerikanische Literatur und es fühlt sich für mich immer so ein bisschen wie so ein nach Hause kommen an. Und zum Beispiel sind die Bücher, die ich schreibe, auch ohne Autor/innen wie Joan Didion gar nicht vorstellbar. Didion ist für mich eine, also wahrscheinlich die wichtigste Autorin überhaupt. Ich habe alle ihre Bücher gelesen, viele davon mehrmals, und ich glaube, sie hat mein Schreiben auf eine Weise beeinflusst, wie es andere Autor/innen nicht gemacht haben und nicht konnten. #00:06:37-7#

Tobias Wildner: Und wie hast du dann zu der Form des literarischen Essays gefunden? War das auch in der Zeit schon? #00:06:43-8#

Daniel Schreiber: Nee, also, da habe ich so erste Schritte gemacht. Also ich habe zum Beispiel, als ich nach Berlin zurück gezogen bin, ein Essay darüber geschrieben, wie es ist, New York zu verlassen, für eine deutsche Zeitung. Und da habe ich zum ersten Mal für mich so ein persönliches Erzählen ausprobiert in der Verbindung mit größeren Themen, was damals halt - ich bin 2008 nach Berlin zurückgezogen, das war während der Finanzkrise und die ganze Stadt hat sich komplett verändert, wie natürlich auch die ganze Welt. Und in vieler Hinsicht sind viele der Probleme, die wir heute erleben, auch noch Folgen dieser Krise, die wir mehr oder weniger vergessen haben, weil so viele Krisen noch danach kamen. Aber ich habe erst wirklich angefangen, Essay-Bücher zu schreiben, also diese Essays, die ein Buch bilden, als ich über meinen Alkoholkonsum, über mein Nüchternwerden geschrieben habe für "Nüchtern". Und da habe ich gemerkt, dass ich mit so vielen Vorurteilen konfrontiert bin, dass ich mit so vielen Ideen zu kämpfen habe, die sich in der Kultur festgesetzt haben, die aber falsch sind und die sich trotzdem nicht wirklich berichtigen lassen, dass ich gesehen habe, ich kann über dieses Thema nicht auf eine professorale Art und Weise schreiben. Also, ich kann Leute nicht erzählen, so und so ist es und was sie denken, ist falsch und das ist jetzt die Wahrheit, die sie glauben müssen, sondern ich musste versuchen, die Lesenden auf eine andere Art und Weise zu erreichen. Und zwar einen Erfahrungsraum zu schaffen und die Lesenden dazu zu bringen, sich beim Lesen tatsächlich selbst zu fragen: Wie ist es bei mir? So im Falle von "Nüchtern": Welche Rolle spielt Alkohol in meinem Leben? Gibt es Momente, in denen ich vielleicht glaube, dass er eine zu große Rolle spielt? Momente, die ich nicht wahrhaben möchte? Wie ist es mit meinen Angehörigen? Stimmen diese ganzen Sachen, die ich über Abhängigkeit glaube, überhaupt? Und um das zu erreichen, habe ich den Eindruck gehabt, ich muss Menschen und die Lesenden auf einer persönlichen Ebene erreichen und hab dann genau diese Form, die literarische Form entwickelt, in der ich eben mein Persönliches Erzählen und ein sehr ehrliches Persönliches Erzählen mit philosophischen und psychoanalytischen Kulturgeschichtlichen, im Falle von "Nüchtern" auch medizinischen, Überlegungen verbinde. #00:09:43-0#

Tobias Wildner: Das ist eines der Dinge, was mich unglaublich fasziniert an diesen Büchern. Man hat diese zwei Komponenten. Das radikal Persönliche und das, was du gerade beschrieben hast, diese Recherche auf wissenschaftlicher Basis und beides unglaublich profund. Und es verbindet sich miteinander. Und diese Form "Nüchtern" war, glaube ich, 2014. Dann hast du diese Form weitergeführt. 2017 mit "Zuhause", wo es darum ging, über dein Aufwachsen in der mecklenburgisch-vorpommerschen Provinz und die Geschichte eines jungen schwulen Mannes, der dann alles, was sich daraus ergibt. Und dann natürlich jetzt letztes Jahr, dieses wunderbare Buch mit dem Titel "Allein", wo du erkundest, wie ein Leben aussieht ohne feste Partnerschaft. Und ich muss diese Zahlen noch mal sagen, auch wenn sie überall immer wieder gesagt wird: In Deutschland sind es tatsächlich 40 Prozent aller Haushalte, die Singlehaushalte sind. Also wenn Sie jetzt aus einem Singlehaushalt kommen und rechts und links gucken, dann sind Sie mit Ihrem Alleinsein nicht allein, sozusagen. Und dieses Buch, du hast mal gesagt, es gibt keine kulturelle Erzählung für die Menschen, die alleine leben. Und du versuchst mit dem Buch auch auszuloten, wie so eine Erzählung ausschauen kann, wie ein gutes, erfülltes Leben allein aussehen kann. Und um dieses Buch wird es natürlich jetzt auch heute Abend viel gehen. Aber die Texttage wären natürlich nicht die Texttage, wenn wir nur eine schnöde Lesung machen würden. So leicht kommt uns hier keiner davon. Sondern wir bitten alle Autorinnen und Autoren immer, dass sie ein paar Gedanken zu einem Thema ihrer Wahl mitbringen. Und Grazyna Wanat hat vorhin schon dieses Thema kurz erwähnt. Die Unsicherheit, in der wir leben, Schreiben über etwas, was man nicht schreiben kann, nicht schreiben will. Und das ist natürlich ein Thema, das aktueller ist denn je. Und gerade deshalb freuen wir uns jetzt auf das, was du uns mitgebracht hast und was du uns mitgeben möchtest. Und ich darf Ihnen schon mal verraten, die zweite Lesestelle kommt nur, wenn Sie auch eine Frage nach der ersten Stelle. #00:11:47-8#

Daniel Schreiber: Es ist vollkommen ernst gemeint. Lachen Sie nicht! Überlegen Sie sich jetzt schon eine Frage am besten. #00:11:56-1#

Tobias Wildner: Also Frage von Ihnen, nicht von mir. #00:11:58-5#

Daniel Schreiber: Ja, vielen Dank für die nette Einführung, das nette Gespräch. Und ja, ich fang dann einfach mal an. Weil tatsächlich musste ich in den vergangenen Jahren viel über dieses Thema der Unsicherheit nachdenken. Dieses Nachdenken begleitet mich schon seit ungefähr 2014, 2015, als ich zum ersten Mal wirklich eine Angst erfahren habe, wie es weitergeht mit der Welt, mit Europa. Für mich hat die Krimkrise oder die Eroberung der Krim durch Russland viel ausgelöst. In der Zeit ist die AfD groß geworden. Der politische Diskurs in Deutschland hat sich verändert. Ich hatte das Gefühl, dass eine gesellschaftliche Mitte in diesem Land immer mehr wegbricht, dass bestimmte gesellschaftliche Diskurse, die viele Jahre sehr selbstverständlich funktioniert haben, nicht mehr funktionieren. Und in den vergangenen Jahren sind natürlich - und ich habe es eben schon erwähnt - so viel mehr Krisen hinzugekommen, sodass heute häufig der Eindruck entsteht, wir leben in der Zeit, die vor allem von Krisen strukturiert ist. Und ich glaube, es ist ein richtiger Eindruck. Und ich glaube, dass damit etwas einhergeht, was wir alle lernen müssen. Also ich persönlich bin nicht vorbereitet gewesen darauf, wie man mit diesen Krisen umgeht. Und ich glaube, vielen Menschen geht es ähnlich. Und ich glaube das das tatsächlich etwas ist, was wir häufig neu erlernen müssen. Und ich habe zwei Teststellen vorbereitet, in denen es unter anderem um diese Unsicherheit geht. Und ich muss dazu auch sagen, dass diese Unsicherheit, die unsere Existenz immer mehr bestimmt, auch der Rahmen von "Allein" ist und den Rahmen für die anderen Reflexionen bildet. Über das Alleinleben, über Beziehungsmodelle, über die Hierarchisierung von Beziehungsmodellen. Und genau, zwischendrin müssen Sie mir fragen stellen, wie Sie eben schon gehört haben. #00:14:39-5#

Daniel Schreiber: Wir saßen auf wackligen Klappstühlen hinter dem Haus, tranken Kaffee, genossen die letzten warmen Strahlen der Spätsommersonne und schauten auf das verwilderte Grundstück, das einmal ein großer Schrebergarten gewesen war. Silvia und Heiko hatten sich dieses Haus in der Nähe des Liebnitzsees im Berliner Umland gebaut. Es hatte einige Jahre gedauert, bis es fertig geworden war. Doch nun waren sie und ihre kleine Tochter Lilith eingezogen und hatten ihrem Leben in Berlin endgültig den Rücken gekehrt. Ich hatte dem Umzug mit gemischten Gefühlen entgegengesehen. Ich war mir nicht sicher, was die neue räumliche Entfernung für mein soziales Leben und vor allem für die Freundschaft bedeuten würde, die Silvi und mich seit langem verband. Seit Jahren schon hatte sich niemand mehr um diesen Garten gekümmert. Vor uns lag ein struppiges Feld aus Trockengräsern, Meldepflanzen und Brennesseln, umgeben von dicht aneinander gedrängten meterhohen Thujen. In der Mitte ragten drei große Kiefern in den Himmel, zwischendrin ein paar dürre Kirschlorbeer- und Rhododendronbüsche mit sperrigen Ästen und spärlichen Blättern. Nur einige überraschend trockenresistente, purpurne Kronenlichtnelken, etwas rosa Storchschnabel und orangegelb leuchtende Sonnenaugenpflanzen konnten sich noch behaupten. Kurz entschlossen fragte ich Silvia, ob ich dabei helfen dürfe, den Garten neu zu gestalten. Ich kann nicht mehr genau sagen, warum sich das richtig anfühlte. Hatte damit zu tun, dass ich mir von der Tätigkeit in der Natur, der Arbeit mit den Pflanzen, so etwas wie Erdung erhoffte. Vielleicht hatte ein Teil von mir den Eindruck, dass der desaströse Zustand des Gartens dem meines Lebens glich. Disaströs trotz aller Momente der Schönheit. In den vorangegangenen Monaten hatte sich in mir immer mehr das Gefühl verfestigt, dass ich etwas falsch gemacht hatte, dass ich in jungen Jahren einem verträumten Missverständnis erlegen war, was das Erwachsenenleben betraf und dass ich die Auswirkungen dieses Missverständnisses erst jetzt wirklich zeigten. Ich habe nie die bewusste Entscheidung getroffen, alleine zu leben. Im Gegenteil. Ich bin die längste Zeit davon ausgegangen, dass ich mit jemanden mein Leben teilen und zusammen alt werden würde. Ich habe früher eigentlich immer Beziehungen geführt. Kürzere, längere und sehr viel längere. Oft gingen sie ineinander über. Mit zweien meiner Partner habe ich zusammengewohnt und mit einem über Jahre hinweg eine gemeinsame Zukunft geplant. Die Wochen, in denen ich in jener Lebensphase allein war, fühlten sich oft wie eine Ewigkeit an. Eine Ewigkeit, die ich mit Affären und One-Night-Stands füllte, mit romantischen Obsessionen, an die ich bis heute nur noch unwillig zurückdenke. Doch irgendwann war all das vorbei. Erst vergingen Monate, dann Jahre, in denen ich keine Beziehungen führte und in denen schließlich auch die Affären seltener wurden. Hatte ich lange Zeit nicht allein sein können, schien ich das Alleinsein jetzt zu suchen. Wenn ich mit meinen Freundinnen und Freunden darüber sprach, erklärte ich, es liege daran, dass ich früher einfach jünger, unvoreingenommener und risikofreudiger gewesen sei. Manchmal sagte ich, dass sich die Schule Welt des Liebens und Begehrens durch eine gewisse Gnadenlosigkeit auszeichne, die ab einem bestimmten Alter dafür sorge, dass man unsichtbar bleibe. Im Stillen fragte ich mich, ob ich psychisch nicht zu vorbelastet war, um wieder eine Beziehung zu führen, ob ich dafür überhaupt Platz in meinem Leben hatte, einem Leben, in dem ich viel arbeiten musste, um mich über Wasser zu halten und viel Zeit für das Schreiben brauchte, mein eigentliches Projekt. All das stimmte und ließ als Erklärung doch zu wünschen übrig. Denn an manchen Tagen glaubte ich zu ahnen, dass ich auch allein lebte, weil mir so etwas wie eine essentielle Zuversicht fehlte. Ich hatte ganz grundsätzlich nicht den Eindruck, dass vor mir eine gute, eine vielversprechende Zukunft liege. Eine Zukunft, die es sich zu teilen lohnte. Diese Hilflosigkeit betraf bei weitem nicht nur mein privates Leben. Die Folgen unüberbrückbarer wirtschaftlicher Ungleichheit, der wachsende Einfluss autokratischer Regime, der mit hoher Sicherheit nicht mehr aufhaltbare Klimawandel. Der Menschheit schien der Wille abhanden gekommen sein zu sein, der Katastrophe, die sie erwartete, etwas entgegenzusetzen. Stattdessen gab sie sich ihr mit einem seltsam genussvollen Fatalismus hin. Jeder dürre Sommer, jeder tropische Wirbelsturm, der ganze Landstriche und Inselstaaten zerstörte, jede Prognose über Hungersnöte, Fluchtbewegungen und in der Folge zusammenbrechende politische Systeme, jede Nachricht über die Untätigkeit der Regierungen der Welt machte mich noch hoffnungsloser. Immer wenn ich von den überraschenden Erfolgen politische Desinformationskampagnen las, von Warnungen vor Cyber- und Bioterrorismus, von neuen Viren und globalen Epidemien, die uns unvorbereitet treffen würden, verstärkte sich dieses Gefühl der Ausweglosigkeit. Vielleicht ließ sich das, was ich empfand, am besten als eine Moral Injury beschreiben. Der Begriff stammt aus Studien über posttraumatische Störungen von Kriegsreporterinnen und -reportern und beschreibt eine Verletzung des inneren Realitätsverständnisses, die entsteht, wenn man grauenhafte Ereignisse miterleben muss, aber nicht eingreifen kann. Auch, wenn unser Leben natürlich nicht mit dem jener Menschen vergleichbar ist, die aus Kriegen berichten, zeichnet es sich durch ein ähnliches Dilemma aus. Wir verfolgen das Grauen, das in der Welt geschieht und sind dabei weitgehend zu Tatenlosigkeit verdammt. Lange schon erschien es mir kaum möglich, das nicht als einen schmerzhaften Angriff auf meinen moralischen Kompass zu erfahren, auf mein Verständnis von mir und der Welt. Ich liebe Gärten. Schon als kleines Kind habe ich meine Mutter, eine passionierte Gärtnerin, nach Pflanzennamen gefragt und selbstvergessen zwischen großen Obstbäumen und fedrigen Spargelpflanzen gespielt. Seit vielen Jahren fahre ich regelmäßig nach Bornim bei Potsdam, um mir den wunderschönen Garten des Staudenzüchters Karl Förster anzuschauen. In Versaille kann ich stundenlang durch Jean-Baptiste de La Quintinies Potager de voir spazieren. Sissinghurst Castle, der Landsitz und weitschweifige, nach Farbfamilien aufgeteilte Garten von Vita Sackville-West raubt mir immer wieder den Atem. In den vergangenen Jahren hatte mich vor allem die Arbeit des niederländischen Gartendesigners Piet Oudolf fasziniert. Seine Gärten sind von einer wilden Schönheit. Sie gleichen rhythmischen Meeren aus Pierispflanzen, heimischen Stauden und Gräsern, in denen immer etwas blüht und die aufgrund der aparten Formen einiger Pflanzen selbst im Winter einladend wirken. Oudolfs Gärten sprachen mich auf meine Weise an, die schwer in Worte zu fassen war. Sie stillten nicht nur mein Bedürfnis nach Rückzug, sie gaben mir auch das Gefühl, dass man den Widrigkeiten unserer Gegenwart etwas entgegensetzen konnte. Sie zeigten eine Möglichkeit auf, die Welt im Kleinen etwas schöner zu machen und wenigstens auf einer Parzelle Land die Grundlagen für eine bessere Zukunft zu legen. Die Möglichkeit, mit und in der Welt zu leben, mit der wir hadern. Angeregt von Oudolf und seiner Gartenphilosophie schlug ich Silvia und Heiko vor, das Grundstück um ihr Haus großflächig umzugestalten. #00:22:57-0#

Daniel Schreiber: Ja, das war die erste Stelle. Und jetzt sind Sie dran. Ich hoffe, Sie haben sich alle eine Frage überlegt. #00:23:21-7#

Publikumsfrage: Sind Sie noch befreundet? #00:23:24-3#

Daniel Schreiber: Ja, sehr eng sogar. Warum? Warum fragen sie? #00:23:29-0#

Publikumsfrage: Naja, das hätte ja auch durchaus - es kann die Freundschaft vertiefen, aber sie könnte sie auch auseinanderreißen, denke ich. #00:23:40-4#

Daniel Schreiber: In dem Kapitel schreibe ich dann weiter über die Freundschaft, die ich und Silvia haben. Ich kenne Silvia, seit ich zwölf bin. Und wir haben schon sehr viele Höhen und Tiefen durch. Und ja, und der Garten und die Gartengestaltung hat nichts an unserer Freundschaft verändert, tatsächlich. Es war ein wirklich sehr schönes Projekt und ich fahre heute noch sehr gerne in den Garten, obwohl die beiden sich natürlich überhaupt nicht so gut darum kümmern, wie sie sich kümmern sollten, aber ja. #00:24:12-4#

Publikumsfrage: Wenn du von Moral Injury sprichst, dann ist das einfach etwas sehr Bedrückendes, was einen ja beim Schreiben dann auch einfach überkommen kann. Wie schaffst du das, dich da immer wieder rein zu begeben, aber nicht zu tief zu gehen, sodass du doch immer wieder rauskommst und doch immer noch irgendwie so, ja so eine mentale Gesundheit irgendwie aufrechterhälst? Sind es die Gärten? Oder hast du eine Strategie, irgendwie eine Resilienz? #00:24:45-5#

Daniel Schreiber: Ich finde das so eine gute Frage, weil es genau das Thema des heutigen Abends angeht. Und ich persönlich glaube nicht, dass man sich von diesen Themen nachhaltig ablenken kann. Das sind Themen, die immer wiederkommen, die auf eine Art und Weise in unser Leben wiederkehren, wenn wir sie wegdrücken. Das heißt, Dinge, die man verdrängt, kommen an anderen Stellen wieder hoch, zeigen sich in unseren Beziehungen, zeigen sich darin, wie wir uns und die Welt sehen. Und ich glaube fest daran, dass man sich mit diesen Dingen auseinandersetzen muss, dass man die Moral Injury aushalten muss, dass man verstehen muss, was man da durchmacht und verstehen muss, wo die eigenen Handlungsmöglichkeit liegen und wo nicht. Und ich glaube, das diese Zeit, in der wir leben, von den meisten von uns eine andere innere Arbeit verlangt. Eine innere Arbeit, die dazu führt, dass man genauer erfühlt, genauer durchdenkt, wo unser Platz in der Welt sein kann, wie wir dieses Leben führen können können und wie wir dieses Leben trotz allem auf eine gute Weise führen können. #00:26:14-9#

Publikumsfrage: Zu dem Titel, und zwar: Ich mach so die Erfahrung, dass ich vielleicht irgendwie alleine bin, aber irgendwie finde ich, Alleinsein ist gar nicht so ein richtiger Begriff. Weil ich habe so viele tolle Menschen, die irgendwie so da sind und es ist ein überhaupt nicht Alleinsein, es ist wie ein eigentlich Mit-mir-selbst-sein und Mit-anderen-Menschen-sein und ich finde so, dieses Alleinsein ist für mich schon so, spiegelt eigentlich schon wider in unserer Gesellschaft, was das für einen Wert hat. Also, wir sind zusammen, wenn da eine Partnerin oder ein Partner ist und allein, wenn wir das nicht sind. Und ich denke, das finde ich gar nicht. Und ja, da bin ich irgendwie neugierig, was so deine Gedanken waren. Wieso allein? Wieso dieser Titel? #00:27:00-8#

Daniel Schreiber: Wieso der Titel? Ich habe mir einen Titel nicht ausgesucht in dem Sinne, dass ich lange überlegt habe, sondern ich wusste irgendwann, dass das Buch so heißen muss. Und es war eine sehr intuitive Entscheidung. Man muss dazu sagen, dass allein unter anderem ein Buch über Freundschaft ist. Und dass eine der Mythen, mit denen ich in diesem Buch aufräumen möchte, tatsächlich dieses, dass, wenn man allein lebt, auch alleine ist. Häufig ist es so, dass allein lebende Menschen eine gewisse Intimitätsfähigkeit abgesprochen wird, dass ihnen eine Fähigkeit zu Nähe abgesprochen wird. Wir haben sehr viel über die Einsamkeitsepidemie gehört in den vergangenen Jahren, die es, wenn man psychologischen Umfragen traut, tatsächlich nicht gibt, aber die ein Medienphänomen geworden ist, eben weil es, wie wir gehört haben, sehr viel mehr alleinlebende Menschen gibt als früher und man automatisch annimmt, alleinlebende Menschen wären einsam. Und das ist eindeutig eine falsche Annahme. Weil, wenn man alleine lebt, man natürlich Freundinnen und Freunde hat. Wenn man natürlich sehr viel Nähe in seinem Leben erfährt, auf eine andere Art und Weise, wie es in einer Beziehung stattfindet. Wenn Sie das Buch lesen, wenn Sie sehen, also die Auseinandersetzung mit Freundschaft spielt eine so zentrale Rolle und es sollte eigentlich auch ein Buch über Freundschaft werden, ganz zum Anfang. Und ich habe dann aber beim Schreiben bei der Recherche festgestellt, dass es nicht ganz ehrlich wäre, nur über Freundschaft zu schreiben, weil ich damit praktisch eine Antwort schon im Vorhinein gebe, die für viele Menschen gar nicht automatisch da ist oder auf der Hand liegt und weil ich den Eindruck hatte, dass ich mich hinter dieser Freundschaftsfrage eher verstecke und dass ich mich eben genau damit auseinander setzen musste, mit dem ich mich nicht auseinandersetzen wollte. Und zwar mit der grundsätzlichen Frage: Kann ich alleine, ohne eine romantische Beziehung, ein gutes, ein erfülltes Leben führen? Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber für mich war das sehr lange eine offene Frage. #00:29:51-7#

Publikumsfrage: Noch eine Frage. Erst mal herzlichen Glückwunsch zu diesem Wahnsinnserfolg. Mich würde interessieren, Sie waren ja jetzt in ganz vielen Lesungen und Talkshows zu hören und zu sehen: Gab es denn für Sie im Diskurs mit anderen so Aha-Momente, wo Sie dachten, das geht jetzt eigentlich noch über das Buch hinaus? Es kamen noch mal neue Aspekte zum Alleinsein, die jetzt vielleicht im Buch nicht beleuchtet werden konnten, aber wo Sie dachten, in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen, die vielleicht alleine sind oder auch nicht allein, kamen nochmal neue Themen auf? #00:30:29-4#

Daniel Schreiber: Interessanterweise, also weniger in Interviews und Talkshows. Ich glaube, so funktionieren Interviews und Talkshows nicht, also, dass man da ein inspirierendes Gespräch für einen selbst hat. Ich weiß nicht, ich muss ganz vorsichtig sein, was ich sage. Aber mich haben viele Reaktionen von Lesenden extrem berührt. Und dabei sind natürlich viele Dinge beleuchtet worden, die ich nicht so gesehen habe. Unter anderem das Freundschaftsthema. Es gibt nämlich sehr viele Menschen, die alleine leben und auch nicht in der Lage sind, Freundschaften zu führen oder die Freundschaften als ein Feld erfahren, dass vor allem durch Konflikte strukturiert ist und nicht durch Nähe. Und das war etwas, was ich nicht so sehen konnte, weil ich es in meinem Leben eben völlig anders erfahre. Und eine andere Sache, die ich festgestellt habe in den Reaktionen auf das Buch, war, dass es extrem viele unterschiedliche Lesarten gibt und auch sehr viele unterschiedliche emotional gefärbte Reaktionen auf das Buch. Und ich musste lange überlegen, warum das so ist und warum das teilweise völlig divergente Lesarten sind, völlig divergente emotionale Reaktionen und hab dann für mich festgestellt, also ich wünsche mir, dass es so ist, dass ist die Grundidee hinter dem Buch. Und zwar die Lesenden selbst dazu anzuregen, sich diese Fragen zu stellen: Wie sieht es in meinem Leben aus? Funktioniert. Und dass viele der Reaktionen auf das Buch eigentlich Reaktionen auf die eigene innere Arbeit sind, die die Lesenden vielleicht oder hoffentlich machen, wenn sie das Buch lesen. Und das war auf der einen Seite eine sehr schöne Erfahrung, aber auch manchmal eine irritierende Erfahrung. Ich bin bin sehr stolz auf Sie und Nürnberg, dass das Fragen so gut funktioniert. Ich war neulich in Hamburg und da hat es ein bisschen länger gedauert. #00:33:19-9#

Publikumsfrage: Ich hätte auch eine Frage noch oder eine Anmerkung. Es geht ja auch darum, auch in dem Buch oder, wie ihr vorher vorhin gesagt habt, allein sein, das Alleinsein oder der Rückzug ins Alleinsein als Voraussetzung, auch um sich mit sich selbst auseinandersetzen zu können und um schreiben zu können, um arbeiten zu können. Also, ich habe in das Buch jetzt reingelesen erst, werde es mit Vergnügen hoffentlich dann weiterlesen oder ganz bestimmt. Ich habe ein anderes Buch gelesen, das auch oft so in den Medien abgeglichen wird mit Ihrem, das von Rüdiger Safranki "Einzeln sein", der übrigens kürzlich auch in Nürnberg war und aufgetreten ist, gelesen hat und der am Beispiel von großen Denkern, von Montesquieu bis Hannah Arendt oder Ernst Jünger auch, nachgewiesen hat, dass die sich immer wieder zurückgezogen haben in das Einzelnsein, um sich mit sich selbst beschäftigen zu können und um eben daraus dann ihre Erkenntnisse quasi zu ziehen. Geht es Ihnen ähnlich, dass Sie das Einzelnsein - insofern finde ich den Begriff einzeln sein sehr, sehr gut - benötigen, um auch angemessen arbeiten zu können und zu diesen Ergebnissen zu kommen? #00:34:42-1#

Tobias Wildner: Also, ich teile die Einschätzung über die Qualität des Begriffs des Einzelnsein nicht wirklich, weil wir natürlich alle einzeln sind und das eine grundsätzliche menschliche Erfahrung ist, die wir machen. Und in dem Sinne ist das vielleicht gar nicht so aussagekräftig. Weil wir sind einzelne Menschen. Also wir alle kommen mit unterschiedlichen biografischen und psychologischen Voraussetzungen, treten wir in das Leben irgendwann. Wir alle haben unterschiedliche Hintergründe, haben unterschiedliche emotionale Makeups. Aber was Sie ansprechen, finde ich ein sehr, sehr wichtiges Thema. Natürlich ist das Schreiben etwas, was man nur allein kann, das heißt der Akt des Schreibens selbst ist immer ein einsamer Akt und für mich ist es etwas, das ich mir erkämpfen muss. Also ich habe sehr viele andere Jobs - als Autor verdient man nicht wahnsinnig viel, meistens nicht - und das heißt, man muss automatisch andere Jobs annehmen. Und immer, wenn ich mir diese Zeit zum Schreiben erarbeiten kann, dann ist es etwas, worauf ich mich sehr freue, weil ich diese Zeit dafür habe, für das Projekt, was ich eigentlich machen möchte. Gleichzeitig ist aber auch eben nicht eine einsame Arbeit in einem philosophischeren Sinn und wenn Sie das Buch weiterlesen, werden Sie sehen, das es zu großen Teilen auf Dialogen mit anderen Büchern beruht, auf Dialogen mit anderen Denkenden, mit anderen Schreibenden. Und für mich ist es zum Beispiel extrem wichtig, wenn ich an einem Thema arbeite, wirklich so viel wie möglich zu lesen über das Thema. Ich möchte nicht in die Situation kommen, dass ich jetzt als Daniel Schreiber, 2022, sage, was ich jetzt einfach mal über dieses Thema denke und ich glaube nicht, dass es sehr interessant wäre. Aber es gibt sehr viele Schreibende, die sich über all diese Themen und im Falle von Freundschaft zum Beispiel seit mehreren 1000 Jahren auseinandersetzen, die unser Denken über diese Form, über diese Themen geprägt haben. Und ein Großteil meiner Arbeit besteht genau in diesem Dialog mit diesen Autor/innen. Und ich bin jetzt sicher, dass ich einen Teil Ihrer Frage verpasst habe. Falls ja, fragen Sie nochmal nach und Sie können aber auch einfach nicken. #00:37:44-3#

Publikumsfrage: Ja, ich hätte noch eine Frage. Mich würde interessieren, weil Sie sich ja doch als Person in Ihren Büchern sehr zeigen nach außen. Wer Sie sind, was Sie umtreibt, Ihre Gefühle. Also Sie sind ja sehr sichtbar einfach. Was ihre Familie eigentlich so dazu sagt? #00:38:12-8#

Daniel Schreiber: Was meine Familie dazu sagt? #00:38:15-1#

Publikumsfrage: Also ja, weil gleichzeitig gehört man ja immer auch dazu. Man verrät ja vielleicht auch was über die eigene Familie, indem man selber über sich schreibt. Wie die so zu Ihrem Schreiben stehen. #00:38:28-6#

Daniel Schreiber: Also, Sie meinen, wenn man über sich schreibt, dann verrät man auch Dinge über seine Familie, ohne, dass man Sie aus buchstabiert, oder? #00:38:40-1#

Publikumsfrage: Ja, also, ich hab jetzt angenommen, dass in dem anderen Buch, was vorher schon angeklungen ist, dass da einfach viel über angrenzende, über ihre Familie geschrieben haben. #00:38:48-2#

Daniel Schreiber: Ja, also meine Familie findet es gut, dass ich schreibe, und genau. Also, mein Vater ist vor kurzem gestorben. Deswegen ist es überaupt kein gutes Thema für mich. Aber, wenn andere Menschen in dem, was ich schreibe, vorkommen, dann gebe ich ihnen das vorher zum lesen, weil ich den Eindruck habe, ich kann über mich schreiben, ich kann über mich selbstverantwortlich schreiben, ich kann gucken, wo für mich eine Grenze verläuft, was ich zeigen möchte, was ich zeigen kann, was ich mit gutem Gewissen zeigen kann von mir. Aber sobald ich über andere Menschen schreibe, ist das nicht mehr meine Grenze, sondern es ist deren Grenze. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass fast niemand sagt, nein, so geht das nicht. Und ich habe gerade zu Hause, wo es ein Kapitel über meine Kindheit in Mecklenburg-Vorpommern gibt und die von sehr viel Homophobie und Gewalt geprägt war, das habe ich natürlich meinen Eltern gezeigt und hat natürlich gesagt: Also, ihr könnt alles daran ändern, was ihr wollt, was euch betrifft. Und es war eine total schöne Erfahrung, weil sie nichts ändern wollten und weil es dazu nur geführt hat, dass wir noch noch andere Gespräche geführt haben über die Zeit, dass noch plötzlich andere Themen möglich waren für uns, um darüber zu sprechen. Ja, also meine Familie findet es gut, die Bücher. Sind Sie bereit für die nächste Lesestelle? Okay gut, falls es noch Fragen geben sollte, danach können Sie noch Fragen stellen. #00:41:03-3#

Daniel Schreiber: Am Horizont zeichnet sich das Ende jener liminalen Zeit der Pandemie ab. Das Ende jener Schwebe, in der wir uns befanden. Überall war das Bedürfnis zu spüren, die zurückliegende Zeit zu vergessen, die neue Freiheit zu genießen und so zu tun, als hätte es die Pandemie nie gegeben. Doch alle Versuche, dieses Bedürfnis auszuleben, verdeckten nur die Tatsache, dass eine neue Ära der Unsicherheit angebrochen war. Es war nicht zu übersehen, dass die wie auch immer geartete Rückkehr zur Normalität, die sich die meisten von uns wünschten, unwahrscheinlich war. Wir würden mit einem Problem leben lernen müssen, das trotz vieler Maßnahmen im Kern ungelöst war und es wahrscheinlich auch bleiben würde. Auch viele andere Probleme, die uns vor der Pandemie umgetrieben hatten, waren nicht verschwunden, sondern hatten sich noch verstärkt. Das Geschehen der zurückliegenden anderthalb Jahre hatte die neoliberale Umverteilungsmaschine, die für viele der sozialen, ökonomischen und ökologischen Notlagen verantwortlich war, noch weiter vorangetrieben. Während die Mehrheit der Menschen ärmer wurde, gelang es den Reichsten der Welt, von den Ereignissen zu profitieren und ihr Vermögen in einst unvorstellbare Höhen zu treiben. An vielen geopolitischen Brennpunkten begann es wieder gefährlich zu brodeln. Wir ignorierten, dass immer mehr Menschen in andere Teile der Welt flüchten mussten, dass überall wieder die Wälder brannten und die Flüsse über die Ufer traten, dass der Regenwald weiter in Rekordgeschwindigkeit dezimiert wurde, sich das Ozonloch über der Antarktis wieder vergrößerte, dass sich in Grönland der größte bisher vermessene Eisberg vom Festland löste und der Ansicht der meisten Klimaforschungen nach jene gefürchteten Kippmechanismen eingesetzt hatten, die dazu führen würden, dass die Erderwärmung mit ihren Extremwetterlagen, ihrer Veränderung der für uns lebenswichtigen Meeresströme und ihrem Anstieg des Meeresspiegels nicht mehr aufzuhalten war. Die liminale Zeit der Pandemie hatte uns vor der Einsicht geschützt, dass wir ohnehin in einer Zeit lebten, die von dem bestimmt war, was der Anthropologe treffend permanente Liminalität genannt hatte. Es wurde wieder deutlich, dass vieles, was wir in unserem alltäglichen Leben für gegeben betrachteten, weiter verschwinden würde. Dass jenes vielbeschworene Ende der Normalität schon viele Jahre zuvor eingesetzt hatte. Wir machten eine Übergangsperiode durch, deren Ausgang nicht abzusehen war und die unsere Vorstellungsmöglichkeiten überstieg. Das Gefühl permanenter Liminalität ist sowohl ein gesellschaftliches als auch ein persönliches Problem. Es bringt unsere innere Ökologie durcheinander, stellt unseren affektiven Haushalt auf den Kopf, sorgt für ein Gefühl der Irrealität, dafür, dass sich unser Leben paradox anfühlt. Trotz meines freieren, luftigeren Alltags ließ mich diese Empfindung der Paradoxie nicht los. Ich empfand das, was in einer Auseinandersetzung mit dem Psychoanalytiker Donald Winnicott als eine Angst vor dem, was eingetreten ist, beschrieben hat. Als die Angst vor einem Zusammenbruch, der bereits stattgefunden hat. Ich hatte den Eindruck, dass mein Verstehen dem Geschehen hinterherhinkte und das, wovor ich mich fürchtete, schon lange Realität geworden war. Ich wusste und wollte zugleich nicht wahrhaben, dass die Pandemie uns vor allem einen Ausblick auf die Veränderung gegeben hatte, die uns in Zukunft erwarteten, dass uns bereits dieser Ausblick so viel gekostet, so viel abverlangt hatte und dass er sehr viel mehr als eine bloße Warnung war. Die Pandemie gab uns zu verstehen, wie es aussehen würde, dieses Ende der Welt, dessen Narrative uns schon so lange vertraut waren, in gewisser Hinsicht quasi der Zusammenbruch, quasi die Apokalypse, die bereits stattgefunden hatte. In jener Zeit ging ich durch meine Notizen und stieß auf ein Blatt mit einer Liste, die ich ein paar Jahre zuvor im Rahmen einer Therapie gemacht hatte. Der Therapeut hatte angeregt, dass ich in mehreren Punkten aufschreibe, wie ich mir meine eigene, ganz private, Zukunft vorstellte. Auf dieser Liste stand, dass ich in einem alten Bauernhaus in der Nähe Berlins leben wollte. Nicht alleine, sondern zusammen mit jemandem, den ich liebte, jemandem, mit dem mich gemeinsame Interessen, unablässige Gespräche, Lust verbanden. Es sollte ein offenes Haus sein, in dem immer Platz für Besuche und Zeit für große Essen wären. In dem dazugehörigen Garten würde ich Gemüse und Obst anbauen, dass man schlecht zu kaufen bekommt oder frisch geerntet und vieles besser schmeckt. Maulbeeren, Sauerkirschen, Aprikosen und verschiedene Pfirsichsorten, Cima di rapa, Castelfranco, Raddichio, Borlotto-Bohnen. Ich würde mit dem Schreiben genug verdienen, um mir eine Altersvorsorge aufzubauen und ein ruhigeres Leben führen zu können. Auch am Sinn des Ganzen. An meinem Platz in diesem Leben würde ich nicht mehr permanent zweifeln. Wie gebannt schaute ich auf das Blatt und las mir die Punkte immer wieder durch. Plötzlich verstand ich, dass ich eine sehr eindeutige Liste meiner uneindeutigen Verluste in den Händen hielt. Wenige Wochen später brach ich die Therapie ab. Ein Grund war das Gespräch über die Liste gewesen. Der Therapeut wollte mir das Gefühl geben, dass ich dieses Leben, das ich mir ausgemalt hatte, erreichen könnte, wenn ich es nur genug wollte und genug dafür arbeitete. In gewisser Hinsicht war es sein Ziel, eben das, was Loren Burlando unseren grausamen Optimismus nennt, wieder in mir herzustellen. Ich wusste, dass die Vermittlung eines Gefühls von Selbstwirksamkeit, von der Beherrschbarkeit des eigenen Lebens eine der Grundlagen für das Behandeln von Depressionen darstellt, wusste, dass der Therapeut seinen Job machte. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass diese Haltung illusorisch war. Ich war an einem Punkt angekommen, an dem ich jene Vorstellungen, deren Verwirklichung immer unwahrscheinlicher wurde, zu relativieren hatte. Vielleicht musste ich mich auch ganz von ihnen verabschieden. Der Therapeut schien das nicht verstehen zu können. Für ihn fühlte sich seine Sicht auf die Welt richtig an. Sie war ihm immer wieder bestätigt worden. Er war tatsächlich davon überzeugt, dass wir unser Leben kontrollieren und unsere Träume verwirklichen konnten, wenigstens zum allergrößten Teil. Ich kannte Menschen wie ihn. Einige Freundinnen, einige Bekannte gehörten dazu. Sie gingen davon aus, dass sich grundsätzlich erfüllen würde, was sie sich wünschten. Sie sahen nicht, dass sie diesen Glauben nur aufrechterhalten konnten, weil sie privilegiert waren, dass man diesen Glauben nur dann immer wieder bestätigt bekam, wenn man aus einer bestimmten Gesellschaftsschicht und bestimmten Regionen des Landes stammte, eine bestimmte Hautfarbe und eine bestimmte sexuelle Orientierung hatte, wenn man bestimmte biografische und psychische Voraussetzungen mitbrachte. Ich gehörte nicht zu diesen Menschen und wollte auch nicht mehr zu ihnen gehören. Die Frage, die mir durch den Kopf geisterte, als ich mir die Liste immer wieder anschaute, drehte sich darum, wer ich ohne sie sein konnte. Wie konnte mein Leben ohne die Verwirklichung dieser Vorstellungen aussehen? Pauline Boss, die so viele Jahre lang unseren Umgang mit uneindeutigen Verlusten erkundet hatte, stellte immer wieder fest, dass Menschen überraschend widerstandsfähig sein können. Eine der zentralen Botschaften ihrer Arbeiten ist, dass es uns gelingen kann, mit der Ambivalenz, die unser Dasein bestimmt, zu leben. Manchmal, so Boss, lassen sich schlicht keine Lösungen für unsere Probleme finden, weil es diese Lösungen nicht gibt. Manchmal lasse sich Uneindeutigkeit nicht bearbeiten, wegdenken oder wegtherapieren. Manchmal bleiben drängende Fragen unbeantwortet, weil sie keine Antwort haben. Unsere Aufgabe besteht dann darin, die Uneindeutigkeit zu akzeptieren und in dieser Akzeptanz nach neuen Möglichkeiten für uns zu suchen. Auch, wenn uneindeutige Verluste dramatisch sein können, seien wir in der Lage, unsere Leben zufriedenstellen zu gestalten. Das hätte für Boss nichts mit Stillhalten, Stoizismus oder Anpassung zu tun, sondern mit der Erarbeitung einer gewissen inneren Freiheit. Wir gehen mit der Annahme durch das Leben, das man über alles hinweg kommen müsse. Häufig geht genau das nicht. Häufig müssen wir, um unseren Weg zu finden, genau von dieser Annahme Abschied nehmen. Mein Lieblingsgarten, der Garten, der mich am meisten berührt, stammt übrigens nicht von Piet Oudolf, den ich so verehre, er strahlt auch nicht die klassische Schönheit der Gärten von Jean-Baptiste de La Quintinies, Karl Foerster oder wie Vita Sackville-West aus. Er liegt in Dungeness, im englischen Kent, zwei Stunden südöstlich von London im Schatten eines die flache Küstenlandschaft bestimmenden Kernkraftwerks. Er ist nur ein paar 100 Meter vom steinigen Strand des Ärmelkanals entfernt und gehört zu einem kleinen Haus namens Prospect Cottage aus schwarz gebeiztem Holz mit neongelben Fensterrahmen. Der schwule Maler und Filmemacher Derek Jarman hat ihn angelegt. Andrew, ein londoner Freund, und ich hatten den Garten im Jahr vor der Pandemie besucht. Jarman war 1986 bei Recherchen für einen Film zufällig auf prospect Cottage gestoßen. Er hatte schon HIV, jene Krankheit, an deren Folgen er knapp acht Jahre später sterben sollte. Die Bedingungen für das Gärtnern in Dungeness waren mehr als schwer. Die Landschaft war karg, die steinigen Böden waren zu trocken und zu nährstoffarm für die meisten Gartenpflanzen. Salzige Ostwinde und starke Sonnenstrahlen sorgten dafür, dass ihre Blätter verbrannten. Mithilfe eines Freundes schaffte Jarman Dung heran, besserte den Boden auf, baute Hochbeete und Bienenstöcke hinter dem Haus, experimentierte mit verschiedenen Pflanzensorten und fand heraus, welchen Schutz sie vor der widrigen Witterung brauchten. Was in einer gebrechlichen Hundsrose und dem unzerstörbaren Zufallssämling einer rotblättrigen Merkurpflanze begann, entwickelte sich über die Jahre zu einem ungeheuer schönen Garten, in dem Stechginster, Ringelblumen, Tee-, Lenz- und Stockrosen, Klatschmohn, Lavendel, Akanthus, Fenchel, Kümmel und ein kleiner Feigenbaum blühten. Zwischen den Pflanzen standen Skulpturen, die Jarman aus Treibholz, Metallgegenständen und Steinen baute, die er bei seinen Spaziergängen am Strand fand. Dass Jarman sich diesem Projekt zuwandte, hatte viel mit seiner Krankheit und seinem nahenden Tod zu tun. Doch Prospect Cottage war nicht nur ein Symbol für sein Leben als schwuler Mann unter widrigsten gesellschaftlichen Bedingungen, es war ein Symbol für so viel mehr. In Modern Nature, dem Tagebuch seiner letzten Lebensjahre, beschreibt er, wie er sich förmlich an die unwirtliche Küstenlandschaft kettete und wie sein Garten ihn immer wieder vor der ganzen dämonischen Disney World da draußen rettete. Die Aids-Krise, das Waldsterben, das Ozonloch, der Treibhauseffekt, die Tschernobyl-Katastrophe, die atomare Bedrohung zum Höhepunkt des Kalten Krieges sorgten in ihm für das Gefühl einer bevorstehenden Apokalypse. Er nahm ein paar Samen, einige Stecklinge und etwas Treibholz und begann, dieses Gefühl vom Ende der Welt in Kunst zu verwandeln und so dessen Schrecken zu lindern. Ich kannte kein besseres Beispiel dafür, wie man mit Problemen, die sich nicht lösen lassen, leben kann. Mit Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Jarman hatte Sinn in einer Welt geschaffen, der der Sinn abhanden gekommen war. Zuversicht in einer Zeit, die nur wenig davon kannte. Er hatte, um mit Audre Lorde zu sprechen, auf die Botschaften der Unsicherheit, die ein Leben bestimmte, gehört, ohne sich von ihnen lähmen oder einschüchtern zu lassen. Er schöpfte die Gegenwart in vollem Maße aus. Im Schatten eines Kernkraftwerks und im Schatten seines nahenden Todes gelang es ihm, der Unklarheit der Zukunft etwas entgegenzuhalten und sich von vielen der uneindeutigen Verluste seines Lebens zu verabschieden. Ich fragte mich, ob ich unter anderen Vorzeichen und in einem anderen Maßstab nicht etwas ähnliches versuchen sollte. Danke. #00:54:54-5#

Tobias Wildner: Die Ruine ist nochmal frei für Sie jetzt und ruhen Sie sich nicht auf dem Hamburg Statement auf. Hier vorne haben wir gleich noch jemand. #00:55:16-7#

Publikumsfrage: Ja, jetzt hast du ja an der spannendsten Stelle aufgehört. Weil, ich weiß nicht, ob Sie sich das alle fragen. Aber ich frage mich jetzt: Hast du diesen Versuch unternommen? Und ich vermute ja schon, weil deine Bücher klingen für mich wie die Versuche für dich, da irgendwie einen Weg zu finden. Aber was sind die entscheidendsten Momente, Dinge, Erkenntnisse, die dich dem näher geführt haben, also eben aus den unwirklichen Umständen doch irgendwie was Schönes zu machen oder sich darin einzurichten, dass du damit gut leben kannst? Und vielleicht noch eine zweite Frage: Woher nimmst du die Kraft, dann das auch immer wieder zu tun? Weil das klingt so schön einfach. Wenn du es vorliest, dachte ich so, oh, was für ein toller Mensch, der hat da irgendwie was Tolles geschaffen. Aber ich glaube, es war nicht so einfach, wie es beim Lesen vielleicht sich irgendwie anfühlt oder klingt. Oh, ihm ist es gelungen, da irgendwie einen schönen Ort zu machen! Ich glaube, das erfordert auch ganz viel Kraft und man muss sich immer wieder so rausholen und neu einnorden. Wie machst du das? #00:56:46-7#

Daniel Schreiber: Lustigerweise, diese Stelle, das ist eine meiner Lieblingsstellen in dem Buch und zwar aus dem Grund, ich habe es sehr oft redigiert und ich habe immer beim Redigieren an dieser Stelle über Derek Jarman geweint, weil mir eben klar ist, dass es überhaupt nicht einfach ist, was er gemacht hat, sondern irreschwer und wie sehr er sich diese Freiheit, wie sehr sich diese innere Arbeit erkämpft hat gegen ein Todesurteil, gegen eine Gesellschaft, die ihn missachtet hat, gegen eine Welt, die immer schlimmer wurde. Und ich hoffe nicht, dass man den Eindruck hat, dass es ah ja, das ist so ganz einfach, also das soll ja jetzt kein so inspirierender Quot sein, wir müssen alle mit unserer Unsicherheit leben lernen, sondern ich glaube, das ist wirklich schwere Arbeit. Und eben weil man bei Jarman merkt, wie schwer diese Arbeit war und zu welchen trotzdem sehr schönen Ergebnissen sie geführt hat, ist es, für mich zumindest, so eine berührende Geschichte. Und ja, und für mich selbst, ich glaube nicht, dass es irgendwann an einen Punkt kommt oder dass irgendjemand von uns gerade in der heutigen Zeit irgendwann an einen Punkt kommt, in dem man zu arbeiten aufhören kann. In dem man aufhören kann, sich das Leben auf eine gute Weise zu gestalten. Einen Punkt, an dem man aufhören kann, sich über die Welt Gedanken zu machen und darüber, was man tun kann, um sie wenigstens ein bisschen zum Besseren zu gestalten. Natürlich erfordert das Kraft. Aber ich glaube, dass das unsere Verantwortung ist. Das ist die Welt, in der wir leben, die zum Teil deswegen so ist, weil wir so leben, wie wir leben und weil wir bestimmte Sachen nicht sehen wollen über dieses Leben, das wir führen, dass es in unserer Verantwortung liegt, diese innere Arbeit zu leisten, um zu versuchen, diese Welt zum Besseren zu gestalten. Und das hört sich auch wieder so ein bisschen wie so eine inspirierende Quote an und soll aber nicht sein. Ich glaube, dahinter steckt eben tatsächlich sehr viel psychische, emotionale und eigentliche Energie. #00:59:32-0#

Tobias Wildner: Sind alle ganz ausgepauert hier. Also mich interessiert ja auch noch eine Sache... #00:59:43-6#

Daniel Schreiber: Das musst du selbst für dich herausfinden. Das ist so Literatur. Nee, aber genau, also, ich liebe Gärten und ich denke, dass hoffentlich klar geworden ist, dass das Gärtnern eine sehr sinnvolle Tätigkeit ist, für uns selbst und für die Welt. Und aber zu der literarischen Bedeutung, literarischen Funktion des Gartens in dem Text: Genau, das musst du tatsächlich selbst, würde ich herausfinden. Also ich merke, dass es so ein bisschen - Sie sind bereit, ein Getränk zu trinken, würde ich sagen. Schätze ich das falsch ein? Ich sehe hier ein Nicken. Also vielleicht hören wir noch eine Frage ab. #01:00:47-8#

Publikumsfrage: Ich versuche kurz zu fragen. Erst mal danke für das Buch, persönlich. Und die andere Frage: In der Stelle jetzt und auch vom Erzählen kommt Therapie erwähnt und eben auch psychologischer Hintergrund. Und würden Sie sagen, dass ihnen die Therapie auch geholfen hat, so persönliche Essays zu schreiben und so reflektiert auch eigene Erfahrungen in die Bücher einzubauen? #01:01:15-4#

Daniel Schreiber: Total! Also, ich muss dazu sagen, ich habe elf Jahre Psychoanalyse gemacht und teilweise bist du dreimal die Woche auf dem Sofa meiner Psychoanalytikerin gelegen. Und es war eine Phase in meinem Leben, die extrem wichtig war, ohne die ich viel nicht in meinem Leben hätte schaffen können. Und ich beschreibe das unter anderem in "Zuhause", diese Therapie oder diese Psychoanalyse-Erfahrung. Ich empfehle nicht umsonst innere Arbeit als etwas, was wir in unserem Leben machen müssen, weil ich selbst erfahren habe, wie sehr mir das geholfen hat und wie sehr mir diese innere Arbeit erst das Leben möglich gemacht hat, was ich führe. Und ich meine das nicht im profanen, sondern tatsächlich sehr ernsten Sinne. Ich bin mir sehr sicher, dass ich ohne diese Analyse nicht mehr am Leben sein würde. Und diese Therapiebeschreibung, die jetzt in diesem letzten Teil vorkam, das war eine sehr junge Therapiebeschreibung. Ich dachte, ich würde noch mal bestimmte Themen reden wollen und dann ist aber genau tatsächlich das passiert, was ich beschrieben habe. Ich sehne mich eigentlich immer noch so ein bisschen nach meiner Psychoanalytikerin von damals. #01:02:59-2#

Tobias Wildner: Ich würde zum Schluss noch mal zurückkommen wollen auf das Thema, das du auch gesetzt hast: Schreiben über Dinge, über die man nicht schreiben kann. Es ist natürlich kein Pandemiebuch, auch wenn der Titel in der Buchhandlung vielleicht so vermarktet werden könnte, was er hoffentlich nicht wird. Das klang in deinem zweiten Text, in der zweiten Textstelle am Anfang an. Die Pandemieerfahrung. Da gab es ja auch eine gewisse Debatte. Kann man im Jahr 2021, 2022 über die Pandemie schon schreiben? Du machst das auf eine sehr spannende Weise, nämlich eher beiläufig, würde ich fast sagen. Wie viel Distanz braucht man, um über so eine aktuelle Zeit, die gerade auch so eine Umbruchszeit ist, zu schreiben? Und wie gehst du selber damit um? Hattest du da auch die Befürchtung, dass es vielleicht zu banal dann wird, dadurch, dass es die Jetzt-Zeit ist? #01:03:53-2#

Daniel Schreiber: Ja, ich meine, es ist eben, wie du sagst, kein Buch über die Pandemie. Und ich hätte mir nicht zugetraut, ein Buch über die Pandemie zu schreiben. Und es hätte mich auch nicht interessiert, um ehrlich zu sein. Das ist eben ein Buch über das Alleinleben, über Beziehungsmodelle. Und die Pandemie spielt an verschiedenen Punkten in diesem Buch eine gewisse Rolle, weil sie eben der Rahmen war, in dem unsere Lebensrealität in den vergangenen Jahren stattgefunden hat. Und weil sie tatsächlich für viele von uns Themen wie Einsamkeitsgefühle, wie das Alleinleben, wie die Stärke familiärer und romantischer Bindungen nochmal wie unter einem Brennglas klargemacht hat. Und deswegen wusste ich, ja, die Pandemie muss eine Rolle spielen, aber gleichzeitig habe ich nicht den Eindruck, dass ich - oder ich hätte nicht vor, irgendwie wirklich intelligente Sachen über die Pandemie zu sagen. #01:05:05-9#

Tobias Wildner: Zumindest nicht jetzt. #01:05:08-5#

Daniel Schreiber: Nee, ja, es ist immer schwierig, über die Zeit zu schreiben, in der man lebt. Aber ich glaube, es ist auch schwierig, über die Zeit zu schreiben, wenn sie vorbei ist. Und ich glaube, dieser Anspruch - also interessanterweise, einige Leute haben gesagt, das es so ein gutes Pandemiebuch wäre und dass man in ein paar Jahren irgendwie, wenn man über die Pandemie was erfahren, in dem Buch nachlesen könnte. Und dann denke ich immer, ja, die Leute werden sehr enttäuscht sein, weil die werden nicht so viel darüber lesen, über die Pandemie. Und ich glaube, dass das es einfach schwierig ist, über die Zeit an sich zu schreiben. Oder gerade in der heutigen Zeit, wo unsere ganze Erfahrung so zersplittert ist, wo wir alle in diesen kleinen Erzählungen leben. Zu glauben, man könnte eine große Erzählung über die Erfahrung dieser Zeit schreiben, also ich glaube, das ist ein vollkommen, geradezu absurdes Projekt. #01:06:14-2#

Tobias Wildner: Und das nächste Projekt wird ein Roman, habe ich gehört. Das ist ja jetzt praktisch so, der literarische Essay, der ging so steil nach oben, und jetzt, zack, abbiegen. Hat es einen bestimmten Grund oder einfach Spaß, jetzt was anderes zu machen? #01:06:30-1#

Daniel Schreiber: Ja, also, ich denke schon seit langem darüber nach, einen Roman zu schreiben. Ich habe jetzt diese drei Essays geschrieben, die zusammengehören und für die ich eine Sprache finden musste, eine literarische Sprache. Und ich habe das Gefühl, dass dieses essayastische Projekt in diesem Sinne für mich zumindest jetzt zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen ist und dass ich nicht in drei Jahren nochmal über ein anderes Thema so ein Buch schreiben kann, weil ich auch immer Angst habe, dass Sachen zu einer Masche werden, dass man selbst innerhalb Frameworks bleibt, dass man sich selbst gebaut hat. Ich glaube, das kann man nicht verhindern. Ich bin mir sehr sicher, dass ich in meinem Leben auch noch mal persönliche Essays schreiben werde, aber für die nächsten Jahre erst mal nicht. #01:07:44-1#

Tobias Wildner: Also, wir warten mit großer Geduld jetzt auf den Roman. #01:07:47-6#

Daniel Schreiber: Ja, genau, du brauchst sehr viel Geduld, leider! #01:07:49-7#

Tobias Wildner: Wir werden die aufbringen. Keine Sorge. Ich weiß, dass du nach Lesungsveranstaltungen oft noch so erschöpft bist, dass du manchmal wandern gehst, und ich hab mich gefragt, ob du schon den Track auf dem Handy hast für die fränkische Schweiz jetzt am Montag. Darfst du für dich behalten. Nicht, dass ein Wanderzirkus losbricht. #01:08:08-7#

Daniel Schreiber: Ich nehme sehr gerne Empfehlungen entgegen. #01:08:11-2#

Tobias Wildner: Wir wünschen dir natürlich, dass du am Sonntag oder Montag sehr inspiriert auch in den Zug zurück nach Berlin vermutlich steigst und nicht erschöpft und dass du das Wochenende so genießen kannst, wie hoffentlich alle hier auch. Wir haben, wie schon gehört, morgen ein ganz dichtes Programm, am Sonntag nochmal ein dichtes Programm mit Lesungen mit dem Textualienmarkt. Aber jetzt erst mal dir ganz, ganz herzlichen Dank fürs hier sein, fürs noch weiter hier sein und für dieses wunderbare Gespräch heute Abend, für diesen Opener, der wirklich, glaube ich, hoffentlich Lust auf mehr macht und in Ihnen auch noch lange nachhallen darf. Vielen Dank erstmal! #01:08:47-9#

Grazyna Wanat: Ich hoffe, Sie haben das Gespräch genossen. Und falls Sie die Texttage dieses Jahr verpasst haben und jetzt nach dieser Folge Lust bekommen haben, dabei zu sein: Keine Sorge, wir kommen wieder. Merken Sie sich schon jetzt das Datum für die kommende Ausgabe. Die vierten Texttage finden statt vom siebten bis neunten Juli 2023. Aber bis es so weit ist, hören Sie uns wieder regelmäßig alle zwei Wochen hier. Bis dann. Tschüss! #01:09:36-5#

Dieses Projekt/Diese Maßnahme/Initiative leistet einen wichtigen Beitrag, Nürnberg schrittweise inklusiver zu gestalten. Es/Sie ist Teil des Nürnberger Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Den Ersten Aktionsplan hat der Nürnberger Stadtrat im Dezember 2021 einstimmig beschlossen. Um die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit und ohne Behinderung in Nürnberg zu verwirklichen, wurden und werden umfangreiche Maßnahmen entwickelt und umgesetzt. Weitere Informationen finden Sie unter www.inklusion.nuernberg.de.

Ein live-Gespräch zu Eröffnung der texttage.nuernberg 2022 – über unseren Umgang mit der wachsenden Unsicherheit, über das Alleinsein und über vieles mehr.

Mehr denn je zeichnet sich unser Leben durch wachsende Unsicherheit aus - und wir sind nicht dazu bereit, das in vollem Maße anzuerkennen. Doch das müssen wir – meint Daniel Schreiber, der das Literaturfestival texttage.nuernberg 2022 in der Katharinenruine eröffnet hat.

Auch wenn das Gespräch um die ernsten Themen kreiste, es wurde auch viel gelacht. Und das Publikum stellte viele kluge Fragen.
 

Daniel Schreiber, geboren 1977, studierte in Berlin und New York Literatur und Theaterwissenschaften, Slawistik und Performance Studies. Er ist tätig als Übersetzer und als freier Journalist, seine Texte sind in der Zeit, im Tagesspiegel, in den Zeitschriften Weltkunst, Philosophie Magazin, Literaturen und Theater heute, in Deutschlandfunk Kultur und in vielen Kunstkatalogen und Aufsatzsammlungen erschienen.  Schreiber ist Autor der Susan-Sontag-Biografie "Geist und Glamour" (Aufbau Verlag, 2007) sowie der persönlichen Essaybände "Nüchtern. Über das Trinken und das Glück" (2014), "Zuhause. Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen" (2017) und „Allein“ (2021, alle drei Hanser Berlin). Er lebt in Berlin.

Das aktuelle Buch: Allein (Hanser Berlin 2021)
Zu keiner Zeit haben so viele Menschen allein gelebt, und nie war elementarer zu spüren, wie brutal das selbstbestimmte Leben in Einsamkeit umschlagen kann. Aber kann man überhaupt glücklich sein allein? Und warum wird in einer Gesellschaft von Individualisten das Alleinleben als schambehaftetes Scheitern wahrgenommen? Im Rückgriff auf eigene Erfahrungen, philosophische und soziologische Ideen ergründet Daniel Schreiber das Spannungsverhältnis zwischen dem Wunsch nach Rückzug und Freiheit und dem nach Nähe, Liebe und Gemeinschaft. Können Freundschaften eine Antwort auf den Sinnverlust in einer krisenhaften Welt sein?

Texttage | Texttage Nürnberg (nuernberg.de)

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Aufgenommen am: Freitag, 8. Juli 2022
Veröffentlicht am: Donnerstag, 22. September 2022
Moderation: Tobias Wildner
Im Gespräch: Daniel Schreiber

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Alle weiteren Folgen von KontaktAufnahme – der Podcast des Bildungszentrums Nürnberg finden Sie hier. Wir sind mindestens jeden zweiten Donnerstag mit einer neuen Folge online, manchmal öfters.
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